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brennende Phantasie. – »Wenn er Tauben hat, dann wird er kaum einen Verschlag bekommen können, denn es ist kein Platz mehr.« – »Umso schlimmer für ihn!« sagte einer von uns, der inzwischen ein großer Landwirt geworden ist. »Zu wem wird man ihn tun?« fragte ein anderer. »Ich möchte gern sein ›Gefährte‹ sein!« rief einer in Ekstase aus. In unserer Anstaltssprache hatte dieser Ausdruck »Gefährte sein« eine schwer zu erklärende Bedeutung. Es besagte ein brüderliches Teilen aller Freuden und Leiden unseres kindlichen Lebens, eine Interessengemeinschaft, die reich war an Zerwürfnissen und Versöhnungen, ein offensives wie defensives Bündnis. Merkwürdig: nie habe ich zu meiner Zeit Brüder gekannt, die in diesem Sinne Kameraden gewesen wären. Wenn der Mensch nur durch das Gefühl lebt, dann glaubt er vielleicht, sein Leben ärmer zu machen, wenn er eine gewonnene Neigung mit einer natürlichen verbindet!

      Die Wirkung, die die Erzählung des Pater Haugoult an jenem Abend auf mich machte, war eine der eindringlichsten meiner Kindheit und ich kann sie nur mit der Lektüre von Robinson Crusoe vergleichen. Ich verdanke später der Erinnerung dieses wundersamen Eindrucks eine vielleicht neue Beobachtung über die verschiedenen Wirkungen, die Worte auf den Intellekt des einzelnen haben. Das Wort hat nichts Absolutes an sich: wir wirken mehr auf das Wort, als es auf uns wirkt. Seine Kraft hängt von den Vorstellungen ab, die wir besitzen und die wir hineinlegen. – Doch die Ergründung dieses Phänomens verlangt weitgehende Erörterungen, die außerhalb unseres Gegenstandes liegen. –

      Da ich nicht schlafen konnte, unterhielt ich mich lange mit meinem Schlafsaalnachbar über das merkwürdige Wesen, das wir von morgen ab unter uns haben sollten. Dieser Nachbar, der dann erst Offizier war und heute Schriftsteller ist und einen weiten philosophischen Blick hat, Barchou de Penhoën, hat weder seine Prädestination Lügen gestraft, noch den Zufall, der die beiden einzigen Schüler von Vendôme, von denen dort noch heute gesprochen wird, in die gleiche Klasse, auf die gleiche Bank, unter das gleiche Dach gebracht hatte. Der heutige Übersetzer Fichtes, der Ausleger und Freund Ballanches', war damals schon, wie ich selbst auch, mit metaphysischen Fragen beschäftigt, er faselte oft mit mir über Gott, über uns selbst und über die Natur. Damals gab er vor, ein Zweifler zu sein. Eifersüchtig darauf bedacht, seine Rolle auch durchzuführen, leugnete er Lamberts Gaben, während ich, der ich erst kürzlich das Buch »Wunderkinder« gelesen hatte, ihn mit Beispielen überschüttete und ihm den kleinen Montcalm nannte, Pico de la Mirandola, Pascal, kurz, alle frühreifen Geister; die berühmten Anomalien aus der Geistesgeschichte des Menschen und alles Vorgänger Lamberts. Ich las damals mit Leidenschaft. Da mein Vater den Ehrgeiz hatte, mich ins Polytechnikum aufgenommen zu sehen, ließ er mir Privatstunden in Mathematik geben. Mein Lehrer war Bibliothekar des Instituts und ließ mich Bücher entleihen, ohne genau hinzusehen, was ich aus der Bibliothek heraustrug, aus diesem stillen Ort, in den er mich in meinen Freistunden kommen ließ, um mich zu unterrichten. Ich glaube, daß er entweder untüchtig war oder aber in eine schwere Arbeit vertieft, denn er erlaubte mir sehr gern, daß ich die Stunde über las, während er selbst ich weiß nicht was arbeitete. Nach einem stillschweigenden Übereinkommen zwischen uns beiden beklagte ich mich nie, daß ich zu wenig lernte, und er schwieg über mein Entleihen von Büchern. In diese Leidenschaft verstrickt, vernachlässigte ich meine Studien und machte Gedichte, die gewiß zu gar wenig Hoffnungen berechtigten, wenn ich nach dem allzu langen Vers urteile, der unter meinen Kameraden berühmt geworden ist und mit dem ein Epos über die Inkas begann:

      »O Inka, o unheilbeladner und unglückseliger König.« Ich wurde zum Spott für meine Versuche »der Dichter« genannt, aber aller Hohn konnte mich nicht heilen. Ich reimte weiter, trotz des weisen Rates unseres Direktors, Herrn Mareschall, der mich von einer schon allzu tief eingewurzelten Leidenschaft kurieren wollte, indem er mir gleichnisweise von dem Unglück einer Grasmücke erzählte, die aus dem Nest fiel, weil sie fliegen wollte, ehe ihr die Flügel gewachsen waren. Ich fuhr in meiner Lektüre fort, ich wurde der unbeteiligste, faulste und nachdenklichste Schüler in der Abteilung der Kleinen und daher der am meisten bestrafte. Diese autobiographische Abschweifung soll die Art der Grübelei begreiflich machen, in die ich bei der Ankunft Lamberts verfallen war. Ich empfand gleich zuerst eine unbestimmte Sympathie für ein Kind, mit dem ich im Temperament einige Ähnlichkeit hatte. Ich sollte also einen Gefährten für mein Träumen und Nachsinnen bekommen. Ohne noch zu wissen, was Ruhm ist, empfand ich es als ruhmreich, der Freund eines Kindes zu sein, dessen Unsterblichkeit von Madame de Staël proklamiert worden war. Louis Lambert schien mir ein ganz Großer zu sein.

      Der ungeduldig erwartete nächste Tag kam endlich. Kurz vor dem Frühstück hörten wir in dem stillen Hof den doppelten Schritt von Herrn Mareschall und dem »Neuen.« Alle Köpfe wandten sich sofort der Klassentür zu. Pater Haugoult, der die Qualen unserer Neugier teilte, ließ diesmal das Pfeifen nicht hören, mit dem er sonst unserm Schwatzen Ruhe gebot und uns auf unsere Arbeiten hinwies. Da sahen wir denn den berühmten »Neuen,« den Herr Mareschall an der Hand hielt. Der Lehrer stieg von seinem Katheder herunter, und der Direktor sagte feierlich, der Sitte gemäß, zu ihm: »Hier bringe ich Ihnen Herrn Louis Lambert; Sie werden ihn mit den Schülern der vierten Klasse zusammentun, morgen beginnt er den Unterricht.« Dann, nachdem er leise mit dem Lehrer gesprochen hatte, sagte er laut: »Wo werden Sie ihn hinsetzen?« Es wäre ungerecht gewesen, einen von uns für den »Neuen« von seinem Platze zu vertreiben; und da nur noch ein einziges Pult frei war, setzte sich Louis Lambert an dieses, neben mich, der zuletzt in die Klasse gekommen war. Obgleich wir noch eine Zeitlang hätten arbeiten müssen, standen wir doch auf, um Lambert aufmerksam zu betrachten. Herr Mareschall hörte unser Tuscheln, sah unsere Unruhe und sagte uns mit jener Güte, die ihn uns so besonders lieb machte: »so seid wenigstens brav und stört die anderen Klassen nicht.«

      Diese Worte machten uns schon vor der Frühstückspause frei, und wir stellten uns um Lambert herum, während Herr Mareschall mit Pater Haugoult im Hof auf und ab ging. Wir waren ungefähr achtzig Bengel, keck wie Raubvögel. Obgleich wir alle auch einmal durch diese grausame Probezeit hindurchgegangen waren, verschonten wir doch nie einen »Neuen« mit unserm spöttischen Lachen, unsern Fragen, unsern Unverschämtheiten, die zur großen Verlegenheit des Neueingetretenen, dessen Wesen, Kraft und Charakter wir aus diese Weise erprobten, auf diesen einstürmten. Lambert, der nur gelassen war oder verdutzt, antwortete auf keine unserer Fragen. Einer von uns sagte, er käme sicher aus der Schule des Pythagoras. Ein allgemeines Gelächter erscholl, und der »Neue« wurde während seiner ganzen Schulzeit Pythagoras genannt. Doch der durchdringende Blick Lamberts, die Verachtung, die sich auf seinem Gesicht malte und die er für unsere Kindereien hatte, die nicht zu seiner Geistesart paßten, die ruhige Haltung, in der er verblieb, seine sichtliche Kraft, die seinem Alter entsprach, flößten den Schlimmsten unter uns einen gewissen Respekt ein. Ich selbst stand neben ihm und beobachtete ihn nur schweigend.

      Louis war ein hageres und schwächliches Kind, vier und einen halben Fuß groß; sein dunkler Teint, seine von der Sonne gebräunten Hände täuschten eine Muskelkraft vor, die er eigentlich nicht besaß. Zwei Monate nach seinem Eintritt in die Anstalt, als der Aufenthalt im Klassenzimmer ihm seine frische Farbe genommen hatte, wurde er bleich und weiß wie eine Frau. Sein Kopf war von bemerkenswerter Größe. Sein Haar, dicht gelockt und von einem schönen Schwarz, gab seiner Stirn eine unaussprechliche Anmut. Die Größe dieser Stirn hatte etwas Außergewöhnliches an sich, selbst für uns, die wir, wie sich denken läßt, keine Ahnung von den Prognosen der Phrenologie hatten, jener Wissenschaft, die damals noch in der Wiege lag. Die Schönheit seiner prophetischen Stirn rührte vor allem von dem überaus reinen Schnitt der beiden Bogen her, unter denen seine schwarzen Augen glänzten und die wie in Alabaster geschnitten schienen; ihre Linien – eine seltene Schönheit – liefen vollkommen parallel und trafen sich bei der Nasenwurzel. Aber man vergaß sein im übrigen sehr unregelmäßiges Gesicht, sobald man seine Augen sah, deren Blick eine wunderbare Mannigfaltigkeit des Ausdrucks besaß und hinter dem gleich die Seele begann. Bald klar und erstaunlich durchdringend, bald von himmlischer Sanftmut, konnte dieser Blick in Momenten, in denen er sich seinen Betrachtungen hingab, düster werden, sozusagen farblos. Sein Auge glich dann einer Fensterscheibe, aus der die Sonne plötzlich entschwunden ist, nachdem sie sie erleuchtet hat. Um seine Kraft und um seine Stimme war es ebenso bestellt wie um seinen Blick. Seine Stimme konnte sanft klingen wie eine Frauenstimme, die ein Geständnis ausspricht; dann wieder war sie hart, scharf, holperig, wenn man diese Worte gebrauchen darf, um ungewohnte Wirkungen zu bezeichnen. Sein Körper war gewöhnlich

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