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abyssum«, sagte er zu mir. »Unser Geist ist ein Abgrund, der sich gern in Abgründen aufhält. Wir alle, Kinder, Männer, Greise, hungern immer nach Mysterien, unter welcher Form sie sich auch darstellen mögen.« Diese Vorliebe wurde verhängnisvoll für ihn, wenn man überhaupt sein Leben nach den gewöhnlichen Gesetzen beurteilen und das Glück anderer mit dem Maß des eigenen oder nach gesellschaftlichen Vorurteilen messen darf. Diese Freude an den Dingen des Himmels – ein anderer Ausdruck, den er oft gebrauchte – diese »mens divinior« war vielleicht auf den Einfluß zurückzuführen, den die ersten Bücher, die er bei seinem Onkel las, auf seinen Geist ausgeübt hatten. Die Heilige Therese und Madame Guyon schlossen sich an die Bibel an, waren die ersten Versuche seines jungen Geistes und gewöhnten ihn an jene tiefen Erregungen der Seele, deren Mittel sowohl wie Zweck die Ekstase ist. Dieses Studium, diese Neigung erhoben sein Herz, reinigten, veredelten es, gaben ihm ein Verlangen nach der göttlichen Natur und lehrten ihn eine fast weibliche Zartheit, die großen Männern angeboren ist: vielleicht ist das Göttliche in ihnen nur ein Bedürfnis nach Hingabe, wie Frauen es besitzen, nur daß es von ihnen in große Dinge hineinverlegt wird. Dank seiner ersten Eindrücke blieb Louis im Gymnasium rein. Diese edle Jungfräulichkeit der Sinne mußte notwendigerweise dazu beitragen, die Wärme seines Blutes zu erhöhen und die Fähigkeiten seines Denkens zu steigern.

      Die Baronin von Staël, die auf vierzig Meilen von Paris verbannt war, verbrachte mehrere Monate ihres Exils auf einem Gut in der Nähe von Vendôme. Eines Tages, auf einem Spaziergang, begegnete sie am Saum des Parkes dem Kind des Gerbers, das in fast zerlumpter Kleidung in ein Buch vertieft war. Dieses Buch war eine Übersetzung des Werkes »Von Himmel und Hölle«. Zu dieser Zeit waren Saint-Martin, de Gence und ein paar andere Schriftsteller – zur Hälfte Deutsche – fast die einzigen Menschen, die im französischen Kaiserreich den Namen Swedenborg kannten. Erstaunt ergriff Madame de Staël das Buch, mit jenem Ungestüm, das sie in ihre Fragen, ihre Blicke und ihre Bewegungen zu legen pflegte; dann sah sie Lambert an und sagte zu ihm: »Verstehst du denn das?«

      »Beten Sie zu Gott?« fragte das Kind.

      »Aber gewiß doch!«

      »Und verstehen Sie ihn?«

      Die Baronin blieb ein paar Augenblicke sprachlos; dann setzte sie sich neben Lambert hin und unterhielt sich mit ihm. Leider ist mein Gedächtnis, wenn auch sehr umfassend, so doch lange nicht so treu wie das meines Freundes, und ich habe dieses Gespräch bis auf jene ersten Worte ganz vergessen. Diese Begegnung war dazu angetan, Madame de Staël aufs lebhafteste zu interessieren. Bei ihrer Rückkehr ins Schloß sprach sie wenig davon, trotz ihres Mitteilungsbedürfnisses, das bei ihr in Geschwätzigkeit ausartete; sie schien nur sehr nachdenklich. Die einzige noch lebende Person, die die Erinnerung an diese Begegnung bewahrt hat und die ich befragt habe, um die wenigen Worte zusammen zu bringen, die Madame de Staël damals entschlüpft waren, fand in ihrem Gedächtnis nur mühsam den Satz, den die Baronin in bezug auf Lambert gesagt hat: »Das ist ein wahrer Seher!« Louis rechtfertigte in den Augen der Welt die schönen Hoffnungen nicht, die seine Beschützerin in ihn gesetzt hatte. Das flüchtige Interesse, das sie ihm entgegenbrachte, wurde daher als Weiberlaune angesehen, als eine jener besonderen Launen, wie sie Künstlernaturen eigen sind. Madame de Staël wollte Louis Lambert dem Kaiser und der Kirche entreißen, um ihn dem auserwählten Schicksal zurückzugeben, das, wie sie sagte, seiner harrte. Denn sie machte schon einen neuen Moses aus ihm, den sie aus den Wassern errettet hatte. Vor ihrer Abreise beauftragte sie einen ihrer Freunde, den Herrn de Corbigny, der damals Präfekt in Blois war, ihren Moses zur gegebenen Zeit aufs Gymnasium von Vendôme zu schicken. Dann vergaß sie ihn wahrscheinlich.

      Lambert war mit vierzehn Jahren, zu Beginn des Jahres 1811, in die Anstalt eingetreten und sollte sie zu Ende 1814 nach bestandenem Abiturientenexamen verlassen. Ich glaube nicht, daß er in dieser Zeit jemals das geringste Zeichen des Erinnerns von seiner Wohltäterin bekommen hat, wenn denn überhaupt als eine Wohltat gelten soll, daß man drei Jahre hindurch die Pension für ein Kind bezahlt, ohne weiter an dessen Zukunft zu denken, nachdem man es aus einer Laufbahn herausgerissen hat, in der es vielleicht sein Glück gefunden hätte. Die Zeitverhältnisse und auch der Charakter Louis Lamberts können Madame de Staël hinsichtlich ihrer Sorglosigkeit wie auch ihrer Großmut in weitem Maße von aller Schuld freisprechen. Die Persönlichkeit, die in ihren Beziehungen zu dem Kinde als Mittelsperson gedient hatte, verließ Blois in dem Augenblick, da der Knabe aus dem Gymnasium herauskam. Die politischen Ereignisse, die dann folgten, rechtfertigen einigermaßen die Gleichgültigkeit dieses Mannes für den Schützling der Baronin. Die Verfasserin von »Corinna« erfuhr von ihrem kleinen Moses nichts mehr. Die Hundert Dukaten, die sie Herrn von Corbigny gegeben hatte – der, wie ich glaube, 1812 starb – waren keine so bedeutende Summe, um Madame de Staëls Erinnerung wach zu halten, deren überspannte Seele nun genügend Nahrung fand und deren ganzes Interesse durch die Ereignisse von 1814 und 1815 aufs lebhafteste in Anspruch genommen wurde.

      Louis Lambert war zu jener Zeit zu arm und auch zu stolz, um seine Wohltäterin, die durch Europa reiste, wieder aufzusuchen. Trotzdem ging er zu Fuß von Blois nach Paris, in der Absicht, sie zu sehen, und kam unglückseligerweise gerade an dem Tage dort an, an dem die Baronin starb. Zwei Briefe, die Lambert geschrieben hatte, waren ohne Antwort geblieben. Das Andenken an die guten Absichten der Madame de Staël für Louis ist also nur in einigen jungen Köpfen lebendig geblieben, die, wie der meine, durch das Eigenartige dieser Geschichte stark beeindruckt wurden. – Man muß in unserer Anstalt gewesen sein, um den Eindruck zu verstehen, den die Ankündigung eines »Neuen« auf unsere Gemüter machte, und vor allem die Wirkung, die Lamberts Abenteuer auf uns hatte.

      Hier werden einige Aufschlüsse über die Grundgesetze unseres Institutes, das früher halb militärisch, halb religiös gerichtet war, notwendig, um das neue Leben, das Lambert dort führte, anschaulich zu machen. Vor der Revolution war der Orden der Oratorianer, wie der der Jesuiten, der öffentlichen Erziehung gewidmet und besaß in der Provinz mehrere Anstalten, von denen diejenigen in Vendôme, Tournon, La Flèche, Pont le Voy, Sorrèze und Juilly die bedeutendsten waren. In Vendôme wurde, wie ich glaube, ebenso wie in den anderen Instituten, eine gewisse Anzahl zu Kadetten bestimmt. Die Abschaffung des kirchlichen Lehrkörpers durch den Konvent hatte auf die Schule von Vendôme nur geringen Einfluß. Nachdem die erste Krise vorüber war, nahm das Institut ihre Häuser wieder in Besitz. Ein paar in der Umgegend zerstreute Oratorianer kamen zurück, eröffneten die Anstalt wieder und behielten die alten Regeln, Gewohnheiten, Gebräuche und Sitten bei, die ihr ein Gesicht gaben, dem ich nichts vergleichen kann, auch in irgend einer der anderen Anstalten, in die ich dann nach meinem Austritt aus Vendôme kam. Das Institut, das mitten in der Stadt gelegen ist, an dem kleinen Loirflüßchen, dessen Wasser seine Gebäude umspült, bildet einen weiten, sorgsam abgeschlossenen Komplex, der die für eine Anstalt notwendigen Gebäude umfaßt: eine Kapelle, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Bäckerei; außerdem Gärten und Wassergräben. Diese Schule, das berühmteste Erziehungszentrum der mittleren Provinzen, wird von diesen beschickt und von den Kolonien. Die Entfernung gestattet es den Eltern also nicht, ihre Kinder oft zu besuchen. Die Vorschrift verbietet zudem, die Ferien außerhalb der Anstalt zu verbringen. Sind die Schüler einmal eingetreten, so verlassen sie die Schule erst nach Beendigung ihrer Studien. Mit Ausnahme der Spaziergänge draußen unter Führung der Priester war alles dazu angetan, diesem Hause die Vorteile einer klösterlichen Disziplin zu geben. Zu meiner Zeit war der »Zuchtmeister« noch eine lebendige Erinnerung, und der klassische Kantschu spielte noch in allen Ehren seine fürchterliche Rolle. Die Strafen, wie sie vordem von den Jesuiten erdacht worden waren und die sowohl auf Seele wie Körper einen gefährlichen Einfluß hatten, waren unveränderlich in das Programm mit aufgenommen worden. Die Briefe, die an bestimmten Tagen an die Eltern geschrieben werden mußten, waren ebenso obligatorisch wie die Beichte. So waren unsere Vergehen wie unsere Gefühle in Regeln eingeordnet, alles trug das Gepräge klösterlicher Einförmigkeit. Ich erinnere mich neben anderen Überbleibseln ehemaliger Schulregeln noch an die Inspektion, der wir alle Sonntage unterzogen wurden: wir trugen unsere Galauniform, standen wie die Soldaten in Reih und Glied und erwarteten die beiden Direktoren, die, von den Lieferanten und Lehrern gefolgt, uns nach den drei Gesichtspunkten des Anzuges, der Gesundheit und der Moral untersuchten.

      Die zwei- bis dreihundert Schüler, die in dem Institut wohnen mochten, waren nach altem Brauch in vier Sektionen eingeteilt: die »Kleinsten«, die »Kleinen«, die »Mittleren« und

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