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sich nicht anders erklären, als durch diese Doppelexistenz: sie machen sie verständlich und beweisen sie. Tatsächlich sollte uns der Unterschied, der zwischen einem Menschen besteht, dessen unlebendiger Geist ihn zu einer offenbaren geistigen Stumpfheit verdammt, und demjenigen, dessen innere Sehergabe ihn mit irgend einer Kraft ausgestattet hat, annehmen lassen, daß zwischen dem Geist und dem gewöhnlichen Sterblichen derselbe Unterschied bestehe wie zwischen dem Blinden und dem Sehenden. Dieser Gedanke, der die Schöpfung unendlich erweitert, gibt in gewissem Sinne den Schlüssel zum Himmel. Die Geschöpfe, die hier unten augenscheinlich untereinander vermischt sind, sind dort oben nach der Vollkommenheit ihres »Inneren Wesens« in getrennte Sphären eingeteilt, deren Gebräuche und Sprachen einander fremd sind. Wenn ein Bewohner der niederen Regionen in einen höheren Kreis kommt, ohne dessen würdig zu sein, so versteht er in der unsichtbaren Welt (genau wie in der sichtbaren) nicht nur dessen Gewohnheiten und Reden nicht, sondern seine Gegenwart lähmt dort die Stimmen und die Herzen. In seiner Göttlichen Komödie mag Dante wohl eine leise Ahnung von diesen Sphären gehabt haben, die in der Welt der Schmerzen beginnen und sich durch eine kreisförmige Bewegung bis in die Himmel erheben. Die Lehre Swedenborgs wäre also das Werk eines hellsehenden Geistes, der die unzähligen Erscheinungen aufgezeichnet hat, durch die die Engel sich inmitten der Menschen offenbaren.

      Diese Lehre, die ich heute zusammenzufassen suche, indem ich ihr einen logischen Sinn gebe, wurde mir von Lambert mit allem Verführerischen des Mysteriums dargebracht, eingehüllt in die Wendungen jener besonderen Sprache, wie sie den Mystikern eigen ist; dunkle Worte voller Abstraktion, die so auf das Gehirn wirken wie gewisse Bücher von Jakob Böhme, Swedenborg oder Madame Guyon, deren Lektüre Phantasiebilder heraufbeschwört, so vielgestaltig wie Opiumträume. Lambert erzählte mir so merkwürdige mystische Dinge, er wirkte daher so stark auf meine Phantasie, daß mir schwindelte. Doch ich versank gern in diese geheimnisvolle Welt, die den Sinnen unsichtbar ist, in der aber jeder gern lebt, sei es, daß er sie sich unter der unendlichen Form des zukünftigen Lebens vorstellt, sei es, daß er sie in die unbestimmten Formen des Märchens hüllt. Diese heftigen Erregungen der Seele belehrten mich, unbewußt, über ihre Kraft und gewöhnten mich an die Arbeit des Denkens.

      Lambert selbst erklärte alles durch sein System von den Engeln. Für ihn war die reine Liebe, die Liebe, wie man sie in der Jugend träumt, eine Verbindung zweier engelhafter Naturen. Und nichts kam dem heißen Verlangen gleich, mit dem er sich die Begegnung mit einem weiblichen Engel ersehnte. Ach, wer sollte mehr als er Liehe einflößen und empfinden? Wenn etwas an ihm die Vorstellung von einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit geben konnte, war es dann nicht das liebenswürdige und gütige Wesen, das in seinen Gefühlen, seinen Worten, seinen Handlungen und den geringsten seiner Bewegungen zum Ausdruck kam, in der ganzen Gemeinschaft, die uns miteinander verband und die wir dadurch zum Ausdruck brachten, daß wir uns »Gefährten« nannten? Es gab keinen Unterschied zwischen seinen und meinen Dingen. Wir ahmten gegenseitig unsere Handschriften nach, damit einer die Arbeiten für beide machen konnte. Mußte einer von uns erst ein Buch zu Ende lesen, weil er es dem Mathematiklehrer zurückzugeben hatte, so konnte er es ohne Unterbrechung lesen, denn dann machte eben der eine die Aufgaben und Strafarbeiten des anderen. Wir entledigten uns unserer Schularbeiten wie einer Steuer, die unserer Ruhe auferlegt war. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, so waren die Arbeiten bedeutend besser, wenn Lambert sie machte. Aber da wir beide für ausgemachte Dummköpfe galten, beurteilten die Lehrer unsere Arbeiten immer unter dem Einfluß eines verhängnisvollen Vorurteils und legten sie sogar besonders, um unsere Schulkameraden damit zu amüsieren. Ich weiß noch, wie der Lehrer eines Nachmittags nach der Stunde, die von zwei bis vier Uhr gewesen war, eine Übersetzung von Lambert zur Hand nahm. Der Text begann: »Gaius Gracchus, vir nobilis«. Louis hatte die Worte übersetzt: »Gajus Gracchus hatte ein edles Herz.«

      »Wo lesen Sie »Herz« in nobilis?« fragte der Lehrer streng.

      Und alle lachten, während Lambert den Lehrer ganz dumm ansah.

      »Was würde die Frau Baronin von Staël sagen, wenn sie hörte, daß Sie das Wort, das »edles Geschlecht, vornehme Herkunft« bedeutet, ganz verkehrt übersetzt haben?«

      »Sie wird sagen, daß Sie ein Dummkopf sind!« entfuhr es mir leise.

      »Herr Dichter, Sie werden acht Tage in den Karzer wandern!« erwiderte der Professor, der mich unglückseligerweise gehört hatte.

      Lambert wiederholte leise, indem er mir einen Blick unaussprechlicher Zärtlichkeit zuwarf, »vir nobilis!« Madame de Staël war zum Teil die Ursache zu Lamberts Unglück. Bei jeder Gelegenheit warfen ihm Lehrer und Schüler diesen Namen an den Kopf sowohl als Spott wie als Vorwurf. – Louis versäumte nichts, um sich auch in den Karzer setzen zu lassen, damit er mir Gesellschaft leisten konnte. Dort waren wir ungestörter als anderswo und konnten den ganzen Tag miteinander sprechen, in der Stille des Schlafsaals, in dem jeder Schüler eine Nische von sechs Fuß im Geviert besaß, deren Wände oben Eisenstangen hatten und deren durchsichtige Türen vor den Augen des Saalaufsehers, der unser Aufstehen und Zubettgehen zu überwachen hatte, jeden Abend geschlossen und jeden Morgen wieder geöffnet wurden. Das Knarren dieser Tür, die mit eigentümlicher Behendigkeit von den Bediensteten des Schlafsaals auf und zu gemacht wurde, gehörte mit zu den Merkwürdigkeiten unserer Anstalt. So waren die Gefängnisse gebaut, in denen wir oft ganze Monate bleiben mußten. Die eingesperrten Schüler unterstanden dem strengen Auge des Präfekten, einer Art Inspektor, der zu bestimmten Stunden oder auch unvorbereitet leise hereinkam, um zu sehen, ob wir schwatzten anstatt unsere Strafarbeiten zu machen. Aber die auf den Treppen ausgestreuten Nußschalen oder unser feines Gehör ließen uns fast immer sein Kommen vorhermerken, sodaß wir uns in aller Ruhe unsern Lieblingsstudien hingeben konnten. Da uns jedoch die Lektüre untersagt war, so waren die Stunden im Karzer gewöhnlich den metaphysischen Gesprächen gewidmet oder dem Bericht irgend welcher Ereignisse, die auf die Phänomene des Denkens Bezug hatten.

      Eines der merkwürdigsten Geschehnisse ist sicherlich dasjenige, das ich jetzt erzählen will, nicht allein, weil es Lambert betrifft, sondern auch, weil es vielleicht sein wissenschaftliches Schicksal bestimmt hat. – Nach den Satzungen des Instituts waren der Sonntag und der Donnerstag unsere freien Tage; aber der Gottesdienst, dem wir ganz pünktlich beiwohnen mußten, nahm den Sonntag derart in Anspruch, daß wir nur den Donnerstag als einzigen Feiertag ansahen. Nachdem wir die Messe gehört hatten, hatten wir Muße genug, lange durch die Felder in der Umgebung von Vendôme umherzustreifen. Die Burg von Rochambeau war das beliebteste Ziel unserer Ausflüge, vielleicht weil sie so weit entfernt lag. Die Kleinen machten selten einen so ermüdenden Weg, trotzdem schlug ihnen der Lehrer ein- oder zweimal im Jahr den Ausflug nach Rochambeau als besondere Belohnung vor. Im Jahre 1812, gegen Ende des Frühjahrs, sollten wir zum ersten Mal dort hingehen. Der Wunsch, das berühmte Schloß zu sehen, dessen Besitzer den Schülern zuweilen Milchspeisen gab, machte uns alle folgsam. Nichts lag also der Landpartie im Wege. Weder Lambert noch ich kannten das schöne Loirtal, in welchem die Besitzung lag. So war denn seine Phantasie wie die meine am Vorabend sehr stark mit diesem Spaziergang beschäftigt, der in der Schule eine althergebrachte Freude verursachte. Wir sprachen den ganzen Abend davon, daß wir das Geld, welches wir – entgegen den Satzungen der Anstalt – besaßen, für Obst oder Milch ausgeben wollten. Am nächsten Tag um eineinhalb Uhr, nach dem Essen, gingen wir fort, mit einem Stück Brot versehen, das man uns im voraus als Vesper mitgegeben hatte. Munter, wie Schwalben, zogen wir gruppenweise dem berühmten Schlosse zu, mit einem Eifer, der uns zu Anfang die Ermüdung nicht spüren ließ. Als wir auf dem Hügel angekommen waren, von dem aus wir sowohl das Schloß sehen konnten, das auf halber Höhe lag, wie auch das gewundene Tal, in dem ein Fluß glitzerte, der sich durch anmutige Wiesen schlängelte – eine jener entzückenden Landschaften, denen die Empfindungskraft der Jugend oder der Liebe einen so großen Zauber verleiht, daß man sie später nie wiedersehen sollte – da sagte Louis Lambert zu mir: »das habe ich ja heute Nacht im Traum gesehen!« Er erkannte sowohl die Baumgruppe wieder, unter der wir standen, wie auch die Art der Blätter, die Farbe des Wassers, die Türmchen des Schlosses, die Bodenbeschaffenheit, die Ausblicke, kurz, alle Einzelheiten der Gegend, die er zum ersten Male sah. Wir waren alle beide Kinder; ich wenigstens mit meinen dreizehn Jahren; denn Louis konnte mit seinen fünfzehn zuweilen schon die Tiefe eines genialen Mannes besitzen. Doch beide waren wir damals nicht fähig, auch nur in den geringsten Einzelheiten unserer Freundschaft zu lügen. Wenn übrigens Lambert durch

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