Скачать книгу

bildeten also eine Ausnahme, führten ein Dasein außerhalb des Gemeinschaftslebens. Der sichere Instinkt und die empfindliche Eigenliebe der Schüler ließ sie in uns Geister wittern, die den ihrigen über- oder unterlegen waren. Daher bei den einen der Haß auf unsere stumme Aristokratie, bei den andern die Verachtung für unsere Unbrauchbarkeit. Diese Gefühle waren uns jedoch unbekannt, vielleicht habe ich sie erst heute erraten. Wir lebten also, geduckt wie zwei Ratten, in der Ecke des Saales, wo unsere Pulte standen, festgebannt während der Schulstunden wie auch in der Freizeit. Diese Ausnahmestellung mußte uns naturgemäß in Kriegszustand mit den Kindern unserer Abteilung versetzen. Beinahe stets von den andern vergessen, saßen wir dort ruhig, fast glücklich, wie zwei Pflanzen, wie zwei Ornamente, die der Harmonie des Saales gefehlt hätten. Aber manchmal beschimpften uns die händelsüchtigsten unserer Kameraden, um ihre Kräfte auf unrechtmäßige Weise an uns zu messen, und wir antworteten mit einer Verachtung, die oft dem »Dichter-und-Pythagoras« eine tüchtige Tracht Prügel einbrachte.

      Das Heimweh Lamberts dauerte mehrere Monate. Ich kann die Schwermut, der er zum Opfer fiel, mit nichts vergleichen. Louis hat mir den Genuß an manchem Meisterwerk verdorben. Da wir beide die Rolle des Aussätzigen von Aosta spielten, hatten wir die Gefühle, die in dem Buche von de Maistre ausgedrückt sind, schon empfunden, noch ehe wir sie durch diese beredte Feder dargestellt lasen. Ein Werk kann wohl die Erinnerung der Kindheit wieder ins Gedächtnis zurückrufen, aber es wird nie erfolgreich gegen sie ankämpfen. Durch die Klagen Lamberts lernte ich Hymnen der Traurigkeit kennen, die ergreifender waren, als es die schönsten Seiten im Werther sind. Aber vielleicht lassen sich die Qualen, die eine von unsern Gesetzen mit Recht oder Unrecht verdammte Leidenschaft verursacht, nicht mit den Schmerzen eines armen Kindes vergleichen, das sich nach dem Glanz der Sonne, nach dem Tau der Täler und nach Freiheit sehnt. Werther ist der Sklave einer Begierde, Louis Lambert war eine gefangene Seele. Bei gleichen Anlagen muß das ergreifendste Gefühl oder dasjenige, das auf der wahrsten, weil reinsten Sehnsucht beruht, die Klagen des Genies übertönen. Wenn Louis lange Zeit das Laub einer Linde im Hof angeschaut hatte, dann sagte er nur ein Wort zu mir, aber dieses Wort war der Ausdruck tiefsten Sinnens!

      So rief er eines Tages aus: »Zum Glück gibt es auch noch gute Augenblicke, in denen mir ist, als seien die Mauern des Klassenzimmers eingestürzt, und als sei ich irgendwo in den Feldern! Welch eine Seligkeit, sich dem Lauf der Gedanken zu überlassen, wie der Vogel sich dem Flug überläßt!«

      »Warum ist die grüne Farbe in der Natur soviel vertreten?« fragte er mich. »Warum gibt es in ihr so wenig gerade Linien? Warum wendet der Mensch in seinen Werken so selten Kurven an? Warum hat er allein Gefühl für die gerade Linie?«

      Solche Worte verrieten eine lange Wanderung durch den Weltenraum. Er hatte ganze Landschaften gesehen oder den Duft der Wälder eingeatmet. Er war, eine lebendige und erhabene Elegie, immer schweigsam, resigniert, immer leidend, ohne jedoch sagen zu können: ich leide! Dieser Adler, der die Welt brauchte für seine Nahrung, war eingekerkert in vier enge und schmutzige Wände. Daher wurde sein Leben denn auch im weitesten Sinne des Wortes ein Leben in Ideen. Voller Verachtung für die fast nutzlosen Studien, zu denen wir verurteilt waren, machte Louis seinen Weg durch die Lüfte, völlig losgelöst von den Dingen, die uns umgaben. Dem Nachahmungstrieb gehorchend, der die Kinder beherrscht, versuchte ich, mein Leben dem seinen nachzubilden. Louis konnte mich umso eher für jenen schlafähnlichen Zustand, in den das tiefe Nachdenken den Körper versetzt, leidenschaftlich begeistern, als ich jünger war als er und daher eindrucksfähiger. Wir gewöhnten uns daran, wie zwei Liebende, gemeinsam zu denken und unsere Träume einander mitzuteilen. Sein intuitives Empfinden besaß schon damals jene Schärfe, wie sie den geistigen Wahrnehmungen der großen Dichter eigen sein muß und die so oft zum Wahnsinn führt.

      »Fühlst du, wie ich,« fragte er mich eines Tages, »daß gegen deinen Willen seltsame Schmerzen in dir aufsteigen? Wenn ich zum Beispiel intensiv an die Wirkung denke, die die Schneide meines Taschenmessers verursachen würde, wenn ich sie in mein Fleisch stieße, dann fühle ich plötzlich einen scharfen Schmerz, als hätte ich mich wirklich geschnitten: es fehlt nur noch das Blut. Aber diese Empfindung überkommt und überrascht mich wie ein plötzliches Geräusch, das eine tiefe Stille unterbricht. Kann ein Gedanke physische Schmerzen verursachen? … Nun, was sagst du dazu?«

      Wenn er so subtile Reflexionen vorgebracht hatte, dann versanken wir beide in kindliche Träumerei. Wir suchten dann in uns selbst nach diesen unerklärlichen Phänomenen, die sich auf die Entstehung des Gedankens bezogen, und die Lambert in ihren kleinsten Phasen zu erfassen suchte, um eines Tages diesen unbekannten Vorgang beschreiben zu können. Und nach Diskussionen, in denen viel kindisches Zeug mit unterlief, sprang plötzlich ein Blick aus Lamberts flammenden Augen, er drückte meine Hand und aus seiner Seele drang ein Wort, durch das er alles zusammenzufassen suchte.

      »Denken ist sehen!« sagte er eines Tages zu mir, fortgerissen durch eine unserer Auseinandersetzungen über den Ursprung unseres Wesens. »Alle menschliche Wissenschaft beruht auf Deduktion, die ein langsames Schauen ist, von der Ursache hinunter zur Wirkung, von der Wirkung hinauf zur Ursache, oder mit einem bedeutsameren Ausdruck: alle Poesie entsteht, wie jedes Kunstwerk, aus einem schnellen Schauen der Dinge.«

      Er war Spiritualist, ich aber wagte ihm zu widersprechen und zog seine eigenen Beobachtungen heran, um die Intelligenz als ein rein physisches Produkt gelten zu lassen. Wir hatten alle beide recht. Vielleicht drücken die Worte: Materialismus und Spiritualismus die beiden Seiten ein und derselben Tatsache aus. Sein Studium über die Substanz des Gedankens ließ ihn mit einem gewissen Stolz das entbehrungsreiche Leben auf sich nehmen, zu dem uns sowohl unsere Trägheit wie unsere Verachtung für unsere Schulaufgaben verurteilten. Er besaß ein gewisses Bewußtsein seines Wertes, das ihn in seinen geistigen Arbeiten aufrecht hielt. Mit welcher Wonne empfand ich nicht, wie seine Seele auf die meine wirkte! Wie oft waren wir nicht beide auf unserer Bank sitzen geblieben, beide in ein Buch vertieft, und hatten uns gegenseitig vergessen, ohne uns zu verlassen. Wir wußten uns beide da, in ein Meer von Gedanken getaucht, wie zwei Fische, die im gleichen Wasser schwimmen. Äußerlich schien unser Leben also nur ein Vegetieren zu sein, innerlich lebten wir dafür sowohl mit dem Herzen wie mit dem Hirn.

      Die Gefühle und Gedanken waren die einzigen Ereignisse unseres Schülerdaseins.

      Lambert hatte auf meine Phantasie einen Einfluß, den ich noch heute empfinde. Gierig lauschte ich seinen Erzählungen, die reich waren an Wundern, um deretwillen Kinder wie Erwachsene mit Entzücken den Geschichten lauschen, in denen das Wirkliche gern die absurdesten Formen annimmt. Seine Leidenschaft für alles Mystische und die natürliche Gläubigkeit der Jugend veranlaßten uns oft, von »Himmel und Hölle« zu sprechen. Louis versuchte damals, indem er mir Swedenborg erklärte, mir seinen Glauben an die Engel mitzuteilen. Selbst noch in seinen irrigsten Beweisführungen lagen erstaunliche Beobachtungen über die Kraft des Menschen, Beobachtungen, die seinen Worten jenen Schein von Wahrheit verliehen, ohne den in der Kunst nichts möglich ist. Das romantische Ende, das für ihn zu jedem menschlichen Schicksal gehörte, war ganz dazu angetan, der Neigung zu schmeicheln, mit der die jugendliche Phantasie sich dem Glauben zuwendet. Erzeugen die Völker nicht auch in ihrer Jugend ihre Dogmen und ihre Götzen? Und sind die übernatürlichen Wesen, vor denen sie zittern, nicht Verkörperungen ihrer gesteigerten Gefühle und Bedürfnisse? Was mir heute von den phantasievollen Gesprächen im Gedächtnis geblieben ist, die wir, Lambert und ich, über den schwedischen Philosophen führten, dessen Werke ich seitdem aus Neugier gelesen habe, kann in folgender kurzer Darstellung zusammengefaßt werden.

      In uns gibt es zwei voneinander verschiedene Geschöpfe; nach Swedenborg ist der Engel das Individuum, bei dem das »Innere Wesen« über das »Äußere Wesen« triumphiert. Will ein Mensch, sobald ihm vom Gedanken seine doppelte Existenz gezeigt worden ist, seiner Berufung als Engel gehorchen, so muß er bemüht sein, die auserwählte Natur des Engels in sich zu nähren. Wenn er, aus Mangel an tieferer Erkenntnis seines Schicksals, das körperliche Leben vorherrschen läßt, anstatt das geistige zu stärken, gehen alle seine Kräfte in das Spiel seiner äußeren Sinne über, und der Engel geht langsam durch diese Materialisierung beider Naturen ein. Im entgegengesetzten Falle, wenn er sein Inneres mit den Substanzen, die ihm eigen sind, nährt, dann siegt die Seele über die Materie und versucht, sich von ihr loszulösen. Wenn ihre Trennung unter der Form geschieht, die wir den Tod nennen, dann bleibt der Engel, der mächtig

Скачать книгу