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und zweite Klasse und endlich die »Großen« die Klassen der Rhetorik, Philosophie, Mathematik, Physik und Chemie. Jede einzelne dieser Abteilungen hatte ihr Gebäude, ihre Klassenzimmer und ihren Hof inmitten eines großen gemeinsamen Platzes, auf den sich die Schulsäle öffneten und der an das Refektorium grenzte. Dieses Refektorium, das eines alten religiösen Ordens würdig war, faßte alle Schüler. Entgegen den Regeln der anderen Lehranstalten durften wir beim Essen sprechen, eine Freiheit, die uns gestattete, nach unserem Geschmack die Speisen auszutauschen. Dieser gastronomische Tauschhandel ist eine der größten Freuden unseres Anstaltslebens geblieben. Wenn irgend ein »Mittlerer«, der am oberen Ende des Tisches saß, lieber eine Portion gelbe Erbsen haben wollte anstatt Nachtisch (denn wir bekamen Nachtisch!), dann ging das Wort von Mund zu Munde: »Ein Dessert für Erbsen!« bis ein Leckermaul sie nahm; darauf schickte dieser seine Portion Erbsen, die von Hand zu Hand ging, bis zu dem Anbietenden, dessen Nachtisch den gleichen Weg machte. Nie kam ein Irrtum vor. Wenn mehrere gleiche Forderungen waren, so trug jede ihre Nummer, und man sagte: »Erste Erbsen für erstes Dessert«. Die Tische waren lang, unser andauernder Handel hielt alle unablässig in Bewegung; und wir aßen, sprachen und bewegten uns mit beispielloser Schnelligkeit. Das Geschwätz der dreihundert jungen Menschen, das Hin und Her der Bediensteten, die die Teller wechselten, die Platten auftrugen und das Brot verteilten, die Aufsicht der Direktoren machte das Refektorium von Vendôme zu einem eigenartigen Schauspiel, das alle Besucher in Erstaunen setzte.

      Um uns unser Leben, das jeder Verbindung mit der Außenwelt und aller Herzlichkeit der Familie entbehrte, angenehmer zu machen, gestatteten uns die Priester noch, Tauben zu halten und Gärten anzulegen. Unsere zwei- bis dreihundert Taubenschläge, unsere mehr als tausend Tauben, die an den Umfassungsmauern nisteten, und unsere dreißig Gärten boten einen noch merkwürdigeren Anblick als unsere Mahlzeiten. Aber es würde zu langwellig werden, wollte ich alle Einzelheiten schildern, die das Institut von Vendôme zu einer besonderen Anstalt machten und die in der Erinnerung all derer lebendig sind, deren Kindheit sich dort abgespielt hat. Wer von uns denkt bei all der Bitternis des Lernens nicht noch mit Entzücken an dieses klösterliche Leben? Da wurden während des Spaziergangs heimlich Näschereien gekauft, da durften wir in den Ferien Karten spielen und Theateraufführung veranstalten: Streiche und Freiheiten, die unsere Abgeschlossenheit notwendig machte. Dann unsere Militärmusik, noch eine letzte Spur aus der Kadettenzeit, unsere Akademie, unser Kaplan, unsere geistlichen Lehrer; und dann unsere besonderen, teils verbotenen, teils erlaubten Spiele: das Stelzenlaufen, die langen Schlitterbahnen im Winter, der Lärm unserer derben Stiefel und vor allem der Handel, der durch den kleinen Laden eingeführt wurde, der im Innern unserer Höfe eingerichtet war. Dieser Laden wurde von einer Art Faktotum bedient, bei dem Groß und Klein laut Prospekt Schachteln, Stelzen, Werkzeug, Tauben, Meßbücher (ein selten verkaufter Artikel), Messer, Papier, Federn, Bleistifte, Tinte in allen Farben, Bälle und Murmeln kaufen konnte; endlich alles, was ein Kinderherz auch sonst noch verlocken konnte und wozu sowohl die Brühe der Tauben, die wir töten mußten, gehörte wie auch das Geschirr, in dem wir den Reis vom Abendessen für das Frühstück am nächsten Tag aufheben konnten. Wer von uns hat wohl das Herzklopfen vergessen beim Anblick dieses während der Sonntagspausen regelmäßig geöffneten Ladens, in den wir nacheinander hineingingen, um das Geld auszugeben, das wir ausgehändigt bekommen hatten; wo wir aber durch den geringen Betrag des von den Eltern für unsere kleinen Vergnügungen gegebenen Taschengelds gezwungen waren, eine Wahl unter all den Gegenständen zu treffen, die eine so heftige Lockung für unsere Herzen bedeuteten. Hat eine junge Gattin, die in den ersten Jahren ihrer Ehe von ihrem Gatten zwölfmal im Jahre eine Summe ausgehändigt bekommt, um damit ihre kleinen Wünsche zu befriedigen, je so viel verschiedene Einkäufe erträumt, von denen jeder einzelne schon die ganze Summe beansprucht hätte, wie wir am Vorabend jedes ersten Sonntags im Monat? Für sechs Franken besaßen wir eine ganze Nacht lang alle Schätze dieses unerschöpflichen Ladens. Und während der Messe sangen wir nicht einen Antwortgesang, der uns nicht in unseren geheimen Berechnungen gestört hätte. Wer von uns kann sich entsinnen, noch am zweiten Sonntag auch nur einen Heller zum Ausgeben gehabt zu haben? Und wer hat nicht im voraus den sozialen Gesetzen gehorcht und hat die Paria beklagt, hat ihnen geholfen oder hat sie verachtet, die der väterliche Geiz oder die väterliche Armut ohne Geld ließ? Und wer sich die Abgeschlossenheit dieses großen Institutes vorstellt mit seinen Klostergebäuden inmitten einer kleinen Stadt, und die vier Parke, in denen wir mönchisch untergebracht waren, der hat gewiß auch eine Vorstellung von dem Interesse, das uns die Ankunft eines »Neuen« einflößen mußte, der wie ein neuer Passagier auf einem Schiff war. Nie ist eine bei Hofe vorgestellte junge Herzogin so lebhaft kritisiert worden wie der neue Ankömmling es von allen Schülern seiner Abteilung wurde. Gewöhnlich sprachen in der Abendpause, vor dem Gebet, die Schmeichler mit dem gerade diensttuenden der beiden Geistlichen, die uns abwechselnd jede Woche zu beaufsichtigen hatten, und hörten dann als erste die authentischen Worte: »Morgen werdet ihr einen Neuen bekommen!« Und plötzlich erscholl der Ruf: »Ein Neuer, ein Neuer!« in den Höfen. Wir liefen alle herbei und stellten uns um den Aufseher herum, der aufs genaueste ausgefragt wurde. – Wo kam er her? Wie hieß er? In welche Klasse sollte er kommen? undsoweiter.

      Die Ankunft Louis Lamberts war der Gegenstand einer Erzählung, die in Tausend und eine Nacht paßte. Ich war damals in der vierten Klasse bei den »Kleinen«. Wir hatten als Aufseher zwei Männer, die wir aus Überlieferung »Pater« nannten, obgleich sie Laien waren. Zu meiner Zeit waren in Vendôme nur noch drei wirkliche Oratorianer, denen dieser Titel von rechtswegen zukam. Im Jahre 1814 verließen auch diese das Institut, das unmerklich weltlich geworden war, um sich zu den Altären irgend einer Landpfarre zu flüchten, nach dem Beispiel des Pfarrers von Mer.

      Der »Pater« Haugoult, der Aufseher der Woche, war ein recht gutmütiger Mann, aber ohne höhere Bildung; ihm fehlte der Takt, der so notwendig ist, um die verschiedenen Charaktere der Kinder zu unterscheiden und ihnen die Strafen je nach ihren Kräften zuzumessen. Pater Haugoult begann also höchst bereitwillig die eigenartigen Umstände zu erzählen, denen wir am nächsten Tag den merkwürdigsten »Neuen« verdanken sollten. Die Spiele hörten sofort auf, alle »Kleinen« kamen schweigend herbei, um das Abenteuer dieses Louis Lambert mit anzuhören, der wie ein Meteorstein in einer Waldecke von Madame de Staël aufgefunden worden war. Pater Haugoult mußte uns über Madame de Staël aufklären; an jenem Abend schien sie mir zehn Fuß groß zu sein; zwar habe ich seitdem das Bild »Corinna« gesehen, auf dem Gérard sie so groß und so schön dargestellt hat, aber leider wurde es von dem in meiner Phantasie geträumten Frauenideal derart überragt, daß die wirkliche Madame de Staël immer in meinem Geiste verlor, seihst nachdem ich das ganz männliche Buch »Deutschland« gelesen hatte. Aber ein ganz anderes Wundertier war Lambert selbst: nachdem Herr Mareschall, der Studiendirektor, ihn geprüft hatte, zögerte er, wie Pater Haugoult sagte, ihn zu den »Großen« zu tun. Seine Lücken im Latein hatten ihn in die vierte Klasse zurückgebracht, aber sicher würde er jedes Jahr eine Klasse überspringen. Und dann sollte er auch ausnahmsweise in die Akademie aufgenommen werden. Proh pudor! Welche Ehre! wir sollten unter den »Kleinen« einen Mitschüler haben, der ein rotes Band trug, wie die Akademiker von Vendôme! Die Akademiker genossen herrliche Vorrechte: sie aßen oft am Tische des Direktors und hielten im Jahre zwei literarische Sitzungen ab, an denen wir teilnahmen, um ihre Werke mit anzuhören. Ein Akademiker war ein kleines Genie. Wenn jeder Schüler aus Vendôme ehrlich sein will, so wird er zugeben müssen, daß die wirklichen Akademiker der wirklichen französischen Akademie ihm später viel weniger Eindruck machten als dieses bedeutende Kind, das das Kreuz und das geheimnisvolle rote Band schmückte, beides das Zeichen unserer Akademie. Es war überaus schwer, dieser glorreichen Gemeinschaft anzugehören, ehe man in der zweiten Klasse war, denn die Akademiker mußten in den Ferien jeden Donnerstag eine öffentliche Sitzung abhalten und uns Geschichten in Versen oder in Prosa, Episteln, Abhandlungen, Tragödien und Komödien vorlesen: Arbeiten, für die die Begabung der niederen Klassen noch nicht ausreichte. Ich habe lange Zeit die Erinnerung an eine solche Geschichte bewahrt, die den Titel »Der grüne Esel« trug und die, glaube ich, das hervorragendste Werk dieser unbekannten Akademie ist. Einer aus der »Vierten« also sollte in die Akademie kommen! Zu uns wurde dieses Kind von vierzehn Jahren getan, das schon ein Dichter war und von Madame de Staël geliebt wurde, ein zukünftiges Genie, wie Pater Haugoult sagte. Ein wahrer Hexenmeister, ein Junge, der einen Aussatz oder eine Übersetzung machen konnte, während schon zur Stunde gerufen wurde, und der seine Aufgaben lernte, indem

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