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hatte, strebte er, um zu leben, nach anderen geistigen Auswirkungen. Durch die unglückseligen Verhältnisse in der Anstalt und durch die Krisen seines physischen Lebens gebändigt, blieb er nachdenklich, erriet Gefühle, ahnte neue Wissenschaften, wahre Ideenmassen! Da er in seinem Lauf aufgehalten und dazu noch zu schwach war, um die höheren Sphären erschauen zu können, schaute er in sein Inneres. Er offenbarte mir also den Kampf des Gedankens, der auf sich selbst zurückwirkt und der die Geheimnisse seiner eigenen Natur zu ergründen sucht, gleich einem Arzt, der den Fortgang seiner eigenen Krankheit studiert. In diesem Zustand von Kraft und Schwäche, von kindlicher Anmut und übermenschlicher Macht war Louis Lambert das Wesen, das mir die poetischste und wahrste Vorstellung von jenen Geschöpfen gab, die wir »Engel« nennen – mit Ausnahme einer Frau jedoch, deren Züge, Person und Leben ich vor der Welt verheimlichen möchte, um allein das Geheimnis ihres Daseins zu besitzen und um es im Grunde meines Herzens zu verbergen.

      Die dritte Phase sollte mir freilich entgehen. Sie begann damals, als ich von Louis getrennt wurde, der erst mit achtzehn Jahren, gegen Mitte 1815, die Schule verließ. Seine Eltern hatte Louis ungefähr ein halbes Jahr vorher verloren. Da er in der Familie niemanden traf, mit dem seine immer mitteilungsbedürftige, aber seit unserer Trennung immer auf sich selbst angewiesene Seele sympathisieren konnte, flüchtete er zu seinem Onkel, der zu seinem Vormund ernannt und als ein auf die Verfassung vereidigter Geistlicher von seiner Pfarre verjagt worden war und in Blois lebte. Louis blieb einige Zeit bei ihm. Aber bald war er von dem Wunsche erfüllt, seine Studien, die er für unvollkommen ansehen mußte, zu vollenden, und ging nach Paris, um Madame de Staël wiederzusehen und um die Wissenschaft an ihren Quellen zu schöpfen. Der alte Priester, der eine große Liebe für seinen Neffen hegte, hinderte Louis nicht daran, seine Erbschaft während seines dreijährigen Aufenthaltes in Paris, wo er freilich im größten Elend lebte, aufzubrauchen. Diese Erbschaft bestand in einigen tausend Franken. Louis kam zu Anfang des Jahres 1820 nach Blois zurück, aus Paris durch die Miseren vertrieben, denen Leute ohne Vermögen dort ausgesetzt sind. So lange er dort war, mußte er oft das Opfer geheimer Stürme geworden sein, jener fürchterlichen Kämpfe der Gedanken, von denen Künstler stets aufgewühlt werden, wenn man nach der einzigen Begebenheit urteilen darf, an die sein Onkel sich erinnerte, und nach dem einzigen Brief, den der gute Mann von all denen aufbewahrt hat, die Louis Lambert ihm zu jener Zeit geschrieben hatte, und den er vielleicht auch nur aufgehoben hat, weil er der letzte und zugleich der längste von allen gewesen war.

      Hier zunächst die Begebenheit selbst. Louis war eines Tages im Théatre Français und hatte einen Platz auf einer Bank im zweiten Rang neben einem der Pfeiler, zwischen denen sich die Logen des dritten Ranges befinden. Als er in der ersten Pause aufstand, sah er eine junge Dame, die soeben die Nachbarloge betreten hatte. Der Anblick dieses Wesens, das jung und schön war, gut gekleidet, vielleicht sogar tief dekolletiert und von einem Verehrer begleitet, für den ihr Gesicht sich mit allen Reizen der Liebe belebte, übte auf Lamberts Seele und Sinne eine so grausame Wirkung aus, daß er den Raum verlassen mußte. Wenn er nicht noch einem letzten Strahl von Vernunft, der im ersten Augenblick dieser brennenden Leidenschaft noch nicht ganz verlöscht war, nachgegeben hätte, dann wäre er vielleicht dem fast unbezwinglichen Verlangen verfallen und hätte den jungen Mann getötet, auf den sich der Blick dieser Frau richtete. War das nicht inmitten unserer Pariser Gesellschaft wie das Aufblitzen der Liebe eines Wilden, der sich auf das Weib wirft wie auf seine Beute, die Wirkung eines tierischen Instinktes, vereint mit dem jähen Aufstrahlen einer von Gedanken erdrückten Seele? War dies nicht endlich der eingebildete Messerstich, den das Kind einst gespürt hatte und der beim Manne blitzartig zum gewaltigsten Begehren wurde, zur Liebe?

      Und hier nun der Brief, in welchem er den Zustand seiner von dem Schauspiel der Pariser Zivilisation ergriffenen Seele schildert. Sein Herz, das in diesem Schlund von Egoismus gewiß dauernd gequält wurde, mußte immer leiden; er traf wohl weder Freunde, die ihn trösten, noch Feinde, an denen er sich reiben konnte. Da er gezwungen war, unablässig nur in sich selbst zu leben, und er mit niemanden seine edlen Freuden teilen konnte, wollte er vielleicht das Werk seines Schicksals durch die Ekstase vollenden und unter einer fast pflanzenhaften Form lehen, wie ein Anachoret der ersten Zeit der Kirche, indem er auf diese Weise der Herrschaft des Geistes entsagte. Der Brief scheint diesen Plan anzudeuten, wie ihn große Seelen zu allen Zeiten gesellschaftlicher Erneuerung gefaßt haben. Aber ist solch ein Entschluß nicht wie eine Berufung? Suchen sie nicht ihre Kräfte in einer langen Stille zu konzentrieren, um dann danach fähig sein zu können, die Welt zu regieren, sei es durch das Wort, sei es durch die Tat? Gewiß, Louis hat wohl viel Bitterkeit unter den Menschen erfahren, hat wohl die Gesellschaft – welch furchtbare Ironie! – ausgepreßt, ohne je etwas aus ihr herausbekommen zu haben, daß er einen so gewaltigen Aufschrei hören ließ, daß in ihm, arm wie er war, eine Begierde aufsteigen konnte, die nur gewisse Herrscher, welche der Macht und aller Dinge müde sind, befriedigen können. Vielleicht hatte er auch in seiner Einsamkeit irgend ein großes Werk vollendet, das noch formlos in seinem Hirn kreiste? Wer möchte das nicht gern glauben, wenn er dieses Fragment seiner Gedanken liest, in dem sich die Kämpfe seiner Seele verraten zu einer Zeit, da die Jugend bei ihm aufhörte und die fruchtbare Fähigkeit zu schaffen in ihm aufzugehen begann, der man dann später die Werke des Mannes verdankt hätte? Dieser Brief steht in Beziehung zu dem Erlebnis im Theater. Die tatsächlichen Vorgänge und das Schriftstück erhellen sich gegenseitig, Seele und Körper waren auf den gleichen Ton abgestimmt. Dieser Sturm von Zweifel und Gewißheit, von Wolken und Helle, der sich oft in Blitzen entlädt und der mit einer leidenschaftlichen Sehnsucht zum himmlischen Licht endete, wirft auf die dritte Epoche seiner geistigen Entwicklung genug Helligkeit, um sie als Ganzes zu verstehen. Wenn man diese Seiten liest, die nur so hingeworfen wurden und ganz den Launen des Pariser Lebens entsprungen waren, dann denkt man unwillkürlich an eine Eiche zu der Zeit ihres inneren Wachstums: die schöne grüne Rinde platzt, bedeckt sich mit Rissen und Spalten und bereitet ihre majestätische Form vor, wenn der Blitzstrahl des Himmels oder die Axt des Menschen sie verschont.

      Mit diesem Brief endigt also für den Denker und Dichter die gewaltige Kindheit und unverstandene Jugend. Hier endigt der Umriß dieses geistigen Keimes! Philosophen werden es bedauern, daß die Blüten noch in der Knospe vom Frost getroffen wurden, aber einst werden sie die entfalteten Blumen in jenen Regionen wiedersehen, die höher liegen als die höchsten Orte der Erde.

Paris, September-November 1819

      Lieber Onkel, ich werde dieses Land, in dem ich nicht leben kann, bald verlassen. Hier ist kein Mensch, der das liebt, was ich liebe, der sich mit dem beschäftigt, was mich beschäftigt, der sich über das verwundert, was mich in Erstaunen setzt. Da ich mich ganz in mich zurückziehen muß, hin ich wie ausgehöhlt und leide. Das lange und beharrliche Studium, dem ich die hiesige Gesellschaft unterzogen habe, hat zu traurigen Schlüssen geführt, in denen der Zweifel vorherrscht. Hier ist das Geld Ausgangspunkt für alles. Man braucht Geld, sogar um Geld entbehren zu können. Aber wenn dieses Metall auch für denjenigen notwendig ist, der ruhig denken will, so habe ich doch nicht den Mut, es zu der einzigen treibenden Kraft meiner Gedanken zu machen. Um ein Vermögen anzuhäufen, muß man einen Stand wählen, muß man, mit andern Worten, durch irgend ein Vorrecht von Stellung oder Kundschaft, durch ein gesetzliches oder geschickt erworbenes Privileg das Recht kaufen, jeden Tag aus dem Geldbeutel des andern eine kleine Summe zu entnehmen, die in einigen Jahren zu einem kleinen Kapital anwächst, das in zwanzig Jahren kaum vier- bis fünftausend Franken Rente abwirft, wenn ein Mensch ehrlich dabei verfährt. In fünfzehn bis sechzehn Jahren nach angespannter Arbeitszeit haben Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, kurz, alle Berufsmenschen, sich für ihre alten Tage ihr Brot verdient. Ich fühle mich zu all diesem nicht geschaffen. Ich ziehe das Denken dem Tun vor, eine Idee einem Geschäft, die Betrachtung der Bewegung. Mir fehlt vor allem die unablässige und notwendige Aufmerksamkeit dessen, der sich ein Vermögen schaffen will. Jedes kaufmännische Unternehmen, jede Notwendigkeit, dem andern Geld abzufordern, würde bei mir schlecht ablaufen, und ich wäre bald ruiniert. Wenn ich auch nichts besitze, so schulde ich in diesem Augenblick auch nichts. Derjenige, der lebt, um im Reiche des Geistes Großes zu vollbringen, braucht materiell wenig; aber wenn mir auch zwanzig Sous pro Tag genügen würden, so besitze ich nicht einmal die Rente für diese arbeitsreiche Muße. Wenn ich nachdenken will, so jagt mich die Not aus dem Heiligtum heraus, in welchem sich mein Gedanke regt. Was soll aus mir werden? Das Elend erschreckt mich nicht. Wenn man die Bettler nicht einsperrte, beschimpfte und verachtete,

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