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noch eine Hoffnung, Monsieur Horace?« fragte der alte Diener den jungen Arzt, den er bis zur Freitreppe begleitet hatte.

      »Es kann noch lange dauern, aber auch heute abend schon zu Ende sein. Bei ihm sind die Aussichten für Leben und Tod gleich. Ich verstehe den Fall nicht«, versetzte der Arzt und machte eine zweifelnde Gebärde. »Man muß ihn zerstreuen.«

      »Ihn zerstreuen! Monsieur, Sie kennen ihn nicht. Er hat jüngst einen Menschen erschossen und hat nicht einmal Uff gesagt! Ihn zerstreut nichts.«

      Raphael blieb einige Tage in das Nichts seines künstlichen Schlafes versenkt. Dank der Macht, die das Opium auf unsere Seele, das Materielle auf das Immaterielle, ausübt, sank dieser Mann von so gewaltiger, tätiger Phantasie auf die Stufe jener trägen Tiere, die in der Tiefe der Wälder in ihrem Bau aus Laubwerk hocken und keinen Schritt tun, um eine leichte Beute zu fassen. Er hatte sogar das Licht des Himmels ausgelöscht; der Tag drang nicht mehr bis zu ihm herein. Gegen acht Uhr abends stand er auf; ohne sich seines Daseins klar bewußt zu sein, befriedigte er seinen Hunger und legte sich dann sofort wieder hin. Diese kalten, greisenhaften Stunden trugen ihm nur verschwommene Bilder, Erscheinungen, Schatten auf schwarzem Grund zu. Er hatte sich in tiefes Schweigen vergraben, in eine Verleugnung der Bewegung und des Denkens. Eines Abends erwachte er viel später als sonst und fand sein Essen nicht serviert. Er läutete Jonathas.

      »Du kannst gehen«, sagte er zu ihm. »Ich habe dich reich gemacht, du wirst auf deine alten Tage glücklich sein; aber ich will dich nicht länger mit meinem Leben spielen lassen. Wie, du Elender! Ich spüre Hunger. Wo ist mein Essen? Antworte!«

      Jonathas lächelte zufrieden, nahm eine Kerze, deren Flamme in der tiefen Dunkelheit der weitläufigen Räume des Hauses spukhaft flackerte, und führte seinen Herrn, der wieder zur bloßen Maschine geworden war, über einen langen Gang bis zu einer Tür, die er plötzlich öffnete. Raphael wurde von Licht überflutet; er war geblendet. Ein unerhörtes Schauspiel überraschte ihn. Seine Kronleuchter steckten voll brennender Kerzen, die seltensten Blumen seines Treibhauses waren harmonisch angeordnet, eine Tafel glänzte von Gold- und Silbergeschirr, Perlmutt und Porzellan; ein königliches Mahl dampfte darauf, dessen verlockende Gerichte den Gaumen reizten. Er sah seine Freunde versammelt und zwischen ihnen entzückende Frauen im schönsten Schmuck, mit tiefausgeschnittenen Kleidern, nackten Schultern, Blumen im Haar und funkelnden Augen; die verschiedenartigsten Schönheiten, verlockend in wollüstigen Verkleidungen: die eine brachte ihre reizenden Formen durch ein irisches Jäckchen zur Geltung, die andere trug die sinnverwirrende Basquina, den Reifrock der Andalusierinnen; diese erschien halbnackt als Diana, Göttin der Jagd, jene züchtig und lieblich als Mademoiselle de La Vallière, alle aber waren in gleicher Weise berauschend. Aus den Augen aller Gäste blickte Freude, Liebe, Lebenslust. Als Raphaels Totenantlitz sich in der Tür zeigte, brach jäher Beifallssturm los, der so hell aufbrandete wie die Strahlen dieses improvisierten Festes. Die Stimmen, der Duft, das Licht, die überwältigende Schönheit dieser Frauen erregten seine Sinne, erweckten sein Verlangen. Eine köstliche Musik aus einem benachbarten Salon übertönte mit einer Flut von Harmonien diesen berauschenden Tumult und machte die seltsame Vision vollständig. Raphael fühlte seine Hand von einer schmeichelnden Hand gedrückt, von der Hand einer Frau, deren frische weiße Arme sich nun hoben, um ihn an sich zu ziehen: Aquilina stand vor ihm. Nun begriff er, daß diese Szenerie nicht schattenhaftes Gaukelwerk war wie die flüchtigen Bilder seiner farblosen Träume; er stieß einen dumpfen Schrei aus, schloß hastig die Tür und schlug seinen alten Diener ins Gesicht.

      »Ungeheuer!« tobte er, »du hast also geschworen, mich zu morden!« Dann fand er, obwohl er bei dem Gedanken an die Gefahr, der er ausgesetzt war, an allen Gliedern zitterte, die Kraft, sein Zimmer zu erreichen, trank eine starke Dosis seines Schlafmittels und legte sich zu Bett.

      »Aber zum Teufel!« stöhnte Jonathas, als er sich wieder aufrichtete, »Monsieur Bianchon hatte mir doch ausdrücklich aufgetragen, ich sollte ihn zerstreuen.«

      Es war gegen Mitternacht. Um diese Stunde strahlte Raphael – dank einer der Launen der Physiologie, die das Staunen und die Verzweiflung der medizinischen Wissenschaften sind – in seinem Schlaf vor Schönheit. Ein lebhaftes Rot färbte seine bleichen Wangen. Auf seiner Stirn, die liebreizend war wie die eines jungen Mädchens, lag das Siegel des Geistes. Das stille, gelöste Antlitz schien wie blühendes Leben. Er glich einem Kind, das unter der Obhut der Mutter eingeschlafen ist. Sein Schlaf war gut, aus seinem roten Mund strömte ein gleichmäßiger reiner Atem, er lächelte; gewiß hatte ihn ein Traum in ein schönes Leben versetzt. Vielleicht war er hundert Jahre alt, vielleicht wünschten ihm seine Enkelkinder ein langes Leben; vielleicht saß er auf seiner ländlichen Bank in der Sonne unter dem Blätterdach und schaute wie der Prophet auf dem Bergesgipfel das Gelobte Land in verheißungsvoller Ferne.

      »Da bist du also!«

      Diese Worte, mit silberheller Stimme gesprochen, verscheuchten die verschwommenen Gestalten seines Schlafes. Beim Schimmer der Lampe sah er Pauline auf seinem Bette sitzen, aber eine Pauline, die durch die Trennung und durch den Schmerz noch schöner geworden war. Raphael war betroffen beim Anblick dieses Gesichtes, das weiß war wie die Blumenblätter einer Seerose und das, von den langen schwarzen Haaren umflossen, im Dunkel des Zimmers noch bleicher schien. Tränen hatten ihre glitzernde Spur über ihre Wangen gezogen und hingen dort, bereit, bei der geringsten Bewegung herabzutropfen. Weiß gekleidet, den Kopf geneigt und das Bett kaum berührend, saß sie da, und so schien sie ein Engel zu sein, der vom Himmel herabgekommen war, eine Erscheinung, die ein Hauch verwehen konnte.

      »Ah, ich habe alles vergessen!« rief sie in dem Augenblick, wo Raphael die Augen aufschlug. »Ich habe nur eine Stimme, um dir zu sagen: Ich bin dein! Ja, mein Herz ist nur Liebe. Ach, Engel meines Lebens, niemals warst du so schön. Wie deine Augen blitzen! Ach geh, ich ahne alles. Du hast deine Gesundheit gesucht, ohne mich, du hast mich gefürchtet … Nun …«

      »Flieh! Flieh! Laß mich allein!« sprach Raphael endlich mit dumpfer Stimme. »So geh doch! Wenn du bleibst, sterbe ich. Willst du mich sterben sehen?« »Sterben!« wiederholte sie. »Kannst du ohne mich sterben? Sterben, wo du so jung bist? Sterben, wo ich dich liebe? Sterben!« wiederholte sie immer wieder mit tiefer Stimme und griff wie rasend nach seinen Händen.

      »Kalt!« sagte sie. »Träume ich?«

      Raphael zog das Stückchen des Chagrinleders unter dem Kopfkissen hervor, das jetzt dünn und klein war wie das Blättchen des Immergrün, und zeigte es ihr. »Pauline, schönes Bild meines schönen Lebens, sagen wir uns Lebewohl!«

      »Lebewohl?« wiederholte sie in tiefem Staunen.

      »Ja. Das ist ein Talisman, der meine Wünsche erfüllt und mein Leben vorstellt. Sieh, was mir noch bleibt. Wenn du mich noch länger ansiehst, sterbe ich …«

      Das junge Mädchen glaubte, Valentin sei wahnsinnig geworden, sie nahm den Talisman und holte die Lampe. In dem schwankenden Lichte, das Raphael und den Talisman in gleicher Weise aus dem Dunkel heraushob, sah sie gespannt auf das Gesicht ihres Geliebten und auf das letzte Stückchen des magischen Leders. Als er Pauline so sah, wie Angst und Liebe sie verschönte, war er nicht mehr Herr seiner Gedanken: die Erinnerung an die zärtlichen Stunden und die berauschenden Wonnen seiner Leidenschaft quoll übermächtig in seiner seit langem schlafenden Seele empor und loderte auf, gleich einem unzureichend gelöschten Brand.

      »Pauline, komm! Pauline!«

      Ein furchtbarer Schrei entrang sich dem jungen Mädchen; ihre Augen weiteten sich, ihre Augenbrauen, in unerhörtem Schmerz heftig zusammengezogen, teilten sich vor Grauen, sie las in Raphaels Augen ein rasendes Begehren, wie es einstmals ihr Stolz gewesen war; aber je größer dieses Verlangen wurde, um so mehr schrumpfte das Stückchen Leder kitzelnd in ihrer Hand. Außer sich, stürzte sie in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich. »Pauline! Pauline!« rief der Sterbende und eilte ihr nach, »ich liebe dich, ich bete dich an, ich begehre dich! Ich verfluche dich, wenn du nicht öffnest. Laß mich bei dir sterben!«

      Mit einer sonderbaren Kraft, dem letzten Ausbruch des Lebens, stieß er die Tür auf und sah, wie sich seine Geliebte halbnackt auf dem Sofa wand. Pauline hatte vergebens versucht, sich die Brust zu zerfleischen; und um sich einen schnellen Tod zu geben, wollte sie sich mit ihrem Schal erdrosseln. »Wenn ich sterbe,

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