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spottete, die ihn für die in der Anstalt üblichen gewaltsamen Übungen ungeeignet machte, hob Lambert einen unserer Tische, der aus zwölf in zwei gebogenen Reihen aneinander gefügten Pulten bestand, mit beiden Händen an dem einen Ende in die Höhe und lehnte sich gegen das Katheder des Lehrers; dann hielt er den Tisch mit seinen Füßen fest, indem er diese aus die untere Querleiste setzte, und sagte: »Versucht mal eurer zehn, ihn zu bewegen!« Ich war zugegen und ich kann diesen merkwürdigen Beweis von Kraft bezeugen: es war unmöglich, ihm den Tisch zu entreißen. Lambert besaß die Gabe, in gewissen Augenblicken außergewöhnliche Kräfte herbeizurufen und diese Kräfte auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren, um sie wirken zu lassen. Aber die Kinder, die ebenso wie die Erwachsenen gewöhnt sind, nach ihrem ersten Eindruck zu urteilen, studierten Lambert nur in den ersten Tagen nach seiner Ankunft; er widerlegte völlig Madame de Staëls Vorhersagung und offenbarte keines der Wunder, die wir von ihm erwarteten. Nach einem Versuchsquartal galt Louis für einen ganz gewöhnlichen Schüler. Mir allein war es vergönnt, in diese erlesene Seele – warum sage ich nicht göttliche Seele? – zu schauen. Was ist Gott näher als das Genie im Herzen eines Kindes? Die Gleichheit unseres Geschmacks und unserer Gedanken machte uns zu Freunden und »Gefährten«. Unsere Brüderschaft wurde so eng, daß unsere Kameraden unsere beiden Namen mit einander verbanden, sodaß einer nicht ohne den andern ausgesprochen wurde; und um uns zu rufen, schrien sie: »Dichter-und-Pythagoras«. Andere Namen hatten Beispiel für solch eine »Ehe« gegeben. So blieb ich zwei Jahre hindurch der Schulfreund des armen Louis Lambert, und mein Leben war so eng mit dem seinen verbunden, daß ich heute in der Lage bin, die Geschichte seines Geistes zu schreiben. Ich habe lange Zeit hindurch die Poesie und den Reichtum, die in dem Herzen und hinter der Stirn meines Kameraden verborgen waren, nicht gekannt; ich mußte erst dreißig Jahre alt werden, damit meine Beobachtungen reiften und sich verdichteten, damit ein heller Lichtstrahl sie von neuem beleuchtete, um die ganze Bedeutung der wunderbaren Phänomene zu verstehen, deren ahnungsloser Zeuge ich gewesen war. Ich habe mich an ihnen gefreut, ohne mir ihre Größe zu erklären, noch auch ihren Mechanismus; ich habe einige sogar vergessen und entsinne mich nur noch der augenfälligsten. Aber heute hat meine Erinnerung sie eingeordnet und ich bin in das Geheimnis dieses fruchtbaren Gehirns eingedrungen, indem ich mich in die köstlichen Tage unserer jungen Freundschaft zurückversetzte. Also, die Zeit allein ließ mich den Sinn der Ereignisse und Tatsachen erkennen, an denen dieses unbegreifliche Leben so reich war, wie das vieler anderer Männer auch, die für die Wissenschaft verloren gegangen sind. – Diese Geschichte ist freilich im Ausdruck und in der Bewertung der Dinge voll von rein geistigen Anachronismen, die aber vielleicht dem Interesse nicht schaden werden.

      In den ersten Monaten seines Aufenthaltes in Vendôme befiel Louis eine Krankheit, deren Symptome dem Auge der uns überwachenden Lehrer nicht sichtbar wurden, die aber notgedrungen die Auswirkung seiner bedeutenden Gaben hemmten. An die frische Luft gewöhnt und an die Freiheit einer dem Zufall überlassenen Erziehung, von der zärtlichen Fürsorge eines Greises gehegt, der ihn herzlich liebte, daran gewöhnt, unter der Sonne zu denken, wurde es ihm jetzt sehr schwer, sich den Regeln einer Anstalt zu fügen, in einer Reihe zu gehen, zwischen den vier Wänden eines Saales zu leben, in dem achtzig junge Menschen schweigend auf Holzbänken saßen, jeder vor seinem Pult. Seine Sinne waren von einer Vollkommenheit, die ihm eine übergroße Empfindlichkeit verlieh; und alles an ihm litt durch dieses gemeinsame Leben. Die Ausdünstungen, durch die die Luft immer schlecht war, zusammen mit dem Geruch einer immer schmutzigen Klasse, die angefüllt war mit den Überresten unseres Frühstücks und unseres Vespers, beleidigten seinen Geruchssinn, diesen Sinn, der mehr als die anderen in direkter Verbindung mit dem Gehirn steht und daher durch Störungen im Denkorgan unmerkliche Erschütterungen hervorrufen muß. Außer diesen Ursachen für die schlechte Luft gab es in unseren Arbeitssälen noch Verschläge, in die jeder seine Beute hineintat: die für die Feiertage getöteten Tauben oder die im Speisesaal heimlich entwendeten Gerichte. Schließlich war in jedem unserer Säle ein riesiger Stein, auf dem stets zwei Eimer mit Wasser standen, eine Art Schwemme, an die wir jeden Morgen gingen, um uns nacheinander in Gegenwart des Lehrers Gesicht und Hände zu waschen. Von da traten wir an einen Tisch, wo uns Frauen kämmten und puderten. Der Raum, der einmal am Tage, vor unserm Aufstehen, gereinigt wurde, blieb immer unsauber. Trotz der vielen Fenster wurde die Luft also dauernd verdorben durch die Ausdünstungen der Wascheinrichtung, durch das Kämmen, durch die Verschläge, durch die tausend Betätigungen der Schüler, ungerechnet unsere achtzig zusammengepferchten Körper. Diese Art Anstalts-»humus«, der sich unablässig mit dem Schmutz vermischte, den wir von unsern Spaziergängen mitbrachten, bildete einen Misthaufen von unerträglichem Gestank. Das Fehlen der reinen und durchdufteten Luft der Felder, in der er bisher gelebt hatte, die Änderung seiner Gewohnheiten, die Disziplin, alles drückte Lambert nieder. Den Kopf immer auf seine linke Hand und den Arm auf sein Pult gestützt, so verbrachte er die Schulstunden und sah aus den Hof hinaus, auf das Laub der Bäume oder auf die Wolken am Himmel. Er schien seine Aufgaben zu machen; aber wenn der Lehrer sah, daß seine Feder sich nicht bewegte oder seine Seite weiß blieb, dann schrie er ihn an: »Lambert, Sie tun nichts!« – Dieses »Sie tun nichts!« war ein Nadelstich, der Louis ins Herz traf. Und dann kannte er auch die Muße der Freizeit nicht, hatte »Strafarbeiten« zu machen. Die »Strafarbeit«, eine Strafe, deren Wesen je nach den Sitten jeder einzelnen Anstalt wechselt, bestand in Vendôme in einer bestimmten Anzahl von Zeilen, die während der Freistunden abgeschrieben werden mußten. Wir beide, Lambert und ich, waren so mit Strafarbeiten überhäuft, daß wir in den zwei Jahren unserer Freundschaft nicht sechs freie Tage gehabt haben. Ohne die Bücher, die wir der Bibliothek entnahmen, und die das Leben in unserm Gehirn wach hielten, hätte uns dieses System zu einem vollständigen Stumpfsinn geführt. Das Fehlen jeder körperlichen Übung ist Kindern verhängnisvoll. – Die Gewohnheit zu repräsentieren, wie Personen aus königlichem Hause sie von Jugend auf haben, verändert, heißt es, merklich ihre Konstitution, wenn sie diesen Schaden nicht durch Übungen aus dem Schlachtfeld und durch Bewegung bei der Jagd wieder wett machen. Wenn die Gesetze der Etikette und des Hoflebens auf das Rückenmark einwirken, sodaß die Könige weibisch werden, ihre Gehirnfasern verweichlichen und so die Rasse entartet, was für tiefe, sowohl körperliche wie seelische Schädigungen muß da erst eine dauernde Entbehrung von Luft, Bewegung, Frohsinn bei Schülern verursachen? Das ganze Strafsystem, das in den Anstalten herrscht, sollte einmal die Aufmerksamkeit der Autoritäten auf dem Gebiet der öffentlichen Erziehung auf sich lenken, falls sich unter ihnen Denker befinden, die nicht ausschließlich an sich selbst denken.

      Wir zogen uns die Strafarbeiten auf die verschiedenste Weise zu. Unser Gedächtnis war so gut, daß wir nie unsere Aufgaben lernten. Es genügte, wenn wir unsere Mitschüler die französischen und lateinischen Stücke oder die Grammatik hersagen hörten, um sie unsererseits wiederholen zu können. Aber wenn es dem Lehrer einfiel, außer der Reihe zu gehen und uns als erste zu fragen, dann wußten wir oft nicht einmal, um was für eine Aufgabe es sich handelte; und die Strafarbeit kam, trotz unserer geschicktesten Ausreden. Außerdem warteten wir immer bis zum letzten Augenblick, um unsere Arbeiten zu machen. Wenn wir ein Buch zu Ende lesen wollten, wenn wir in eine Träumerei versunken waren, dann war die Arbeit vergessen: neue Quelle für Strafarbeiten! Wie oft wurde nicht die Übersetzung erst in der Zeit niedergeschrieben, in der der Primus die Arbeiten zu Beginn der Stunde einsammelte, wobei er sie von jedem einforderte! – Zu den seelischen Schwierigkeiten, die Lambert überwinden mußte, um sich in die Anstalt einzugewöhnen, gesellte sich noch eine nicht weniger schwere Lehrzeit, durch die wir alle hindurchzugehen hatten: die körperlichen Schmerzen, die für uns unendlich verschiedene waren. Bei Kindern verlangt die Zartheit der Haut überaus genaue Sorgfalt, besonders im Winter, wo wir Schüler – aus tausend Gründen – dauernd aus der eisigen Kälte eines schmutzigen Hofes in die heiße Temperatur der Klassenzimmer kamen. Und so wurden wir aus Mangel an mütterlicher Sorgfalt, die den Kleinen und Kleinsten fehlte, von schmerzhaften Frostbeulen und tiefen Rissen in der Haut so heimgesucht, daß diese Schmerzen ein besonderes Verbinden während der Frühstückszeit erforderten, was aber wegen der großen Zahl von wehen Händen, Füßen und Fersen nur sehr unvollkommen gemacht wurde. Viele Kinder waren zudem gezwungen, die Schmerzen dem Heilmittel vorzuziehen: hatten sie nicht oft zwischen ihren Arbeiten, die noch fertig zu machen waren, zwischen den Freuden der Schlitterbahn und dem Abnehmen eines Verbandes zu wählen, der unachtsam angelegt und noch unachtsamer getragen wurde? Zudem war es in der Anstalt Mode geworden, daß man die armen Geschöpfe, die zum Verbinden gingen,

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