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die dem Ruf des Großen Lakolar folgen.“

      „Nicht unbedingt. Ich war beim Orthopäden und hab’ mir das Phänomen erklären lassen.“

      „Ja, natürlich! Sie gehen alle zum Orthopäden und fragen, wie es kommt, dass sie plötzlich mit den Händen an der Zimmerdecke entlang tasten können. Das ist die verminderte Schwerkraft im Orbitarium. Ihr geht alle dorthin, wenn das Längenwachstum noch nicht abgeschlossen ist und dann spielen die Drüsen verrückt und geben noch mal einen Impuls für das Längenwachstum heraus. Genau das ist es. Da machst du nichts dran. Und wenn du was dran machst, bist du immer der Kleine vom Dienst. Also, mach’ dir nichts vor!“

      „Ma, du bist unbarmherzig!“

      Clarissa blieb stehen. „Ist es wegen dieser Begegnung?“, fragte sie plötzlich.

      Rotam war auch stehen geblieben. Der Trainer protestierte mit Pfeiftönen, aber weder Clarissa noch Rotam störten sich daran. „Ja, es ist deswegen“, sagte Rotam.

      „Aber du hast sie nur sekundenlang gesehen. Du weißt überhaupt nicht, wo sie herkommt, wo sie jetzt ist!“

      „Ich habe ihre Welt gesehen. Ich habe gesehen, dass sie hier nicht bleiben kann. Sie muss weg von Artesa. Zurück in ihre Heimat. Auch wenn sie momentan in Sicherheit ist.“

      „Siehst du, Rotam, sie ist in Sicherheit. Erfahrene und geprüfte Wissenschaftler, die wissen, was sie tun, die werden sich mit ihr befassen und das Problem regeln. Deswegen musst du nicht dein Leben umschmeißen.“

      „Genau das ist der Haken an der Sache. Erstens befindet sie sich nicht in der Obhut von irgendwem, sondern ist auf der Flucht, zweitens bezweifle ich, dass die Leute, die sich mit ihr befassen, wissen was sie tun, und drittens halte ich es für ein Verbrechen, von fremden Planeten höhere Lebewesen zu entführen, nur um ihre Widerstandskraft auszuforschen. Es geht bei diesen Experimenten um nichts weniger als die Vorbereitung von Landnahme.“

      „Rotam, ich kenne dich nicht wieder!“

      „Ich mich auch nicht, Ma. Es ist, als hätte ich eine rosa Brille abgestreift.

      Pause!“, fauchte er den Trainer an, der reagierte sofort und stellte seinen Pfeifton ab.

      „Weißt du, Ma, ich sehe plötzlich Dinge, die waren mir früher egal. Warum sind die Blätter an den Ranken alle gleich geformt. Alle gleich gezahnt.“

      „Weil das eine optimale Form für ihre Funktion ist.“

      „Wer legt das fest? Wer legt fest, dass Blätter nicht auch herzförmig, gelappt oder nadelförmig sein dürfen. Wer legt fest, dass niemand den Glasweg verlassen darf?“

      „Deine Erkenntnis in alle Ehren, mein Sohn, aber dafür habe ich dich nicht in die Welt getragen, dass du irgendwann in einer einsamen Galaxie an Sauerstoffmangel oder Schizophrenie eingehst.“

      „Ich kann es nicht ändern, Ma. Es ist einfach so. Und außerdem bin ich doch nicht gleich aus der Welt. Lass uns weitermachen! Wer weiß, wie oft wir noch dazu Gelegenheit bekommen.“

      „Theater spielen! Du bist schlimmer als dein Vater. Hast du mal ein Taschentuch?“

      „Nein. Leider.“

      „Ach es geht schon. Die Ärmel machen es auch.“

      „Ich glaube, wir bekommen Besuch. Ma, bitte!“

      Rotam sah seine Mutter schnauben, sie konzentrierte sich nur mühsam auf das Trainingsbild, sie lief eckig, unsauber und nur noch halb so konzentriert wie am Anfang.

      Er hatte gewusst, dass es schlimm werden würde, und er wusste, es war noch nicht ganz vorbei. Sie würde versuchen, einen Berg von Argumenten vor ihm aufzuhäufen, denn sie hatte schon seinen Vater an den Großen Lakolar verloren, nicht draußen, im endlosen Raum, sondern drinnen im Orbit, auf einer Reparaturwerft, als eine große Spiralfeder, ein Gerät von vier Metern Durchmessern, ihren durchrosteten Rahmen gesprengt und die Hälfte seines Vaters durch die Lagerhalle geschleudert hatte, während die andere Hälfte noch eine ganze Minute fassungslos in ihren Schuhen stand, und dann zusammenfiel wie ein loser Stoffsack voller Tennisbälle. Rotam war drei Jahre alt gewesen und erst in der allerletzten Zeit hatte er sich darüber Gedanken gemacht, wie seine Mutter es geschafft hatte, die folgenden drei Jahre bis zur Einschulung ihres Kindes zu überbrücken, ohne von diesem Unglück ins Niemandsland geschleudert zu werden. Aber er konnte es nicht ändern. Es war sein Leben. Dieses Leben hatte zum ersten Mal einen klaren Sinn. Ein Licht bekommen. Ein Neuanfang war möglich. Wenn er ihn jetzt verpasste, dann wäre der Rest dieses Lebens nur noch Pfusch.

      Wie gut, dass die Halle so groß war. Vorn ging jetzt die Tür auf, seine Mutter sah auf. „Das sind Quodon und Sell“, sagte sie. „Ich mag den Kerl nicht.“

      „Ma, bitte, das sind Vorurteile!“

      Clarissa schwang ihre kleine Faust zornig gegen Rotam, dann fügte sie sich wieder in den Trainingslauf ein.

      Quodon und Sell schlenderten barfuß quer durch die Halle, vorbei an der Ecke, in der die Fremde gestanden hatte. An deren Namen würde Rotam sich irgendwann auch erinnern, wenn er nur zu dieser tiefen Ruhe finden würde, die er manchmal im Taisieh erfuhr. In dieser Ruhe kamen die Bilder hoch, die er empfangen hatte, als Dank dafür, dass er ihr seine Sprache und seine Mathematik und seinen guten Glauben an die Weisheit des Großen Lakolar überlassen hatte. Unter diesem Schutz hatte Rotam sich bisher immer geborgen gefühlt, und es war ihm ein Bedürfnis gewesen, diesen Schutz auch an die Besucherin zu vermitteln.

      Aber seit er selbst diese Bilder von der anderen Welt empfangen hatte, war ihm, als wäre seine eigene nur noch rosa-hellblau, und eine andere, eine richtige Welt wäre wegen ihrer Ecken, Kanten, Spitzen, Schlangen, Wölfen und hungrigen Räubern einfach wegrasiert worden.

      In der Welt der Fremden gab es licht- und musikdurchflutete Räume, zarte Männer und Frauen, die Dinge aßen, von denen Rotam nicht einmal wusste, ob sie überhaupt essbar waren. Dann wieder ein wildes Meer, sturmaufgewühlt, Wolken, die hoch unter Spannung standen, sich planlos mit Blitzen, Donner und unglaublichen Wassermassen entluden, Gewitter hieß das Wort dazu, und Rotam konnte sich nicht vorstellen, wie man so planlos und entspannt in den Tag hinein leben konnte, wenn man nirgendwo sicher war vor einer Erscheinung, die Gewitter hieß.

      „Jetzt bist du es aber, der aus dem Rhythmus gekommen ist“, sagte Clarissa Vargun, und sie zeigte auf das Blinken der Trainingskontrolle.

      „Hallo Rotam, Hallo Ma Vargun!”, zwitscherte Sell.

      „Hallo, was treibt euch hierher?“

      „Schön könnt ihr das. Darf ich mitmachen?“

      „Natürlich darfst du das, Sell. Du solltest auch. Schließlich ist es deine Stunde, hat mir Rotam gesagt, die wir hier missbrauchen.“

      Sell blieb stehen. „Ich krieg’ das nie so gut hin wie ihr. Ich blamiere mich höchstens. Ich hab’ was viel Besseres gefunden, stimmt das, Quodon?“

      „So! Und da willst du jetzt wohl dein Samstagsabendsporthallenabo ganz abmelden?“

      „Vielleicht. Ich muss erst mit meinen Eltern da drüber reden.“

      „Das solltest du tun. Das Abo ist nämlich nicht ganz billig. Was hast du denn gefunden, dass es so ein Abo aufwiegt?“

      „Darf ich es sagen, Quodon?“

      „Besser nicht“, gab Quodon brummig zurück.

      „Aber du hast selber gesagt, dass es null Bedeutung hat. Ich bin seit letzter Dekade Mitglied bei den Jüngern des Neuen Hauses.“

      „Du, Sell!“, Clarissa horchte auf.

      „Warum nicht! Ich habe eine ellenlange Nummer bekommen, mit der soll ich mich ausweisen. Und ich musste meine Hand blau malen und auf Papier drücken! Ist das nicht niedlich!“

      „Und wer hat dich auf die Idee gebracht, bei den Jüngern des Neuen

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