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uns mit ihren halb abgestorbenen, von Schmerzen gequälten Händen und Füßen kaum imstande zu arbeiten und wurden, weil sie nicht arbeiteten, bestraft. Der Pater, der oft auf unsere vorgeschwindelten Krankheiten hereingefallen war, legte auf die wirklichen Schmerzen kein Gewicht.

      Für den Pensionspreis wurden die Kinder auf Kosten der Anstalt völlig unterhalten. Die Verwaltung pflegte eine bestimmte Summe für Schuhzeug und Kleidung auszusetzen. Dies war auch die Ursache für die sonntägliche Musterung, von der ich schon gesprochen habe. Diese Einrichtung, die für die Verwaltung sehr vorteilhaft war, hatte für die dieser Verwaltung Unterstellten traurige Folgen. Wehe dem Kleinen, der die schlechte Angewohnheit hatte, seine Stiefel zu zerreißen oder sie durch einen schlechten Gang schief zu laufen oder gar, sie in den Schulstunden, aus einem Bedürfnis nach Bewegung, wie es Kinder oft haben, abzuschubbern. Den ganzen Winter hindurch konnte er dann nicht ohne große Qualen auf den Spaziergängen mitgehen: erstens bereiteten ihm die Frostbeulen von neuem so fürchterliche Schmerzen, als hätte er die Gicht, dann gingen die Schnallen und die Senkel, mit denen die Schuhe zusammengehalten wurden, verloren oder der schiefgetretene Hacken hinderte das verflixte Schuhzeug daran, an den Füßen der Kinder fest anzusitzen: sie mußten es auf vereisten Wegen mühsam nachziehen oder es dem lehmigen Boden der Gegend abringen. Wasser und Schnee drangen oft durch eine unbemerkt aufgetrennte Naht, durch einen schlecht ausgesetzten Flecken und der Fuß schwoll an. Von sechzig Kindern waren nicht zehn, die ohne besondere Qual gingen; aber alle folgten sie dem großen Haufen, von der langen Reihe getrieben, wie die Menschen im Leben vom Leben vorwärtsgestoßen werden. Wie oft weinte nicht ein tapferes Kind vor Wut und fand doch die Energie, trotz Schmerzen vorwärts zu gehen oder in den Stall zurückzukehren: so sehr fürchtet in diesem Alter die noch unerfahrene Seele Hohnlachen und Mitleid, zwei Arten des Spottes. – Schon in der Schule – wie später in der Gesellschaft auch – verachtet der Starke den Schwachen, ohne zu wissen, worin wirkliche Kraft besteht. – Aber das war noch nichts. Man hatte keine Handschuhe an den Händen. Wenn zufällig die Zartesten unter uns von den Eltern, der Krankenschwester oder dem Direktor welche bekamen, dann taten die besonders Pfiffigen oder die Großen aus der Klasse die Handschuhe auf den Ofen, machten sich ein Vergnügen daraus, sie auszutrocknen oder sie gar zu stibitzen; und entgingen die Handschuhe den Findigen, dann wurden sie naß und schrumpften zusammen, weil sie nicht richtig behandelt wurden. Handschuhe waren also nicht möglich. Handschuh tragen galt als eine Bevorzugung, und Kinder wollen unter einander gleich sein.

      Diese verschiedenen Schmerzen hatte Louis Lambert zu ertragen. Wie Menschen, die viel nachdenken und die dabei in der Stille ihrer Träumereien die Gewohnheit irgend einer mechanischen Bewegung angenommen haben, so hatte er die Manier, mit seinen Stiefeln zu spielen und sie in kurzer Zeit zu zerreißen. Seine frauenhaft zarte Haut, seine Ohren, seine Lippen sprangen bei der geringsten Kälte auf, seine weichen, weißen Hände wurden rot und geschwollen. Er war dauernd erkältet. Louis war also so lange den Leiden ausgesetzt, bis er sein Leben den Sitten von Vendôme angepaßt hatte. Mit der Zeit durch die grausame Erfahrung der Schmerzen klüger geworden, fand er die Kraft, an sein »Zeug« zu denken, um mich eines Schulausdruckes zu bedienen. Er mußte für seinen Verschlag sorgen, für sein Pult, für seinen Anzug, für seine Stiefel; durfte sich weder Tinte stehlen lassen noch Bücher, weder Hefte noch Federn. Er mußte endlich an die tausend kleinen Dinge unseres Kinderdaseins denken, mit denen sich die Egoisten und mittelmäßigen Geister so pünktlich befassen, denen dann auch unweigerlich der Preis für Ordnung und gute Führung zugesprochen wird, die aber ein Kind vernachlässigt, das eine Zukunft hat, das unter dem Schicksal einer fast göttlichen Phantasie sich leidenschaftlich dem reißenden Strom seiner Gedanken hingibt. Doch das war noch nicht alles. Es bestand ein unablässiger Kampf zwischen Lehrer und Schüler, ein Kampf ohne Waffenstillstand, dem nichts in der Gesellschaft zu vergleichen ist, wenn nicht der Kampf der Opposition gegen das Ministerium einer parlamentarischen Regierung. Aber die Journalisten und Redner der Opposition sind vielleicht weniger schnell bei der Hand, einen Vorteil zu nutzen, weniger hart, ein Unrecht vorzuwerfen, weniger beißend in ihrem Spott als Kinder gegen die Leute, die beauftragt sind, sie zu regieren. In diesem Beruf würde selbst den Engeln die Geduld reißen. Man darf einem armen, schlecht bezahlten und demgemäß wenig gewitzten Anstaltslehrer nicht allzu böse sein, wenn er zuweilen ungerecht ist oder wütend wird. Immer von einer Schar spöttischer Blicke beobachtet, von Fallen umstellt, rächt er sich zuweilen an den Kindern für die Fehler, die er begangen hat und die sie nur allzu schnell bemerken.

      Außer für ganz große Streiche, für die es andere Strafen gab, war in Vendôme der Kantschu die ultima ratio Patrum. Für vergessene Arbeiten, schlecht gekonnte Aufgaben, gewöhnliche Streiche genügte die Strafarbeit; aber das verletzte Selbstgefühl der Lehrer sprach durch den Kantschu. Er bereitete uns den heftigsten der körperlichen Schmerzen, denen wir ausgesetzt waren. Es war ein Lederschlägel, der ungefähr zwei Finger dick war und auf unsere schwachen Hände mit der ganzen Kraft und dem ganzen Zorn des Lehrers niederschlug. Um diese klassische Strafe zu empfangen, mußte der Schuldige sich mitten im Saal hin knien. Man mußte von seiner Bank aufstehen, sich neben das Katheder knien und die neugierigen, oft höhnischen Blicke der Kameraden erleiden. Für zarte Seelen waren diese Vorbereitungen eine doppelte Qual, ähnlich wie früher der Weg des zum Tode Verurteilten zwischen Justizpalast und Schafott. Je nach den Charakteren schrien die einen und vergossen heiße Tränen, vor oder nach der Prügelstrafe, die andern nahmen die Schmerzen mit stoischer Miene hin. Aber solange sie auf die Züchtigung warteten, konnten selbst die Stärksten das Zucken ihres Gesichtes kaum unterdrücken. Louis Lambert wurde geradezu mit Schlägen überschüttet, und er verdankte sie einer Eigentümlichkeit, von deren Vorhandensein er lange Zeit nichts ahnte. Wenn er nämlich durch das »Sie tun ja nichts!« des Lehrers gewaltsam aus seinem Nachsinnen herausgerissen wurde, kam es anfangs, ihm oft unbewußt, vor, daß er diesem Manne einen Blick zuwarf, der voll grausamer Verachtung war und mit Gedanken geladen, wie eine Leydener Flasche mit Elektrizität. Dieser Blick mußte den Lehrer in Erregung versetzen, er fühlte sich von diesem stillschweigenden Spott verletzt und wollte dem Schüler diesen zündenden Blick austreiben. Das erste Mal, als unser Pater sich über diesen verächtlichen Blick ärgerte, der ihn wie ein Blitzstrahl traf, sagte er den Satz, an den ich mich noch genau erinnere: »Wenn Sie mich noch einmal so ansehen, Lambert, dann bekommen Sie eine Tracht Prügel!« Bei diesen Worten hoben sich alle Köpfe, alle Augen blickten abwechselnd zum Lehrer und zu Louis hin. Der Verweis war so dumm, daß das Kind dem Lehrer einen durchdringenden Blick zuwarf. Seit jener Zeit herrschte zwischen dem Lehrer und Lambert ein Kampf, der durch eine gewisse Menge von Schlägen ausgetragen wurde. Auf diese Weise wurde Louis die bezwingende Macht seines Blickes enthüllt. Dieser arme Dichter, der von nervöser Veranlagung war, oft wie eine Frau an hysterischen Stimmungen litt, von dauernder Melancholie befallen war, ganz krank an seinem Genie wie ein junges Mädchen an der Liebe, nach der sie sich sehnt und die sie nicht kennt: dieses starke und doch so schwache Kind, das von Corinna aus seinen schönen Feldern verpflanzt worden war, um in die Gußform einer Anstalt eingezwängt zu werden, wo jeder Geist, jeder Körper, trotz seiner Bedeutung, trotz seines Temperaments, sich den Regeln und der Uniform anpassen muß, wie sich das Gold unter den Schlägen des Prägstocks zu Goldstücken rundet; dieses Kind litt überall da, wo der Schmerz an seine Seele oder an seinen Körper heranreichte. Wie ein Sträfling an die Bank seines Pultes festgeschmiedet, mit der Rute geschlagen, von Krankheiten heimgesucht, an allen seinen Sinnen leidend, in einen Ring von Schmerzen eingeengt, alles zwang ihn, seine Haut den tausend Tyranneien der Schule preiszugeben. Und wie die Märtyrer, die inmitten ihrer Folterqualen lächelten, flüchtete er sich in den Himmel, den seine Gedanken ihm öffneten. Vielleicht half ihm dieses ganz innerliche Leben die Geheimnisse zu erschauen, an die er so fest glaubte!

      Unser Unabhängigkeitsbedürfnis, unsere heimlichen Beschäftigungen, unser augenscheinliches Nichtstun, die Trägheit, in der wir verharrten, unsere dauernden Strafen, unser Abscheu vor Schulaufgaben und Strafarbeiten, alles dies brachte uns in den Ruf, faule und unverbesserliche Kinder zu sein. Unsere Lehrer verachteten uns, und ebenso fielen wir in den schlimmsten Mißkredit bei unsern Kameraden, denen wir, aus Furcht vor ihren Neckereien, unsere heimlichen Studien verbargen. Diese doppelte Verachtung war bei den Lehrern ungerecht, beruhte bei unsern Mitschülern jedoch auf einem ganz natürlichen Gefühl. Wir konnten weder Ball spielen, noch laufen, noch auf Stelzen gehen. An den Tagen des Straferlasses, oder wenn wir einmal zufällig einen freien Augenblick hatten, nahmen wir an keinem der in der Schule üblichen

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