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virtuellen Gewalt (wird) grausame Realität.«33

      Die monokausale Sicht Spitzers wurde allerdings schon bald durch Untersuchungen infrage gestellt, welche jugendliche Gewalt als mehrfaktoriell verursachtes Phänomen beschreiben.34 Zu diesen Faktoren gehören beispielsweise geschädigtes Selbstwertgefühl, niedrige Beliebtheit, verletzende häusliche und schulische Realerfahrungen, bedrückende soziale Rahmung – und nicht zuletzt mangelnde Geschmacksbildung im Umgang mit Computerspielen im Einstiegsalter von 8 bis 10 bzw. 12 Jahren. Von Salisch belegt, dass man Gewalt nicht nur als Wirkung von Gewaltspielen, sondern genau umgekehrt die Wahl von Gewaltspielen als Ausdruck personverankerter Aggressionsbereitschaft verstehen kann. Der Zusammenhang zwischen Internetgebrauch bzw. Ego-Shooter-Spielen und Gewalttätigkeit ist durchaus vorhanden, aber gewalthaltige Spiele sind nicht die einzige Ursache. Insbesondere jugendliche Schulamoktaten werden derzeit als Zusammenwirken diverser »Risikofaktoren« erklärt: Sozioökonomischer Hintergrund, Missbrauch, Mobbingerfahrungen, defiziente Schulbiografie, gewalthaltiges Erziehungsumfeld, spezielle Peer-Beziehungen, intensiver Konsum gewalthaltiger Spiele usw. bis zu neuronalen Defiziten im Sinne fehlender Risikobewertung, Verhaltenskontrolle und Impulshemmung … können bei Gewalthandlungen wirksam sein. Überdies können im »Wirklichkeitstransfer« von der virtuellen in die reale Welt und umgekehrt eingeübte Skripts und Schemata, sowohl Leistungs- als auch Flucht- und Vergeltungsmotive eine Rolle spielen.35

      Einen eigentlichen Paradigmenwechsel im Verständnis der Bedeutung von Internetspielen wird durch neueste Untersuchungen und Sichtweisen gefördert. Differenzierte Befragungen belegen, dass Computer-, Internet- bzw. Online-Spiele nicht die einzige und schon gar nicht die dominierende digitale Nutzung sind: Sowohl die BITCOM-Studie (2011) als auch die JAMES-Studie von 2010 zeigten höchst differenzierte mediale und digitale Portfolios und Nutzungsprofile:

      Nach der JAMES-Studie 2010 umfasst der tägliche oder wöchentlich mehrmalige Medienkonsum beispielsweise folgende Aktivitäten: Handy nutzen (92 %), Internetdienste nutzen (89 %), Fernsehen (81 %), MP3s hören (80 %), Musik-CDs/Kassetten (57 %), Radio hören (56 %), Tageszeitung (Printversion) lesen (48 %), Computer- oder Videogames spielen (36 %), DVDs/Videos schauen (30 %), digitale Fotos machen (28 %), Zeitschrift lesen (26 %), Bücher lesen (26 %), Computer oder Internet nutzen (20 %), Hörspiel hören (16 %), Zeitschrift online lesen (13 %), digitale Videos machen (7 %), Kino besuchen (1 %). Dieser Befund belegt, dass das Computerspiel nur eine unter verschiedenen Aktivitäten ist.36

      Ähnliche Fragestellungen liefern auch im Bereich der Video-Games bemerkenswerte Unterschiede: Täglich oder mehrmals pro Woche spielen Konsolenspiele allein 27 %, Online-Spiele allein 25 %, Konsolenspiele mit andern 18 %, alleine offline am PC 17 %, Multi-User-Spiele mit andern Internetnutzerinnen und -nutzern 20 %, mit andern offline am PC spielen 7 %.37 Als Lieblingsgames werden – nach Häufigkeit der Nennung gewichtet – folgende genannt: Sport-Spiele 19 %, First Person Shooters 17 %, Action-Spiele 17 %, Renn-Spiele 11 %, Casual Games 9 %, Simulationen 7 %, Jump’n’Run/Plattformers 7 %, Echtzeit-Strategie-Spiele 5 %, Rollenspiele 4 %, MMORPG (Massively Multi-Player Online Role Playing Games) 3 %, Adventure-Spiele 2 %.38 Zudem ist festzuhalten, dass das Handy als Hybrid-Medium zunehmend dominiert und zum Musikhören, Filmen, Fotografieren, Surfen im Internet – und eben auch zum Spielen eingesetzt wird.

      Der erwähnte Paradigmenwechsel manifestiert sich weiter in einer qualitativsystematischen, kontextuellen Sicht, wie sie John Palfrey und Urs Gasser in ihrem Grundlagenwerk »Generation Internet« (2008) entfalten. Sie liefern damit die Grundlinien einer digitalen Spieltheorie, die in mancher Hinsicht traditionelle entwicklungs- und spieltheoretische Aspekte (Spiel als Aktivierung, als Austauschprozess zwischen Personen, als Problemlösung und Realitätsbewältigung) aufgreift.39 Internetspiele enthalten durchaus Elemente der traditionellen Funktions-, Symbol-, Fiktions-, Regel-, Konstruktions- und Rollenspiele, erweitern und betonen darüber hinaus den Aktivitäts- und Intensitätsgrad, den Einbezug der Spieleridentität (z. B. über Avatare) und deren erhöhte Selbstwirksamkeit, die Einbindung in digitale (und oft internationale) Spielgemeinschaften, aber auch die Möglichkeit aggressiven Auslebens: Kinder, die hyperrealistische Gewaltszenarien erleben, sind nicht nur Beobachter, »sie werden zu aktiven Teilnehmern in brutalen Fantasiewelten. Das Spiel veranlasst sie, virtuelle Morde zu begehen.«40 Der erhöhte Intensitäts- und Attraktivitätsgrad führt teilweise zu Spielabhängigkeit, zu Spielsucht und Flucht aus der Offline-Welt in Online-Spielwelten, die als »eigentliches Leben« wahrgenommen werden. Dies wird von der »Abwanderung weg von den Fernsehschirmen und Spielkonsolen hin zum Internet« gefördert.41

      Und schliesslich ist ein dritter, didaktischer Aspekt der Spielnutzung zu erwähnen: Digitale Lernspiele können sowohl individualisierend als auch im Partner- oder Gruppenverband zu einem relativ eigenständigen didaktischen Lernmittel werden. Das Angebot von Computerspielen zwischen den Ansprüchen Unterhaltung und Lernen ist kaum mehr überschaubar. Immerhin gibt es seit etwa 10 Jahren eine intensivierte Forschung, die das Bildungspotenzial von Computerspielen, das heisst u. a. Sozialisationswirkungen, Aufbau von Computerspiel-Literalität, Kompetenzerwerb, Lernwirkungen von »Serious Games« und therapeutischen Spielen usw. untersucht.42 Die vielfältige Lernwirkung ist empirisch belegt und ist kaum mehr zu bezweifeln: Computerspielende Kinder lernen nicht bloss, im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu klicken bzw. Auge und Hand zu koordinieren, schnell wahrzunehmen und zu reagieren, sondern auch Form- und Mustererkennung, Regeln, Taktiken, kognitive Strategien, Ausdauer und Konzentration.43

      Computerspiele sind in pädagogischer Sicht allerdings einer »didaktischen Spielanalyse« zu unterwerfen, die den Lehrenden verschiedener Stufen – über allgemeine Empfehlungen hinaus – konkrete Einsatzhinweise liefern: Worin bestehen Spieloberfläche, Spielhandlungen und Handlungsstrukturen? Welche Inhalte bzw. curricularen Bezüge liegen vor? Wie sieht die Steuerung und Kontrolle der emotionalen, kognitiven, motorischen und sozialen Lernprozesse aus? Welche Lernschwierigkeiten sind zu überwinden, wie sehen Rückmeldungen aus, und wie werden sie verarbeitet? Welche inhaltlichen Lernziele sind (in welcher Zeit) zu erreichen? Wie ist ein Computerspiel methodisch in Lehr-Lern-Prozesse (im Sinne der Annäherung, des Erarbeitens und Vertiefens, der Anwendung und Erfolgskontrolle) einzubetten? Antworten auf derartige Fragen sollen aufzeigen, »wie das Lernen in den Spass verpackt ist« und welche sachstrukturellen Zusammenhänge (beispielsweise zwischen Tangram, Pentaminos und Tetris …) bestehen.44

      (3) Führt intensive Internetnutzung zum Verlust von Lesekultur und zur Veränderung jugendlicher Gehirne?

      Das Urteil mancher medienkritischer Journalisten ist so klar wie pointiert: Frank Schirrmacher ist der Ansicht, dass die Lesefähigkeit abnimmt – und mit ihr die Lesegeduld: »Wir alle haben zunehmend Probleme, ein Buch zu lesen.«45 Unter dem Druck digitaler Informationsflut beginnt sich nach Schirrmachers Ansicht das Gehirn umzubauen: Geistige Funktionen, insbesondere die Fähigkeit der Konzentration, der gelenkten und ausdauernden Aufmerksamkeit, des vertieften Lesens und selbstständigen Denkens gingen verloren.46 Das Stirnhirn sei im Online-Modus ununterbrochen auf dem Sprung, neue Reize zu beachten, es stehe unter permanentem Aufmerksamkeits- und Zuwendungsdruck. Ähnliches befürchtet auch der amerikanische Wissenschaftsjournalist Nicolas Carr: Das Internet verändere das Denken und das Gehirn Jugendlicher, und es reduziere die Fähigkeit zu linearem und vertieftem, das heisst sinnverstehendem Lesen. Die »Reizkakofonie des Internets« bewirke, »dass unser Gehirn weder konzentriert noch kreativ denken kann. Unser Gehirn wird zu einer simplen, signalverarbeitenden Einheit, die Informationen möglichst rasch durch unser Bewusstsein schleust.«47

      Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass »vertieftes Lesen« alles andere als bloss »linear« verläuft, nämlich assoziativ, rekursiv, verknüpfend: Die Oberflächenstruktur der Sätze wird mit dem semantischen Gehalt der Textbasis sowie mit bedeutungshaltigen Situationsmodellen und Weltwissen verknüpft – und genau diese Verzögerung bezeichnen wir (mit Maryanne Wolf) als Nachdenklichkeit. Überdies sind verschiedene Lesemodi zu unterscheiden: Orientierendes Lesen und Navigieren in Hypertexten erweitern schulische Lesenormen, betonen digitale Lesegewohnheiten. Die einseitige Orientierung an literarischen Textsorten wird durch das Internet und durch digitale Kommunikationsformen (E-Mail, SMS, Chat, Blog, Twitter, Facebook) erweitert. Dies mag unter anderem dazu geführt haben, dass sich die

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