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nicht anfassen lassen.

      „Schauen Sie“, sagte er, „das Markthaus hat seine eigenen Gesetze. Schon seit Jahren. Eines davon ist unsere Unabhängigkeit. Wenn Straftäter sich im Markthaus verstecken wollen, dann finden wir sie. Lassen Sie mir eine Stunde Zeit, ich suche ihr Problemkind und bringe es ihnen.“

      „Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben!“

      „Sie können mir ja freundlicherweise Ihren Scanner zur Verfügung stellen. Wir sehen uns dann am Lerasischen Tor. Wenn ich nicht da bin, können Sie sofort Ihren Räumversuch starten.“

      Der Spinnenmann nickte kurz, und seine Begleiterin gab den Scanner heraus. Sie hatten kaum den Raum verlassen, da brach hektischer Betrieb aus.

      „Informiert die Tabakhändler!“, zischte Wass Mato, „und die Leute vom Suchdienst. Und wer euch sonst noch einfällt. Mit dem Objekt der Begierde befasse ich mich persönlich. Wir machen es so, wie wir es schon immer gemacht haben.“

      Er warf sich eine bunte Flickenjacke um, steckte den Scanner ein, den er vorher abgeschaltet hatte, und jagte den Lift nach unten. Er betrat das Gewimmel durch eine Geheimtür an der Primesorischen Seite, er drängelte durch die Massen, fast brutal schnell; die, die ihn kannte, rückten fluchtartig zur Seite und Wass Mato wusste genau, wo er hingehen musste, dort, wo noch keine Kreise gebildet worden waren, dorthin, wo sich trotzdem die Massen drängten, und er brauchte keinen Scanner, um einen Fremden oder eine Fremde aus der Masse herauszufiltern, dazu machte er diesen Job einfach zu lange.

      Als er sie dann doch sah, blieb ihm erst einmal kurz die Luft weg. Er schüttelte sich, atmete tief durch, blickte zum Hallendach und dann in die Artesianermassen, die durch die Halle fluteten.

      Sie sah aus wie ein großes Kind, das mit seinem Kostüm aus irgendeinem dieser Fernsehfilme entsprungen war und ein lebendiges Gesicht bekommen hatte. Sie war zierlich, ein ungeordneter Schwall von hellen Haaren flutete über ihre Schultern, ihre dunklen, fast schwarzen Augen hielt sie bedeckt, sie wirkte, als hätte sie ein krankhaftes Rauschen in den Ohren, und träumte mehr, als dass sie wirklich ihre Umgebung wahr nahm. Mato sah sie im Strom der Leute mitschwimmen, der sich auf das Thraxonische Tor zu bewegte, dann, kurz vor dem Tor nach draußen sah sie kurz auf, ging vier Schritte zur Seite und schwamm jetzt in dem Strom, der vom Tor kommend in die Halle hineinflutete. Ihre Augen waren überall und nirgends, und wieder dachte Wass Mato an den Scanner, er widerstand der Versuchung, ihn einzuschalten und er betete inständig, dass sie wenigstens ein paar Worte artesianisch verstand. Er ließ sie ein zweites Mal an sich vorbeischwimmen, sah ihr nach und atmete noch mal tief durch. Das, was jetzt kam, war schon hundert Mal erfolgreich inszeniert. Warum sollte es jetzt nicht wieder funktionieren.

      „Nobis!“, rief er in die Massen herein. „Nobis!“

      Hundert Augenpaare warfen sich auf Wass Mato. Nur ihre nicht.

      „Nobis!“, sagte er noch mal und ging durch die Leute hindurch. Er berührte sie mehr flüchtig an der Schulter und plötzlich war ihm, als hätte er einen offenen Energiefluss gegriffen. Er blieb fast eine Sekunde daran kleben, bevor der Fluss versiegte. Er schüttelte sich, fasste sich aber wieder und sagte leise:

      „Nobis!“

      Der Stoff ihres Kleides war rau, eine Kante unregelmäßig gestickter Blumen umrahmte Halsausschnitt und Ärmelsäume. Sie war stehen geblieben, und während die Thraxoner, die in die Halle wollten, weitergingen, drehte sie sich um. Wass Mato spürte schon wieder das Gemisch aus Enttäuschung, Angst und schlechtem Gewissen heraufsteigen, das ihn jedes Mal bei diesen Inszenierungen befiel, und das er noch nie ernsthaft bekämpft hatte, denn alleine diese ehrliche Enttäuschung und der bunte abgerissene Mantel schützten ihn vor der Reaktion seiner Opfer.

      „Entschuldigung“, sagte er.

      „Wofür entschuldigt Ihr Euch?“ Ein Blick aus diesen dunkel glühenden Augen traf Mato. Dem Himmel sei Dank, dachte er, sie versteht wenigstens, was ich sage.

      „Ich suche meine Tochter.“

      „Ich bin nicht Eure Tochter!“ Eine Stimme wie aus Samt. Als hätte man den Nachthimmel in Schall umgewandelt und einen Hauch Morgenrot dazu gegeben. Mato hatte den Eindruck, als ob diese Stimme nicht von ihr kam, sondern tief aus seinem eigenen Hinterkopf. Die Worte waren von ihr.

      „Nein, bist du nicht“, stammelte er. „Du sahst nur so aus, von hinten. Und du gingst so durch die Halle, wie jemand, der etwas sucht.“

      Sie schüttelte mit dem Kopf.

      „Weißt du, sie hat genauso lange helle Haare. Sie ist jetzt fünfzehn. Sie könnte so groß sein wie du.“

      „Deine Tochter? Du hast eine Tochter. Und sie heißt Nobis? Du hast sie gewiss sehr lange nicht mehr gesehen!“

      Sie redet, als käme sie von einem anderen Stern. Sie weiß nicht, was hier gespielt wird, dachte Mato.

      „Seit zehn Jahren. Ich bin ein Niemand. Wer einmal ein Niemand ist, muss seine Kinder fortlassen, wenn er möchte, dass sie was Richtiges lernen und sich später selbst ernähren können.“

      „Und du glaubst, ich könnte ein Kind sein, das früher Nobis genannt wurde?“

      „Geh ein wenig mit mir! Wenn wir weiter hier stehen bleiben, dann rennt uns noch jemand um.“

      Es funktionierte. Es funktionierte, so wie es immer funktioniert hatte, wenn Wass Mato entlaufene Niemandskinder stellen musste, die hier an der Schnittstelle zwischen den Zivilisationen zurück zu ihren Eltern wollten, die manchmal eine dekadenlange Fluchtkarriere hinter sich hatten, Waffen oder Gift bei sich trugen und mit den Nerven am Ende waren.

      „Weißt du, Nobis war schon als kleines Kind irgendwie besser als alle anderen. Sie konnte mit vier das Taston spielen. So kleine Lieder, die man hier nicht hört. Du kannst nicht etwa ein Instrument spielen?“

      „Nein.“

      „Schade. Weißt du, in diesem Haus sind ständig Leute unterwegs, die sich gegenseitig suchen. Manche finden sich auch. Ist das nicht schön? Aber die meisten Niemandskinder wachsen in den Internaten in Thraxon, Primesora oder Lerasia auf, und im Flimmer der großen schönen Welt vergessen sie ihre Herkunft und werden erfolgreich. Oder heiraten und bringen neue Kinder in die Welt, die nie erfahren, dass ihre Ursprünge hier sind. Wie redet man dich jetzt an?“

      Sie schüttelte mit dem Kopf.

      „Und was willst du jetzt machen?“

      „Ich suche einen Platz.“

      „Aber nicht hier, in diesem Markthaus?“

      „Nein. Das Haus ist gut für die Artesianer, aber für mich ist es nicht groß genug. In diesem Haus gehen viele Leute herum, die etwas tun, was ihnen Spaß macht, und es gibt auch solche, die sind für andere da. Sie freuen sich an den hellen Gesichtern der anderen. Aber seit einiger Zeit kommen immer wieder welche auf mich zu, die etwas Böses, Gefährliches und Giftiges suchen, das muss hier irgendwo in der Nähe sein, und ich gehe weg, um eine Stunde später wieder von den gleichen Wellen aus Wut und Zorn und Angst eingekreist zu werden.“

      Diese Idioten, dachte Wass Mato, hoffentlich halten sie sich an die Absprache und bleiben am Lerasischen Tor.

      „Und was denkst du von mir?“, fragte er sie.

      Sie blieb stehen.

      „Du suchst dein Kind, Wass Mato. Es ist kein Mädchen, sondern ein Junge. Er heißt Sameon und du suchst ihn seit 25 Jahren. Jedes Mal, wenn du ein Niemandskind aufgreifst, glaubst du, es ist Sameon. Er ist es nie gewesen, und du bist verbittert und wütend, weil so viele andere sich finden, nur du findest nichts, du, der dieses Haus gebaut hat.“

      „Du liest Gedanken, kleines Mädchen!“

      „Ja, ich lese Gedanken. Aber ich verstehe nicht, warum ich deshalb böse, gefährlich und giftig sein soll!“

      Wass Mato begann zu zittern. Wie wenig Zeit ist doch eine Stunde. Sie redeten jetzt miteinander. Sie

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