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wie ein Schneider einem jungen Mann für seinen Hochzeitsanzug Maß nimmt, brachten sie ein paar Gemeinplätze vor, unterhielten sich sogar über Politik; dann wollten sie sich in Raphaels Arbeitszimmer zurückziehen, um ihre Meinungen auszutauschen und das Urteil zu fällen.

      »Messieurs«, fragte Raphael, »kann ich der Debatte nicht beiwohnen?«

      Gegen dieses Ansinnen erhoben Brisset und Maugredie lebhaften Einspruch und lehnten es trotz der dringlichen Bitten des Kranken ab, in seiner Anwesenheit zu beraten. Raphael fügte sich dem Brauch; er gedachte aber, sich in einen kleinen Gang zu schleichen, von dem aus er die medizinischen Auseinandersetzungen, die zwischen den drei Professoren entbrennen würden, leicht verfolgen konnte.

      »Messieurs«, sagte Brisset, als sie eingetreten waren, »gestatten Sie mir, Ihnen sofort meine Meinung darzulegen. Ich will sie Ihnen weder aufdrängen noch sie bestritten sehen; erstens ist sie bestimmt und sicher; sie resultiert aus einer völligen Ähnlichkeit zwischen einem meiner Kranken und dem Patienten, zu dessen Untersuchung wir hierher gerufen worden sind; zweitens erwartet man mich in meiner Klinik. Der Fall, der meine Anwesenheit dort erforderlich macht, ist so wichtig, daß Sie entschuldigen, wenn ich als erster das Wort ergreife. Das »Subjekt«, mit dem wir es zu tun haben, ist in gleicher Weise von geistigen Arbeiten erschöpft … Was hat er denn geschrieben, Horace?« Damit wandte er sich an den jungen Arzt.

      »Eine Theorie des Willens!«

      »Donnerwetter! das ist freilich ein weitreichendes Thema! Er ist, sage ich, durch übermäßige Geistesarbeit, durch eine unvernünftige Lebensweise, durch die wiederholte Anwendung zu starker Stimulantien erschöpft. Die ständige Aufpeitschung des Körpers wie des Gehirns hat die Tätigkeit des ganzen Organismus durcheinandergebracht. Messieurs, es ist leicht, in den Symptomen des Gesichtsausdrucks und des Körpers eine starke Reizung des Magens, die Neurose des großen Sympathikus, die lebhafte Empfindlichkeit des Epigastriums und die Verengung des Hypochondriums zu erkennen. Sie haben die Anschwellung und das Hervortreten der Leber bemerkt. Schließlich hat Monsieur Bianchon die Verdauung seines Patienten ständig beobachtet und uns mitgeteilt, daß sie schwer und mühsam ist. Genaugesagt ist kein Magen mehr da; der eigentliche Mensch ist verschwunden. Der Intellekt ist geschwächt, weil der Mann nicht mehr verdaut. Die fortschreitende Veränderung des Epigastriums, des Zentrums des Lebens, hat das ganze System gestört. Von dort werden die dauernden und unbestreitbaren Störungen ausgestrahlt; sie haben durch das Nervengeflecht auf das Hirn übergegriffen, daher die außerordentliche Reizbarkeit dieses Organs. Es liegt eine Monomanie vor. Der Kranke wird von einer fixen Idee verfolgt. Für ihn wird dieses Stück Chagrinleder wirklich kleiner, vielleicht ist es aber immer so groß gewesen, wie wir es gesehen haben; aber ob es sich zusammenzieht oder nicht, dieses Chagrinleder ist für ihn die Mücke auf der Nase des Großwesirs. Setzen Sie unverzüglich Blutegel an das Epigastrium, beruhigen Sie die Reizung dieses Organs, in dem das menschliche Leben seinen Sitz hat, sorgen Sie für eine strenge Diät, und die Monomanie wird weichen. Ich brauche Doktor Bianchon nichts weiter zu sagen; er muß die Behandlung vornehmen, im Ganzen wie in den Einzelheiten. Vielleicht liegt ein Zusammenwirken von Krankheiten vor, vielleicht sind die Atemwege gleichfalls in Mitleidenschaft gezogen; aber ich halte die Behandlung des Verdauungsapparates für weitaus wichtiger, notwendiger, dringlicher als die der Lungen. Die angespannte Beschäftigung des Geistes mit abstrakten Gegenständen und heftige Leidenschaften haben in diesem lebensnotwendigen Mechanismus ernste Störungen hervorgerufen; aber es ist noch nicht zu spät, dessen Triebkräfte wiederherzustellen; es ist noch nichts zu eingreifend verändert. Sie können also Ihren Freund mühelos retten«, wandte er sich abschließend an Bianchon.

      »Unser gelehrter Kollege nimmt die Wirkung für die Ursache«, antwortete Caméristus. »O ja, die Veränderungen, die er so trefflich festgestellt hat, sind bei dem Patienten vorhanden; aber der Magen hat nicht die stufenweisen Ausstrahlungen in den Organismus und das Hirn hervorgebracht, wie ein Loch in einer Fensterscheibe strahlenförmig Sprünge um sich zieht. Es war ein Stoß nötig, um die Scheibe zu zersprengen. Wer hat diesen Stoß geführt? Wissen wir es? Haben wir den Patienten genügend beobachtet? Kennen wir alle Vorfälle seines Lebens? Messieurs, das Lebensprinzip, der ›Archeus‹ des van Helmont, ist bei ihm angegriffen; die Lebenskraft selbst ist an ihrer Wurzel verletzt; der göttliche Funke, die transitorische Intelligenz, die der Maschine als Zusammenhalt dient und den Willen erzeugt, das Bewußtsein des Lebens hat aufgehört, die täglichen Erscheinungen des Mechanismus und die Funktionen jedes Organs zu regeln; das verursacht die Störungen, die mein gelehrter Kollege ganz richtig konstatiert hat. Die Bewegung ging nicht vom Epigastrium zum Hirn, sondern vom Hirn zum Epigastrium. Nein!« rief er und schlug sich dabei heftig auf die Brust, »nein, ich bin kein menschgewordener Magen! Nein, da sitzt nicht alles. Ich habe nicht den Mut, zu behaupten, daß, wenn meine Verdauung klappt, alles übrige Nebensache sei. Wir können«, fuhr er dann ruhiger fort, »die schweren Störungen, die bei verschiedenen Menschen mehr oder weniger heftig auftreten, nicht auf die nämliche physische Ursache zurückführen und dürfen sie nicht einförmig behandeln. Kein Mensch ist dem anderen gleich. Wir haben alle besondere Organe, die verschiedene Wirkungen hervorbringen, verschiedene Lebensgrundlagen brauchen, die verschiedene Aufgaben erfüllen und einer Bestimmung folgen, welche zur Vollendung einer uns noch unbekannten Ordnung der Dinge erforderlich ist. Der Teil des großen Ganzen, der gemäß einem höheren Willen in uns das Phänomen des Lebens bewirkt und unterhält, hat in jedem Menschen seine eigene Ausdrucksform und macht aus ihm ein Wesen, das anscheinend endlich ist, das aber in einem Punkt mit einer unendlichen Ursache verbunden ist. Demzufolge müssen wir jedes Subjekt gesondert studieren, es durchdringen, erkennen, worin sein Leben besteht, welche besondere Kraft ihm eigen ist. Von der Weichheit eines nassen Schwammes bis zur Härte eines Bimssteins gibt es unendliche Abstufungen. So ist es auch mit dem Menschen. Zwischen der schwammigen Organisation lymphatischer Menschen und der metallischen Muskelhärte derjenigen, die zu einem langen Leben bestimmt sind, was für Irrtümer begeht da nicht das einzige, unabänderliche System der Heilung durch Schwächung, durch völlige Erschöpfung der menschlichen Kräfte, die Sie stets für gereizt halten! Im vorliegenden Fall also würde ich eine rein seelische Behandlung vorschlagen, eine tiefgehende Prüfung des inneren Wesens. Suchen wir den Sitz des Übels in den Eingeweiden der Seele statt in den Eingeweiden des Körpers! Ein Arzt ist ein erleuchtetes Wesen, das mit einer besonderen Gabe begnadet ist: Gott hat ihm die Macht verliehen, in der Lebenskraft zu lesen, wie er den Propheten Augen gibt, die Zukunft zu schauen, dem Dichter das Talent, die Natur zu beschwören, dem Musiker die Kunst, die Töne in einer harmonischen Ordnung aneinanderzureihen, deren Vorbild vielleicht dort droben ist! …«

      »Immer seine absolutistische, monarchistische und religiöse Medizin«, murmelte Brisset.

      »Messieurs«, meldete sich Maugredie rasch zu Wort, so daß Brissets Einwand nicht weiter beachtet wurde, »wir dürfen den Kranken nicht aus dem Auge verlieren …«

      »So steht es also mit der Wissenschaft!« rief Raphael verzweifelt in seinem Versteck. »Der eine bringt mir einen Kranz von Blutegeln und der andere einen Rosenkranz zur Heilung; ich habe die Wahl zwischen dem Messer Dupuytrens und dem Gebet des Prinzen von Hohenlohe! Und auf der Linie, die die Tatsache vom Wort, die Materie vom Geiste trennt, steht Maugredie und zweifelt. Das Ja und Nein der Menschen verfolgt mich immer! Überall das ›Carymary, Carymara‹ des Rabelais: ich bin geistig krank, Carymary! Oder körperlich krank, Carymara! Ob ich am Leben bleibe? Sie wissen es nicht. Da war doch Planchette ehrlicher, als er mir sagte: Ich weiß nicht.«

      In diesem Augenblick vernahm Valentin die Stimme des Doktor Maugredie: »Der Kranke ist ein Monomane, schön, einverstanden!« rief er; »aber er hat zweimal 100000 Livres jährlich. Monomanen der Art sind selten, und wir schulden ihnen mindestens einen Rat. Was die Frage angeht, ob sein Epigastrium auf das Hirn gewirkt hat oder das Hirn auf sein Epigastrium, so können wir sie vielleicht nach seinem Tode beantworten. Machen wir es also kurz. Daß er krank ist, ist nicht zu bestreiten. Irgendwie muß er also behandelt werden. Lassen wir die Lehrmeinungen beiseite. Setzen wir ihm Blutegel an, um die innere Reizung und die Neurose, über deren Vorhandensein wir uns einig sind, zu beseitigen, und dann schicken wir ihn in ein Bad; auf diese Weise wenden wir beide Systeme zugleich an! Ist er schwindsüchtig, dann können wir ihn sowieso kaum retten; also …«

      Raphael verließ schnell sein Versteck und begab sich wieder in seinen Lehnstuhl. Bald kamen die vier

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