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Zungenreden bestätigten ihm seine Lehre. Ich entsinne mich bei dieser Gelegenheit von ihm gehört zu haben, daß die schönste Arbeit heute die wäre, die Geschichte der ersten Kirche zu schreiben. Nie erhob er sich zu so dichterischer Höhe als in dem Augenblick, da er in einer abendlichen Unterhaltung von den Wundern sprach, die durch die Macht des Willens in jener großen Epoche des Glaubens vollbracht worden waren. Er fand die stärksten Beweise seiner Theorie bei fast allen Martyrien, die in dem ersten Jahrhundert n. Chr. – der großen Ära des Gedankens, wie er es benannte – erduldet worden waren. »Beweisen nicht die Phänomene, die bei den meisten Qualen, die von den Christen für die Aufrechterhaltung ihres Glaubens so heldenhaft ausgehalten wurden, daß die materiellen Kräfte nie gegen die Kraft der Ideen oder gegen den Willen des Menschen aufkommen können?« sagte er. »Ein jeder kann aus dieser Wirkung durch den Willen aller auf die Wirkung seines eigenen Willens schließen.«

      An dieser Stelle glaube ich nicht von seinen Ideen über die Poesie und über die Geschichte reden zu sollen, noch über seine Urteile über die Hauptwerke unserer Sprache. Es wäre nicht besonders interessant, wollte ich hier Meinungen aufzeichnen, die heute fast gang und gäbe geworden sind, die aber damals und in dem Munde eines Kindes als etwas Außergewöhnliches erscheinen mußten. Louis war eben allem gewachsen. Um in zwei Worten seine Fähigkeiten zu schildern: er hätte Zadig ebenso geistvoll schreiben können wie Voltaire; er hätte den Dialog zwischen Sulla und Eukrates ebenso tief durchdacht wie Montesquieu. Die strenge Lauterkeit seiner Ideen verlangte von jedem Werk eine gewisse Nützlichkeit, wie sein feiner Geist vom Gedanken eine gewisse Neuheit der Form forderte. Alles, was diese Bedingungen nicht erfüllte, verursachte ihm einen tiefen Abscheu. Eine seiner bedeutsamsten literarischen Äußerungen, die gleichzeitig den Sinn aller anderen und die Schärfe seines Urteils verstehen läßt, ist diejenige, die mir in der Erinnerung geblieben ist: »Die Apokalypse ist eine geschriebene Ekstase.« Er sah die Bibel als einen Teil der überlieferten Geschichte der antediluvianischen Völker an, in die sich die neue Menschheit geteilt hatte. Nach seiner Auffassung hing die griechische Mythologie sowohl mit der hebräischen Bibel zusammen wie auch mit den heiligen Büchern Indiens, welche die von Anmut beseelten Griechen auf ihre Weise übersetzt hatten.

      »Es ist unmöglich«, sagte er, »die Priorität der asiatischen Schriften in Zweifel zu ziehen. Wer diese historische Tatsache mit gutem Glauben erkennen kann, für den erweitert sich die Welt auf wunderbare Weise. Haben sich nicht auf die asiatische Hochebene die wenigen Menschen geflüchtet, die jene Katastrophe überleben konnten, die unsere Erde durchmachen mußte, wenn Menschen vor dieser Umwälzung überhaupt gelebt haben? Eine ernste Frage, deren Lösung auf dem Grunde des Meeres geschrieben steht. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen, wie sie in der Bibel steht, ist also nur die Genealogie eines Schwarmes, der aus dem Menschheits-Bienenstock herauskam und sich an die bergigen Abhänge Tibets hing zwischen die Gipfel des Himalaya und des Kaukasus. Der Charakter jener Horde, das sein Gesetzgeber das auserwählte Volk nannte, – zweifellos um ihm dadurch eine Einheit zu geben und vielleicht auch, um es zu veranlassen, seine eigenen Gesetze und sein Regierungssystem beizubehalten, denn die Bücher Mose sind religiöse, politische, bürgerliche Gesetzbücher, – dieser Charakter also trägt den Stempel des Schreckens. Die Zuckungen des Erdballs wurden von gewaltigen Geistern als eine Rache von oben ausgelegt. Da es keine jener Freuden kannte, die ein Volk genießt, das auf patriarchalischem Boden seßhaft ist, hat das Ungemach diesem wandernden Stamm nur düstere, gewaltige und blutige Dichtungen diktiert. Den Hindus dagegen hat der Anblick des schnellen Wiederaufblühens der Erde, der wunderbaren Wirkungen der Sonne, deren erste Zeugen sie waren, die lachende Auffassung von glücklicher Liebe, den Kult des Feuers, die unendlichen Verkörperungen der Wiedergeburt eingegeben. Diese wundervollen Bilder fehlen dem Werk der Hebräer. Ein dauerndes Bedürfnis nach Erhaltung auf den gefahrvollen Wanderschaften durch die Länder bis zu einem endlichen Ruhepunkt erzeugte das exklusive Gefühl dieses Volkes und seinen Haß gegen die andern Völker. Diese drei Schriften sind die Archive der untergegangenen Welt. Dort liegt das Geheimnis der unerhörten Größe dieser Sprachen und ihrer Mythen. Eine große Geschichte der Menschheit ruht unter diesen Namen von Menschen und Orten begraben, unter diesen Dichtungen, die uns unwiderstehlich anziehen, ohne daß wir wissen warum. Vielleicht atmen wir hier die Heimatlust unserer neuen Menschheit.«

      Für Lambert enthielt also diese dreifache Literatur alle Gedanken des Menschen. »Es ist«, wie er sagt, »kein Buch entstanden, dessen Gegenstand nicht im Keim dort zu finden wäre.« Diese Ansicht zeigt, wie klug und tief seine ersten Studien über die Bibel waren und bis wohin sie führten. Da er immer über der Gesellschaft schwebte, die er nur aus Büchern kannte, beurteilte er sie kalt. »Die Gesetze«, sagte er, »hemmen nie die Unternehmungen der Großen und Reichen, sondern treffen immer nur die Kleinen, die doch viel eher des Schutzes bedürfen.« Seine Güte gestattete ihm also nicht, mit den politischen Ideen zu sympathisieren. Sein System führte jedoch zum passiven Gehorsam, wofür ihm Jesus Christus das Beispiel gab. Während der letzten Zeit meines Aufenthaltes in Vendôme empfand Louis nicht mehr den Reiz des Ruhmes; er hatte den Ruhm gewissermaßen in der Idee genossen. Und nachdem er ihn zerlegt hatte, wie die alten Opferpriester taten, die die Zukunft im Herzen der Menschen suchten, hatte er nichts in den Eingeweiden dieser Chimäre gefunden. Er verachtete daher ein rein persönliches Gefühl. »Der Ruhm«, so sagte er mir, »ist der vergöttlichte Egoismus.«

      Einige Tage vor unserer Trennung sagte mir Lambert: »Abgesehen von den allgemeinen Gesetzen, deren Formulierung vielleicht dereinst mein Ruhm sein wird, und die die Gesetze unseres Organismus sein müssen, besteht das Leben des Menschen aus Bewegung, die sich, in jedem Wesen besonders, nach mir noch unbekannten Einflüssen des Gehirns, des Herzens oder der Nerven abwandelt. Aus diesen drei durch jene abgegriffenen Worte dargestellten Konstitutionen entstammen die unendlich vielen Arten innerhalb der Menschheit, die edle aus den Verhältnissen herrühren, in denen diese drei zeugenden Prinzipien sich mehr oder weniger gut mit den Substanzen verbunden finden, denen sie sich in dem Milieu, in dem sie leben, angleichen.« Er hielt inne, schlug sich gegen die Stirn und sagte zu mir: »Eine merkwürdige Tatsache! Allen großen Menschen, deren Porträts meine Aufmerksamkeit aus sich lenkten, haben einen kurzen Hals. Vielleicht will die Natur, daß bei ihnen das Herz dem Gehirn näher ist.« Dann fuhr er fort: »Daher stammt eine gewisse Gesamtheit von Handlungen, die die Gesellschaft ausmacht. Dem Nervenmenschen ist die Tat oder die Kraft eigen, dem Gehirnmenschen das Genie, dem Herzmenschen der Glaube. Aber«, fügte er traurig hinzu, »zum Glauben gehören die Wolkenhüllen des Heiligtums, nur der Engel besitzt die Klarheit.« Nach seiner eigenen Definition war Lambert ganz Herz und ganz Gehirn.

      Für mich teilt sich das Leben seines Geistes in drei Phasen. Von Kindheit an war er einem Tätigkeitsdrang unterworfen, der zweifellos auf irgend einer Krankhaftigkeit oder aber auf einer Vollkommenheit seiner Organe beruhte. Von Kindheit an zehrten sich seine Kräfte durch das Spiel seiner inneren Sinne oder durch eine übermäßige Produktion nervösen Fluidums auf. Als Ideenmensch mußte er dem Verlangen seines Gehirns nachgeben, das sich alle Ideen zu eigen machen wollte. Daher seine Lektüre. Und aus seiner Lektüre stammten seine Reflexionen, die ihm die Gabe verliehen, die Dinge auf ihren einfachsten Ausdruck zu reduzieren, sie in sich selbst aufzunehmen, um sie in ihrer Wesensart zu studieren. Der Ertrag dieser wunderbaren Epoche, die bei andern Menschen erst nach langem Studium eintritt, entfiel bei Lambert in seine körperliche Kindheit. Glückliche Kindheit, die erfüllt war von der beseligenden Arbeit des Dichters. Der Endpunkt, zu dem die meisten Gehirne schließlich hingelangen, war für das seine der Ausgangspunkt auf der Suche nach neuen geistigen Welten. Damit hatte er sich, ohne es noch zu wissen, das anspruchsvollste und unersättlichste Leben geschaffen. Mußte er nicht, um zu leben, unablässig Nahrung in den Schlund werfen, den er in sich aufgerissen hatte? War er nicht in Gefahr, wie gewisse Wesen der Erdregionen, zu sterben, nur weil ihm die Nahrung für seinen großen unbefriedigten Hunger fehlte? Hatte in seiner Seele nicht eine Ausschweifung platzgegriffen, und mußte sie nicht wie die Körper, die sich mit Alkohol vollsaugen, einer augenblicklichen Verbrennung zum Opfer fallen? Diese erste Phase des Gehirns habe ich nicht gekannt; erst heute kann ich mir die wunderbaren Früchte und Wirkungen derselben erklären. Damals war Lambert dreizehn Jahre alt.

      Ich hatte dann das Glück, Zeuge der ersten Tage des zweiten Lebensabschnittes zu sein. Lambert verfiel damals – und das rettete ihn vielleicht – in alle Miseren des Schullebens und verausgabte dort den Überfluß seiner Gedanken. Nachdem er von den Dingen

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