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seine Aufmerksamkeit von Kindheit an beschäftigt hatte. Wie soll man den Zufall benennen, der ihm die Tatsachen und Bücher in die Hand gab, die sich auf diese Phänomene bezogen und die ihn selbst zum Schauplatz und zum Darsteller der größten Wunder des Gedankens machten? Wenn Louis kein anderes Verdienst hätte als dieses: mit fünfzehn Jahren den psychologischen Grundsatz aufgestellt zu haben: »Den Geschehnissen, die die Wirkungen der Menschheit bezeugen und die das Produkt ihrer Intelligenz sind, liegen Ursachen zugrunde, in denen sie vorempfunden sind, wie auch unsere Handlungen schon in unsern Gedanken vollzogen sind, noch ehe sie sich nach außen hin auswirken; Ahnungen und Prophezeiungen sind die Offenbarung jener Ursachen.« Schon allein dann müßte man, glaube ich, in ihm den Verlust eines Genies beklagen, das einem Pascal, einem Lavoisier, einem Laplace würdig an die Seite gestellt werden kann. Möglich, daß seine Phantasien über die Engel seine Arbeiten allzulange beherrscht haben; aber haben die Gelehrten bei ihren Versuchen, Gold zu machen, nicht unbewußt die Chemie geschaffen? Wenn jedoch Lambert später vergleichende Anatomie, Physik, Geometrie und die Wissenschaften studierte, die sich auf seine Entdeckungen bezogen, so geschah es gewiß in der Absicht, Tatsachen zu sammeln und analytisch vorzugehen, denn die Analyse ist die einzige Fackel, die uns heute durch die Dunkelheiten der unbegreiflichsten aller Naturen führt. Er besaß zu viel Verstand, um in den Wolken von Theorien zu schweben, die sich mit ein paar Worten darlegen lassen. Ist heute die einfachste Beweisführung, die sich auf Tatsachen stützt, nicht wertvoller als die schönsten Systeme, die nur durch mehr oder minder kluge Schlußfolgerungen erklärt werden? Aber da ich ihn nicht in der Epoche seines Lebens gekannt habe, in der er am erfolgreichsten nachgedacht haben muß, so kann ich mir die Bedeutung seiner Werke nur nach der Bedeutung seiner ersten Darlegungen vorstellen.

      Es ist leicht, das herauszugreifen, woran es in seiner »Abhandlung über den Willen« fehlt. Denn obgleich er mit den Fähigkeiten eines bedeutenden Mannes ausgestattet war, war er doch damals noch ein Kind. Obgleich er fruchtbar und geschickt im abstrakten Denken war, so barg sein Gehirn doch noch eine entzückende Gläubigkeit, wie sie jede Jugend umschwebt. Die Ergebnisse seines Denkens grenzten also an einigen Stellen an die reifen Früchte eines Genies, und an tausend anderen waren sie so winzig wie Keime. Dichterischen Gemütern wäre sein größter Fehler gewiß als köstlicher Vorzug erschienen.

      Sein Werk trug die Spuren des Kampfes, der sich in dieser schönen Seele zwischen den beiden großen Prinzipien: Spiritualismus und Materialismus abspielte, um die sich schon so viele große Geister bemüht haben, ohne daß sie gewagt hätten, sie in ein einziges Prinzip zu verschmelzen. Louis, der zuerst Spiritualist gewesen war, wurde unmerklich dahin geführt, die Materialität des Gedankens anzuerkennen. Die Ergebnisse der Analyse überzeugten ihn zu einer Zeit, da sein Herz noch liebevoll zu den am Himmel Swedenborgs verstreuten Wolken hinaufsah; doch besaß er damals noch nicht die Kraft, ein einheitliches und festes System zu entwerfen, das wie aus einem Guß war. Daher auch einige Widersprüche, wie sie in dem Abriß, den ich von seinen ersten Versuchen gegeben habe, zum Ausdruck kommen. So unvollkommen aber auch seine Arbeit sein mag, ist sie nicht der Entwurf zu einer Wissenschaft, deren Mysterien er später gewiß noch vertieft, deren Grundlagen er noch befestigt, deren Entwicklungen er geprüft, abgeleitet und mit einander verknüpft hätte?

      Sechs Monate nach der Beschlagnahme der »Abhandlung über den Willen« verließ ich die Anstalt. Unsere Trennung war eine plötzliche. Meine Mutter, die ein Fieber beunruhigte, das ich seit einiger Zeit nicht loswerden konnte und dem meine körperliche Schlaffheit die Symptome der Schlafkrankheit verlieh, nahm mich innerhalb von vier bis fünf Stunden aus dem Institut fort. Bei der Nachricht von meinem Abgang wurde Lambert von einer erschreckenden Traurigkeit befallen. Wir versteckten uns, um zu weinen.

      »Werde ich dich je wiedersehen?« sagte er mit seiner sanften Stimme zu mir und preßte mich in seine Arme. »Du wirst leben,« fuhr er fort, »ich aber werde sterben. Wenn ich kann, werde ich dir erscheinen.«

      Man muß jung sein, um dergleichen Worte mit einem solchen Ton der Überzeugung auszusprechen, und um sie wie eine Prophezeiung aufzunehmen, wie ein Versprechen, vor dessen unheimlicher Erfüllung man sich fürchtet. Lange Zeit habe ich an diese versprochene Erscheinung gedacht. Und noch heute gibt es Tage des Mißmuts, der Angst, des Entsetzens, der Einsamkeit, in denen ich die Erinnerung an diesen traurigen Abschied verscheuchen muß, der jedoch nicht der letzte sein sollte. Als ich über den Hof schritt, der zum Ausgang führte, stand Lambert an einem der vergitterten Fenster des Refektoriums, um mich vorbeigehen zu sehen. Auf meine Bitten erhielt meine Mutter die Erlaubnis, daß er mit uns im Gasthof essen durfte. Am Abend begleitete ich ihn dann wiederum bis zu der verhängnisvollen Schwelle der Anstalt. Wohl nie haben zwei Liebende bei der Trennung mehr Tränen vergossen, als wir es taten.

      »Leb wohl! Ich werde also allein sein in dieser Wüste,« sagte er zu mir und wies auf die Höfe, in denen zweihundert Kinder spielten und tobten. »Wenn ich müde bin, halb tot von meinen langen Wanderungen durch die Felder der Gedanken, in wessen Herz werde ich mich dann ausruhen? Ein Blick genügte mir, um dir alles zu sagen. Wer wird mich jetzt verstehen? Lebe wohl, ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet, ich wüßte dann nicht, was mir alles fehlen wird.«

      »Und ich,« sagte ich, »was wird aus mir? Ist meine Lage nicht noch viel schrecklicher als die deine? Ich habe hier nichts, was mich trösten kann,« fügte ich hinzu und schlug mich vor die Stirn.

      Er schüttelte den Kopf mit einer anmutvollen Traurigkeit und wir trennten uns. Louis Lambert war damals fünf Fuß zwei Zoll groß; seitdem ist er nicht mehr gewachsen. Sein Gesicht, das sehr ausdrucksvoll geworden war, sprach von der Güte seines Charakters. Eine himmlische Geduld, die durch schlechte Behandlung entwickelt worden war, eine dauernde Konzentration, die sein kontemplatives Leben verlangte, hatte seinem Blick jenen kühnen Stolz genommen, der gewissen Gesichtern so gut steht und mit dem er unsere Lehrer unsicher gemacht hatte. Auf seinem Gesicht lagen friedliche Gefühle, lag eine entzückende Heiterkeit, die weder durch Ironie, noch durch Hohn entstellt wurde, denn die ihm angeborene Güte milderte das Bewußtsein seiner Kraft und seiner Überlegenheit. Er hatte hübsche, gut gegliederte, fast immer feuchte Hände. Sein Körper war ein Wunderwerk, das eines Bildhauers würdig gewesen wäre. Aber unsere stahlgraue Uniform mit den goldenen Knöpfen, unsere kurzen Hosen gaben uns eine so ungeschickte Figur, daß die Vollkommenheit von Lamberts Gestalt und seine Zartheit nur beim Baden zur Geltung kam. Wenn wir in unserer Badeanstalt im Loir-Flüßchen schwammen, zeichnete sich Louis durch die Weiße seiner Haut aus, zum Unterschied von unsern Mitschülern, deren Haut durch die Kälte ganz fleckig oder durch das Wasser ganz blau war. Louis war von zarten Formen, schöner Hautfarbe, anmutig in den Bewegungen und fröstelte nie außerhalb des Wassers, wohl weil er den Schatten mied und immer in die Sonne lief; so glich er jenen Blumen, die ihre Kelche schließen, wenn der Wind kommt und die sich nur unter einem reinen Himmel voll entfalten. Er aß sehr wenig, trank nur Wasser und mied aus Instinkt oder aus Neigung jede Bewegung, die einen Kräfteaufwand verlangte. Seine Gesten waren sparsam und einfach, wie bei den Orientalen oder Wilden, bei denen Würde ein natürlicher Zustand zu sein scheint. Im allgemeinen liebte er nichts, was ein ihm hätte geziert erscheinen können. Gewöhnlich neigte er seinen Kopf nach links und stützte seinen Ellenbogen so viel auf, daß die Ärmel seiner neuen Anzüge jedesmal schnell durchgestoßen waren. – Diesem flüchtigen äußeren Bild muß ich noch eine Skizze seines inneren Menschen hinzufügen, denn ich glaube, ihn heute unparteiisch beurteilen zu können.

      Obgleich Louis von Natur fromm war, billigte er doch all die kleinlichen Andachtsübungen der römisch-katholischen Kirche nicht. Seine Anschauungen stimmten vor allem mit denen der heiligen Therese und Fénélon überein, sowie mit denen verschiedener Kirchenväter und Heiligen, die man in unsern Tagen als Ketzer und Atheisten behandeln würde. Während des Gottesdienstes war er teilnahmslos. Sein Gebet war ein Sich-Emporschwingen, ein Sich-Erheben der Seele und war an keine bestimmte Form gebunden. Er gab ganz seiner Natur nach und wollte zu keiner bestimmten Stunde beten oder denken. Er konnte in der Kapelle ebensogut an Gott denken, wie über eine philosophische Idee grübeln. Jesus Christus war für ihn der schönste Typus seines Systems. Das »et verbum caro factum est!« (Ev. Joh. I, 14. Und das Wort ward Fleisch!) schien ihm ein göttliches Wort, das dazu bestimmt war, die hergebrachte Formel für den sichtbar gewordenen Willen, das sichtbar gewordene Wort, die sichtbar gewordene Tat auszudrücken. Denn Christus, der seinen Tod nicht spürt, da er das innere Wesen durch göttliche Werke

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