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schaufelt, laßt mich wenigstens abends zufrieden!«

      »Ihr Grab, lieber Monsieur! Ich sollte Ihr Grab schaufeln? I wo denn, wo ist denn Ihr Grab? Ich wollt, Sie würden so alt wie unser Vater! Wozu denn ins Grab? Wir kommen früh genug hinein.«

      »Genug!« unterbrach Raphael sie.

      »Nehmen Sie meinen Arm, Monsieur …«

      »Nein.«

      Nichts erträgt der Mensch so schwer wie das Mitleid, besonders wenn er es verdient. Der Haß ist ein Stärkungsmittel, er ruft zum Leben, zur Rache; aber das Mitleid tötet, es schwächt noch unsere Schwäche. Es ist das Übel, das sich nun schöntuerisch gibt, es ist die Verachtung, die sich in Fürsorge kleidet, es ist die Fürsorge, die wir als Kränkung empfinden. Raphael fand in dem Hundertjährigen ein triumphierendes, in dem Kinde ein neugieriges, in der Frau ein quälsüchtiges, in dem Mann ein eigennütziges Mitleid; aber in welcher Form es sich auch zeigte, es trug immer den Tod in sich. Ein Dichter macht aus allem ein Gedicht, mag es nun, je nach den Bildern, die ihn bewegen, ein schreckliches oder ein heiteres sein; seine erregte Seele verwirft die zarten Schattierungen und wählt stets die grellen und satten Farben. Dieses Mitleid zeugte in Raphaels Herzen ein grauenerregendes Gedicht der Trauer und Verdüsterung. Er hatte, als er der Natur nahe zu sein wünschte, wahrscheinlich nicht daran gedacht, wie unverhohlen sich natürliche Gefühle zeigen. Wenn er allein unter einem Baum zu sein glaubte und mit einem furchtbaren Hustenanfall rang, den er nie bezwang, ohne aus diesem gräßlichen Kampf völlig zerschlagen hervorzugehen, sah er die hellen glänzenden Augen des kleinen Jungen auf sich gerichtet, der wie ein Wilder im Grase auf Posten lag und ihn mit jener kindlichen Neugier belauerte, in der ebensoviel Spott wie Vergnügen und ein seltsames, gefühlloses Interesse lag. Ständig schien in den Augen der Bauern, bei denen Raphael lebte, der schreckliche Gruß der Trappisten zu stehen: ›Bruder, gedenke des Todes‹. Er wußte nicht, was er mehr fürchtete, ihre einfältigen Worte oder ihr Schweigen; alles an ihnen störte ihn. Eines Morgens sah er zwei schwarzgekleidete Männer, die um ihn herumschlichen, ihn umwitterten und ihn verstohlen belauerten; freilich taten sie, als wären sie nur als Spaziergänger hierher gekommen, und stellten ihm gleichgültige Fragen, auf die er kurz angebunden antwortete. Er erkannte sie als den Arzt und den Geistlichen des Badeorts, die ohne Zweifel von Jonathas geschickt oder von seinen Wirtsleuten zu Rate gezogen oder gar vom Geruch des nahen Todes angelockt worden waren. Nun sah er sein eigenes Leichenbegräbnis voraus, hörte den Gesang der Priester, zählte die Kerzen und sah die Schönheiten dieser reichen Natur, in deren Schoß er das Leben gefunden zu haben glaubte, nur noch wie durch einen Trauerschleier hindurch. Alles, was ihm vor kurzem noch ein langes Leben verkündet hatte, prophezeite ihm jetzt ein nahes Ende. Am nächsten Tag reiste er nach Paris ab, nachdem er die Flut schwermütiger Worte und herzlich bedauernder Wünsche seiner Wirtsleute über sich ergehen lassen mußte.

      Er reiste die ganze Nacht durch und erwachte in einem der lieblichsten Täler des Bourbonnais, dessen Landschaften wie die Nebelbilder eines Traums an ihm vorbeiflogen. Die Natur breitete sich mit grausamem Liebreiz vor seinen Augen aus. Bald entrollte der Allier bis in weite Fernen sein strahlendes Silberband; dann wieder zeigten, bescheiden in einer gelbschimmernden Felsschlucht versteckt, Weiler die Spitzen ihrer Kirchtürme; bald tauchten in einem kleinen Tal hinter eintönigen Weinbergen plötzlich Mühlen auf, und überall erschienen strahlende Schlösser, an Abhängen erbaute Dörfer oder mit mächtigen Pappeln gesäumte Landstraßen; und endlich leuchtete die Loire mit ihrer weiten Wasserfläche wie ein Diamant aus goldenem Sand hervor. Verführungen ohne Ende! Die Natur, rege und lebhaft wie ein Kind, quoll schier über von der feurigen Glut des Juni und zog die erloschenen Blicke des Kranken unvermeidlich auf sich. Er ließ die Vorhänge im Wagen herunter und schlief wieder ein. Gegen Abend, als der Wagen Cosne hinter sich gelassen hatte, wurde er von fröhlicher Musik geweckt; er war mitten in ein ländliches Fest hineingeraten. Die Poststation lag nahe dem Platz. Während die Postillione die Pferde wechselten, sah er den Tänzen dieses heitren Völkchens zu, er sah hübsche, tändelnde Mädchen mit Blumen geschmückt, ausgelassene junge Männer und schließlich die runden weingeröteten Gesichter der angeheiterten alten Bauern. Kleine Kinder tollten übermütig umher, alte Frauen plauderten vergnügt; alles war einträchtig, und die Freude verschönte sogar die Kleider und die Tische, die man aufgestellt hatte. Der Platz und die Kirche boten ein Bild des Glücks; selbst die Dächer, die Fenster, die Türen des Dorfes schienen sich sonntäglich herausgeputzt zu haben. Gleich Sterbenden, denen das geringste Geräusch lästig ist, konnte Raphael weder einen Fluch noch den Wunsch unterdrücken, die Geigen möchten schweigen, all diese freudige Bewegung sich auflösen, der Lärm verstummen und dieses unverschämte Fest in alle Winde stieben. Verdrossen stieg er wieder in den Wagen. Als er noch einmal nach dem Platz zurücksah; gewahrte er, wie alle Freude verscheucht, die Bäuerinnen auf der Flucht und die Bänke verlassen waren. Auf dem Gerüst des Orchesters saß nur noch ein blinder Spielmann und entlockte seiner Klarinette ein schrilles Rondo. Diese Musik ohne Tänzer, dieser einsame Greis mit dem brummigen Gesicht, in Lumpen gehüllt, mir wirrem Haar, im Schatten einer Linde, das alles war wie ein grausiges Abbild des Wunsches, den Raphael geäußert hatte. In Strömen ging einer jener Wolkenbrüche nieder, der sich aus den Gewitterwolken im Juni häufig ebenso plötzlich ergießt, wie er aufhört. Das war etwas so Natürliches, daß Raphael, der ein paar weißliche Wolken am Himmel sah, die ein leichter Wind davontrieb, gar nicht daran dachte, sein Chagrinleder anzusehen. Er legte sich in die Ecke seines Wagens zurück, der bald auf der Straße weiterrollte.

      Am nächsten Tage war er wieder zu Hause, in seinem Zimmer, an seinem Kamin. Er hatte sich ein großes Feuer machen lassen; es fror ihn. Jonathas brachte ihm Briefe. Sie waren alle von Pauline. Er öffnete den ersten ohne Eile und entfaltete ihn so gleichgültig, als handelte es sich um den grauen Bogen einer Zahlungsaufforderung, die sein Steuereinnehmer geschickt hatte. Er las den ersten Satz: »Abgereist! Aber das ist eine Flucht, liebster Raphael. Wie! niemand kann mir sagen, wo Du bist? Und wenn ich es nicht weiß, wer soll es dann wissen?« Mehr daraus zu erfahren, hatte er keine Lust; ungerührt nahm er die Briefe und warf sie ins Feuer. Mit stumpfem, unbeteiligten Blick sah er dem Spiel der Flammen zu, in denen das duftende Papier sich krümmte, zusammenschrumpfte, sich drehte und zerfiel.

      Einige Papierfetzen flogen auf die Asche und ließen ihn Anfänge von Sätzen, einzelne Worte, halbverbrannte Gedanken erkennen, und er vergnügte sich ganz unbewußt damit, sie in den Flammen zu entziffern.

      »An Deiner Tür gesessen … gewartet … Laune … ich gehorche … Nebenbuhlerinnen … ich nicht! … Deine Pauline … liebt … keine Pauline mehr? … Wenn Du mich hättest verstoßen wollen, hättest Du mich nicht verlassen … Ewige Liebe … Sterben …«

      Diese Worte erregten in ihm eine Art Reue; er griff nach der Zange und rettete den letzten Fetzen eines Briefes aus den Flammen.

      »… Ich habe gemurrt«, schrieb Pauline, »aber ich habe mich nicht beklagt, Raphael! Als Du mich von Dir entfernt hieltest, wolltest Du mir gewiß die Last eines Kummers ersparen. Vielleicht wirst Du mich eines Tages töten, aber Du bist zu gut, um mich leiden zu lassen. Oh, reise nie wieder so fort! Ich vermag den größten Qualen zu trotzen, aber nur, wenn ich bei Dir bin. Der Kummer, den Du mir antun könntest, wäre dann kein Kummer mehr; in meinem Herzen lebt eine viel größere Liebe, als ich Dir sie zeigen konnte. Ich kann alles ertragen, nur nicht, fern von Dir zu weinen und nicht zu wissen, was Du …«

      Raphael legte dieses geschwärzte Bruchstück eines Briefes auf den Kamin; dann warf er es plötzlich in das Feuer zurück. Dieses Stück Papier war ein zu lebhaftes Bild seiner Liebe und seines unseligen Lebens. »Hole Monsieur Bianchon!« befahl er Jonathas.

      Als Horace kam, fand er Raphael im Bett.

      »Lieber Freund, kannst du mir einen leicht opiumhaltigen Trank brauen, der mich in einem dauernden Halbschlaf hält, ohne daß der dauernde Gebrauch dieses Getränkes mir schadet?«

      »Nichts leichter als das«, erwiderte der junge Arzt; »du müßtest jedoch schon ein paar Stunden am Tag wach sein, um zu essen.«

      »Ein paar Stunden?« unterbrach Raphael; »nein, nein! Ich will höchstens eine Stunde auf sein.«

      »Was hast du denn vor?« fragte Bianchon.

      »Schlafen! Schlafen heißt doch leben!« antwortete der

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