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den jungen Römerinnen im Zirkus und begnadigt den gefallenen Gladiator nie; sie lebt von Gold und Boshaftigkeit. »Tod den Schwachen!« ist die Losung dieser Art Ritterorden, die es bei allen Völkern der Erde gibt; denn überall gibt es Reiche, und dieser Leitspruch ist tief in die Herzen eingegraben, die vom Reichtum verhärtet oder von aristokratischem Dünkel geschwollen sind. Man denke an die Kinder in einer Lehranstalt: das ist ein Bild der Gesellschaft im kleinen, aber ein Bild, das um so treffender ist, als es naiver und ehrlicher ist; stets gibt es da kleine Heloten, Menschenkinder, die zum Leiden und Dulden geschaffen sind und immer zwischen Verachtung und Mitleid stehen: ihrer ist das Himmelreich, sagt das Evangelium. Man steige auf der Stufenleiter der organischen Wesen noch etwas tiefer. Wenn unter dem Geflügel eines Hühnerhofs eins verletzt ist, dann hacken die anderen mit den Schnäbeln auf es ein, reißen ihm die Federn aus und töten es. Diesem Grundgedanken des Egoismus treu, geht die Welt gegen ein Unglück, das keck genug ist, ihre Feste zu stören, ihre Freuden zu trüben, mit grenzenloser Strenge vor. Wer am Körper oder an der Seele leidet, wem es an Geld oder an Macht fehlt, ist ein Paria. Er bleibe in seiner Verlassenheit! Überschreitet er ihre Grenzen, so findet er überall Kälte: frostige Blicke, frostiges Benehmen, kühle Worte, kalte Herzen. Er kann glücklich sein, wenn er da, wo er Tröstung suchte, nicht Schimpf und Schande erntet! Sterbende, bleibt in euren einsamen Betten! Greise, bleibt allein an eurem erloschenen Herd! Arme Mädchen ohne Mitgift, friert und brennt in euren leeren Dachstuben! Duldet die Welt einmal ein Unglück, dann nur, um es für ihren Gebrauch zurechtzumachen, daraus Gewinn zu schlagen, ihm einen Packsattel überzuschnallen, es an die Kandare zu nehmen, ihm eine Schabracke aufzulegen, es zu besteigen und ihren Spaß mit ihm zu treiben. Betrübte Gesellschaftsdamen, schafft euch vergnügte Gesichter an; ertragt die Launen eurer angeblichen Wohltäterin; tragt ihre Hunde spazieren; seid selbst ihre Affenpinscher, amüsiert sie, erratet ihre Wünsche und seid im übrigen still! Und du, König der Lakaien ohne Livree, gieriger Parasit, laß deinen Charakter zu Hause; verdaue genau so wie dein Gastgeber, weine seine Tränen, lache sein Lachen, sei entzückt über seine Witze; willst du dich über ihn lustig machen, warte, bis er in Staub gesunken ist. So ehrt die Welt das Unglück! Sie tötet es oder verjagt es, erniedrigt es oder kastriert es.

      Diese Betrachtungen entsprangen Raphaels Innerem mit der Geschwindigkeit einer poetischen Eingebung; er blickte umher und fühlte die unheimliche Kälte, welche die Gesellschaft um sich verbreitete, um das Elend zu entfernen, und die noch eisiger durch die Seele fährt als der Nordwind im Dezember durch die Glieder. Er kreuzte die Arme über der Brust, lehnte sich an die Wand und versank in tiefe Schwermut. Er dachte, wie wenig Glück diese gräßliche soziale Ordnung der Welt verschaffte. Was denn schon? Vergnügen ohne Freude, Lustigkeit ohne Lust, Feste ohne Heiterkeit, Raserei ohne Rausch, kurz, das Holz oder die Asche eines Herdes, aber ohne den Funken, der die Flamme entzündete. Als er den Kopf hob, sah er, daß er allein war, die Spieler waren entflohen. »Ich brauchte ihnen nur meine Macht zu enthüllen, und sie würden meinen Husten anbeten!« sagte er bei sich. Mit diesen Worten warf er seine Verachtung wie einen Mantel zwischen sich und die Welt.

      Am nächsten Tag besuchte ihn der Badearzt mit besorgtem Gesicht und erkundigte sich nach seinem Befinden. Raphael verspürte eine Regung der Freude, als er die teilnahmsvollen Worte hörte, die an ihn gerichtet waren. Er fand die Mienen des Arztes sanft und gütig, aus den Locken seiner blonden Perücke wehte Menschenfreundlichkeit, der Schnitt seines karierten Rockes, die Falten seiner Hose, seine breiten Quäkerstiefel, alles, sogar der Puder, der aus seinem kleinen Zopf kreisförmig auf den leichtgebeugten Rücken gefallen war, sprach von einem apostolischen Charakter, drückte die christliche Nächstenliebe und die Hingabe eines Mannes aus, der sich aus Eifer für seine Patienten angewöhnt hatte, so gut Whist und Tricktrack zu spielen, daß er ihnen immer ihr Geld abnahm.

      »Monsieur le Marquis«, sagte er, nachdem er lange mit Raphael geplaudert hatte, »ich hoffe, Ihre düstere Stimmung verscheuchen zu können. Ich kenne jetzt Ihre Konstitution gut genug, um sagen zu dürfen: die Ärzte von Paris, deren großes Können mir bekannt ist, haben sich in der Natur Ihrer Krankheit getäuscht. Wenn nichts dazwischenkommt, Monsieur le Marquis, können Sie so alt werden wie Methusalem. Ihre Lungen sind so kräftig wie die Blasebälge in einer Schmiede, und Ihr Magen könnte es mit einem Straußenmagen aufnehmen; aber wenn Sie in einem Klima mit dünner Luft bleiben, laufen Sie Gefahr, schnell und sicher in geweihte Erde zu kommen. Monsieur le Marquis werden mich in zwei Wochen verstehen. Die Chemie hat bewiesen, daß die Atmung des Menschen ein richtiger Verbrennungsprozeß ist, dessen größere oder geringere Stärke von übermäßig oder spärlich vorhandenen Brennstoffen abhängt, welche in dem besonderen Organismus jedes Individuums angesammelt werden. Bei Ihnen ist Brennstoff im Überfluß da; Sie sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, infolge des feurigen Naturells der zu großen Leidenschaften fähigen Menschen überreich mit Sauerstoff versehen. Wenn Sie die starke und reine Luft atmen, die bei den Menschen mit schlaffen Fibern das Leben beschleunigt, dann beschleunigen Sie den Verbrennungsprozeß, der ohnehin schon zu rasch ist. Zu Ihren Existenzbedingungen gehört also die dicke Luft der Ställe und Täler. Jawohl, die Lebensluft für einen vom Genie verzehrten Mann findet man auf den fetten Weiden Deutschlands, in Baden-Baden oder Teplitz. Wenn Ihnen England nicht zu unangenehm ist, so könnte sein Nebelklima Ihre Siedeglut löschen; aber unser Bad, das tausend Fuß über dem Spiegel des Mittelmeers liegt, ist unheilvoll für Sie. Das ist meine Ansicht«, schloß er mit einer bescheidenen Handbewegung, »ich vertrete sie gegen unsere Interessen; denn wenn Sie diese befolgen, haben wir das Unglück, Sie zu verlieren.«

      Ohne diese letzten Worte wäre Raphael durch die falsche Gutmütigkeit des honigsüßen Arztes getäuscht worden; aber er war ein zu guter Beobachter, um nicht aus dem Ton, der Handbewegung, dem Blick und dem leisen Spott, mit denen dieser Satz gesprochen wurde, die Mission zu erraten, die dem kleinen Mann ohne Frage von der Gesellschaft seiner vergnügten Patienten aufgebürdet worden war. Diese Müßiggänger mit dem blühenden Aussehen, diese gelangweilten alten Weiber, diese vagabundierenden Engländer, diese Bürgerweibchen, die ihren Ehemännern entwischt und von ihrem Geliebten ins Bad entführt worden waren, unternahmen es also, einen armen, schwachen, hinfälligen Kranken, der dem Tode geweiht war und unfähig schien, sich gegen tägliche Verfolgung zu wehren, aus dem Bad zu vertreiben! Raphael nahm den Kampf auf. Diese Intrige machte ihm Vergnügen.

      »Da Sie über meine Abreise so unglücklich wären«, antwortete er dem Arzt, »will ich versuchen, mir Ihren guten Rat zunutze zu machen und doch hierzubleiben. Ich werde mir ein Haus bauen lassen, in dem wir die Luft Ihrer Verordnung entsprechend modifizieren, und werde gleich morgen darangehen.«

      Der Doktor verstand das Lächeln bitteren Spottes, das um Raphaels Lippen schwebte, und empfahl sich, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden.

      Der See von Bourget ist ein weites, zerklüftetes Gebirgsbecken, 700-800 Fuß über dem Mittelmeer, ein Wassertropfen von einem so leuchtenden Blau wie kein zweiter in der Welt. Sieht man von der Höhe des Dent-du-Chat auf den See hinunter, so liegt er wie ein verlorener Türkis da. Dieser reizende Wassertropfen hat neun Meilen Umfang und ist an manchen Stellen beinahe 500 Fuß tief. Wenn man unter einem strahlenden Himmel in einem Boot auf dieser Wasserfläche dahinfährt, nichts hört als das Klatschen der Ruder, am Horizont nichts sieht als umwölkte Berge, wenn man sich des glitzernden Schnees der französischen Maurienne erfreut, bald an Granitblöcken vorübergleitet, die Farnkraut oder Zwerggesträuch in ein grünes Samtkleid hüllt, bald an lachenden Hängen, auf der einen Seite Öde, auf der anderen üppige Natur, ein Armer beim Gastmahl eines Reichen, bilden diese Harmonien und Dissonanzen ein Schauspiel, in dem alles groß, in dem alles klein ist. Der Anblick der Berge ändert die Bedingungen der Optik und Perspektive: eine Tanne, die 100 Fuß hoch ist, sieht wie ein Schilfrohr aus, weite Täler eng wie schmale Pfade. Dieser See ist der einzige, auf dem man traulich von Herz zu Herz sprechen kann. Hier kann man sinnen und lieben. Nirgends trifft man ein schöneres Einvernehmen zwischen Wasser, Himmel, Bergen und Erde. Auf ihm findet man Balsam für jeden Kummer des Lebens. Dieser Ort bewahrt das Geheimnis des Leides, er tröstet und verringert es, der Liebe verleiht er etwas Ernstes, Andächtiges, das die Glut tiefer und reiner macht. Ein Kuß steigert sich dort zur Seligkeit. Aber vor allem ist er der See der Erinnerungen; er ist ihnen hold, gibt ihnen die Farbe seiner Wellen, ist ihnen ein Spiegel, in dem alles erscheint. Raphael ertrug seine Bürde nur in dieser schönen Landschaft. Hier konnte er unbekümmert, träumerisch und wunschlos sein. Nach dem Besuch

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