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vorschulische Primärerfahrungen noch schulisch-systematisches Lernen, und es setzt Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, Aufmerksamkeit und Konzentration usw. voraus: Das Internetlernen beginnt vor dem Internet. Weiterführende Fähigkeiten im Bereich der raschen Signalverarbeitung sowie des Multitaskings scheinen gefördert zu werden.

      Der weit verbreitete, häufige, leichte und vermeintlich unkontrollierte Zugang zum Internet sowie die scheinbar anonyme Nutzung desselben implizieren allerdings ein Gefahrenpotenzial, das teilweise vom Medium, von Produzenten, aber auch von grossen Akteurinnen und Akteuren des Internetangebots und schliesslich von den Nutzerinnen und Nutzern selbst generiert und fast wöchentlich erweitert wird. Als Hauptergebnis der vorliegenden Erschliessung des Gefahrenpotenzials kann Folgendes gelten:

      Im Verlauf seiner digitalen Biografie ist grundsätzlich jedes Kind und jeder Jugendliche den Internetgefahren passiv oder aktiv, wissentlich oder unwissentlich, allein oder in Gruppen, oft geschlechts- und altersspezifisch mit mehr oder weniger gravierender Wirkung und Nachhaltigkeit ausgesetzt. Dabei lässt sich kein gleichförmiges Gefährdungsmuster identifizieren: Die Vielfalt der Negativerscheinungen – von illegalem Musiktausch über Spielsucht, Happy Slapping und Cyberbullying bis zum Pornografiekonsum – ist derart gross, dass Gefährdung und Vulnerabilität (Verletzbarkeit) sowohl phänomen- als auch kohortenspezifisch zu betrachten sind.

      Fokussiert man einzelne Gefahrenfelder, so zeigen sich unterschiedliche Verbreitung, Aktualität und Interventionsdringlichkeit:

      Relativ verbreitet sind illegale Downloads und die illegale Weitergabe von Musiktiteln. Online-Tauschbörsen und neuerdings auch sog. Cyberlocker-Dienste haben die tradierten Geschäftsmodelle der Musik-, Film- und Spielindustrie zum Teil massiv geschädigt und in den Grundfesten erschüttert. Bei Jugendlichen herrscht teilweise Unkenntnis und Ignoranz illegaler Vorgänge und der damit verbundenen Urheberrechtsverletzungen bzw. eine aus Erwachsenensicht teilweise eigenwillige Interpretationsbereitschaft.

      Kinder und Jugendliche empfinden namentlich soziale Netzwerke mehrheitlich als privaten oder bestenfalls halböffentlichen Raum. Vor allem die langfristigen Gefahren beim Eintragen privater Daten und Ereignisse, die zu einem »digitalen Dossier« führen und öffentliche sowie kommerzielle Zugriffsmöglichkeiten schaffen, werden dabei oft unterschätzt.

      Obschon eine monokausale Zuschreibung von »Killer-Spielen« oder »Ego-Shooter-Spielen« zu jugendlichen Gewalthandlungen unzulässig ist, ist die positive Korrelation, das heisst der Zusammenhang zwischen gewalthaltigem Medien- bzw. Fernseh- und Internetkonsum einerseits und erhöhter Aggressionsbereitschaft andererseits, empirisch belegt. Hier wie anderswo ist allerdings ein multikausaler Zusammenhang, der auch soziale Umstände, Erziehungsdefizite, Erniedrigungen usw. einbezieht, zu berücksichtigen.

      Zu den aus Erwachsenensicht wichtigsten Risiken gehören Cyberbullying, sexuelle Belästigung, Online-Bedrohung und Pornografie. Das Spezielle an Kontaktnahmen ist die Leichtigkeit des Zugangs, der anonyme Informationszugriff sowie der weitgehend kontrollfreie Aktionsraum (z. B. in Chaträumen). Pornografie ist der elterlichen und schulischen Kontrolle meist entzogen. Hauptakteure und Adressatinnen sind meistens die Jugendlichen unter sich. Pornografie als wichtiges und fragwürdiges »Aufklärungsmedium« liefert nicht nur einen Beitrag zum sexuellen Identitätsaufbau bzw. zur Identitätsdiffusion, sondern signalisiert auch ein virulentes ethisches Problem. Empirisch gesehen besonders problematisch ist das Cyberbullying, wobei in der Regel online und offline die gleichen Gruppen gefährdet sind und eine Vermengung zwischen Opfern und Täterin oder Täter festzustellen ist. Dabei kommt namentlich dem Cyberbullying zwischen Peers, d. h. zwischen Kindern und Jugendlichen, zentrale Bedeutung zu.

      Mit Hinblick auf Prävention, Aufklärung und Förderung der Medienkompetenz, speziell bezüglich kritischer und qualitativ anspruchsvoller Informationsnutzung, gibt es eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten. Diesbezüglich sind verschiedene Akteure angesprochen: Politiker, Eltern, Lehrkräfte, Gesetzgeber, Akteure der Medienindustrie, Dienstanbieter usw. Das Instrumentarium umfasst technische, rechtliche und (medien-)pädagogische Massnahmen, die – wie in der Abhandlung detailliert gezeigt wird – den epochalen, örtlichen, bildungspolitischen, entwicklungsspezifischen, lehr- und lernkontextuellen Erfordernissen und nicht zuletzt organisatorischen und finanziellen Mitteln anzupassen sind. Der naheliegende Ruf nach Verboten und gesetzlichen Einschränkungen ist im Raum der oft unkontrollierbaren Prozesse im digitalen Geschehen selten angemessen und wirkungsvoll. Hier gelten traditionelle pädagogische Ansichten, die von der Unterstützung des Positiven mehr erwarten als von der Gegenwirkung.

      Das vorliegende Buch basiert auf einer Studie, die im Rahmen eines Umfeldmonitorings zu den Risiken und Gefahren im Internet für Schülerinnen und Schüler der Volksschule zuhanden des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden (Schweiz) an der Forschungsstelle für Informationsrecht (Universität St.Gallen) in Zusammenarbeit mit dem Berkman Center for Internet & Society (Harvard University) erstellt worden ist. An der Studie haben neben den Autoren dieses Buches auch Assistierende mitgewirkt, namentlich Herr Phil Baumann und Frau Aurelia Tamò, denen an dieser Stelle für die Mitarbeit herzlich gedankt sei. Den Direktoren der Forschungsstelle, Herrn Professor Peter Hettich und Herrn Professor Florent Thouvenin, danken wir für die vielgestaltige Unterstützung dieses Vorhabens. Ein besonderer Dank geht ferner an die Projektverantwortlichen des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden, an die Herren Dany Bazzell und Christian Sulser, für die Zusammenarbeit und wertvolle Hinweise.

      Für die Buchpublikation haben wir neuestes Zahlenmaterial sowie aktuellste Erkenntnisse aus der Forschung eingearbeitet (Stand: Januar 2012). Darüber hinaus hat sich Herr Dr. Peter Gasser, Vater des Erstautors, freundlicherweise bereit erklärt, Grundgedanken einer digitalen Didaktik vorzustellen, die das Werk nicht nur abrunden, sondern in wichtiger Weise auch den Blick öffnen für die beeindruckenden Möglichkeiten und Bildungschancen, die das Internet jungen Menschen bietet und die es gemeinsam zu nutzen gilt. Die realistische Einschätzung der Risiken und Herausforderungen soll dazu einen Beitrag leisten.

      Der Herausgeberin und den Herausgebern der vorliegenden Reihe sowie den Mitarbeitenden des hep verlages, insbesondere Herrn Peter Egger sowie Frau Geraldine Blatter, sind wir für die verlegerische Betreuung zu Dank verpflichtet. Ein weiterer Dank geht an den Profilbereich: Unternehmen – Recht, Innovation, Risiko der Rechtswissenschaftlichen Abteilung an der Universität St. Gallen sowie an die dortige Forschungskommission für finanzielle Unterstützung der Drucklegung.

      Cambridge/St.Gallen, 4. Februar 2012

      Urs Gasser

      Sandra Cortesi

      Jan Gerlach

       Einleitung:

      Peter Gasser

      Während manche Tageszeitung davon berichtet, wie in Schulen ein »Handy-Verbot« erfolgreich eingeführt worden ist, um den Pausenplatz als »sozialen Ort« zu retten, wo sich Kinder entspannen, miteinander reden und spielen, anstatt Schlägereien zu filmen und per Handy zu verbreiten, gibt es einzelne Schulen und Schulklassen, die ein »iPhone-Pilotprojekt« starten (www.projektschulegoldau.ch) oder einen ETHZ-betreuten Kurs als »Programmieren mit Logo« für 12-Jährige durchführen.1 Dieser Widerspruch bildet im Kleinen einen Sachverhalt ab, der sich als teilweise pointierte Auseinandersetzung von internetkritischen Journalisten und Buchautorinnen (Nicolas Carr, Frank Schirrmacher, Gary Small, Sascha Adamek, Susanne Gaschke, Paula Bleckmann usw.) mit namhaften Internetforscherinnen und -forschern manifestiert (Nicola Döring, Christian Schertz und Dominik Höch, John Palfrey und Urs Gasser, Ullrich Dittler, Daniel Süss, Beat Döbeli, Werner Hartmann, Gabi Reinmann, danah boyd usw. ). Grob gesehen, kann man den Eindruck erhalten, dass nur eine streng dichotome Sicht auf mediales Echo stösst, obwohl sich Einzelne durchaus um eine nuancierte Betrachtungsweise unter Einbezug von Chancen und Risiken der Mediennutzung bemühen.2 Bei uns Menschen ist wohl neuronal verankert, in einem öffentlichen Diskurs vorerst einmal alles entweder als gut oder böse zu bewerten. Eine differenziertere Sicht bedarf allerdings grösserer mentaler Anstrengung.

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