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Gefährte, er baute für sie Brücken zu bislang unbekannten Welten, auf die Marie gleichsam gewartet hatte.

      Während ihrer Verlobungszeit erkrankte Marie an Typhus. Ihr Liebesglück beschreibt sie in ergreifenden Worten: «Wie war ich doch mitten in aller Krankheit innerlich so leicht und froh; mir träumte dann zuweilen, ich fühle seine liebe weiche Hand auf meiner Stirne, und dann erwachte ich und die Hitze und Unruhe war einem ganz süssen Gefühl gewichen, dass ich wieder ganz ruhig daliegen und im Gedanken an ihn mich freuen und erheitern konnte. Und dann hatte ich immer die lieben Briefe unter dem Kopfkissen, und wenn ich nicht zu schwach war, zog ich sie hervor und las ein paar Worte und hielt sie in der Hand, und dann war mir ganz wohl. Damals war ich noch ein rechtes Kind und sonnte mich in seiner Liebe.»3

      In der Familie weckte Fritz’ Einfluss offenbar Misstrauen. Noch 1869, als sie bereits an der Universität studierte, verteidigte sich Marie bei ihrem Vater: «Was ich jetzt denke, das denke ich völlig selbständig ohne Rücksicht auf irgend einen Menschen.»4 Im selben Brief verglich sie den geistigen Austausch mit den zwei ihr damals unendlich nahe stehenden Menschen, Fritz und Marie Ritter: «Der Unterschied liegt nur darin, dass Fritz mitten draussen in der Welt ist, wo er ein weiteres Feld zur Beobachtung hat, während Marie Ritter das Ihre in einem kleinen Kreise thut.»5

      Vetter Fritz, der «Bruder», wie sie ihn nach der Trennung in ihren Briefen an Marie Ritter nannte, war schon in jungen Jahren eine schillernde Persönlichkeit, brillant, charmant und unkonventionell. Der Mediziner spezialisierte sich auf Augenheilkunde und arbeitete als Assistent bei Friedrich Horner, Professor für Augenheilkunde in Zürich. Ausser in Zürich studierte er in Heidelberg, Wien, Würzburg und Berlin. Nach einiger Zeit wechselte er das Fach, bildete sich als Hygieniker in München weiter und leistete in diesem Bereich Bedeutendes.

      Nach Siebel war Fritz über Nadejda Suslova zum sozialistischen Gedankengut gekommen. Denkbar ist ebenfalls, dass ihm die aargauischzürcherische Welt allmählich zu eng geworden war und er sich deshalb für die Russenkolonie an der Universität zu interessieren begann. War es Zufall oder Absicht, dass er in der gleichen Studentenpension wie Nadejda Suslova logierte? Am 14. Dezember 1867 bestand sie ihr Doktorexamen und im Februar 1868 heiratete sie in Wien Friedrich Erismann. Sie kehrte nach St. Petersburg zurück und eröffnete ihre Praxis. Fritz blieb zunächst im Westen und studierte weiter.6 Fasziniert las er «Das Kapital» von Karl Marx, kam 1869 nach St. Petersburg, bestand die russische Zulassungsprüfung und nannte sich fortan Feodor Feodorovich.7

      Bevor Fritz 1869 nach Russland übersiedelte, verbrachte er einige Zeit bei Professor Horner in Zürich. In Briefen bat Marie ihren Vater um die Erlaubnis, Fritz sehen zu dürfen. Vermutlich war auch Fritz in diesem Sinne bei Julius Vögtlin vorstellig geworden. Marie hatte Fritz und seine Kollegen bereits zufällig auf der Strasse getroffen, nun wollte sie sich – immer im Einverständnis mit ihrem Vater – mit ihm bei sich zu Hause verabreden. «Die wenigen Male nun, die er zu mir kommen wird, fallen natürlich auf den Abend, wo ihn niemand sieht […]. Ich glaube wirklich, dass es nur das grosse Misstrauen ist, das Ihr gegen alles, was in Zusammenhang mit Fritz steht, fühlt, was Euch die Folgen unseres jetzigen kurzen und beschränkten Verkehrs in so trübem Lichte erscheinen lässt.»8 Diese Argumente überzeugten den Vater wohl nicht wirklich, denn wenige Tage nachher doppelte Marie nach. «Ich kann Dich heilig versichern, dass diese Gefühle, für deren Vernichtung ich die ersten Monate des Jahres 1867 alle meine Kräfte aufgewendet habe, auch wirklich innerhalb jener Zeit gänzlich verschwunden sind, um den Banden der unzertrennbaren Freundschaft zu weichen, die jetzt bestehen und immer bestehen werden.»9 Wie die Geschichte ausging, ob sich Fritz und Marie je privat sehen durften oder ob die Angst vor dem Geschwätz obsiegte, ist nicht überliefert.

      

      Die Russin Nadejda Suslova schloss als erste Frau ein Studium an der Universität Zürich ab und heiratete kurz darauf Maries ehemaligen Verlobten Fritz Erismann.

      «Wie war Nadejda Suslova?», fragte Marie sich und andere. Gleich bei ihrer ersten Begegnung mit einer ihrer Studienkolleginnen, Mrs. Atkins, wollte sie es genauer wissen: «Sie sprach mir mit grosser Verehrung von Nadeijda, sie sagte, ‹she is not pretty, but a very nice face, so good and gentle, she is exceedingly gentle.›»10

      Auch das Porträt einer unvoreingenommenen Zeugin überrascht. Im April 1872 traf eine russische Studentin in einer Zürcher Pension das Ehepaar Friedrich Erismann und Nadejda Suslova. «Ich erwartete eine energische, selbstbewusste Persönlichkeit. Das Gegenteil war der Fall. Frau Suslova hatte nichts von einer emanzipierten Frau an sich. Es war eine stille, ernste Natur von tiefem Gemüt und nachdenklichem, melancholischem Blick aus etwas tief liegenden braunen Augen.»11 Ob Marie die Erismanns bei diesem Zürcher Aufenthalt auch traf?

      Neben seinen medizinischen Zielen verfolgte Fritz auch seine politischen Pläne konsequent. Nach der vorübergehenden Rückkehr aus Russland schloss er sich im Frühjahr 1870 der Sozialdemokratischen Partei an: «Er war der erste Schweizer mit dem Doktortitel in unseren Reihen. Jung wie wir, aber uns überragend durch sein Wissen und sein klares Denkvermögen leistete er unserer Bewegung unschätzbare Dienste», erinnerte sich der sozialdemokratische Nationalrat Hermann Greulich an Erismanns Abdankung 1915.12

      Friedrich Erismann wollte seine sozialen Vorstellungen im Zarenreich in der Arbeitsmedizin umsetzen. So suchte er nach Schulbänken, die nicht krank machten, untersuchte die Kurzsichtigkeit bei Kindern, kämpfte für gesunde Arbeiterwohnungen usw. Immer mehr wandte er sich von der praktischen Medizin ab und widmete sich der Wissenschaft sowie der Publizistik.

      Nach einer kurzen Zeit des Einvernehmens lebten sich Erismann und Suslova bald auseinander. Vielleicht waren seine radikaleren Vorstellungen von einer idealen Zukunft der Grund, möglicherweise waren die beiden aber auch einfach in ihrer Art zu verschieden. 1873 interessierte sich die Geheimpolizei für Fritz, während einer gewissen Zeit durfte er nicht ins Zarenreich zurückkehren. – Suslova zog nach Nishni Novgorod zu ihren Eltern, 1885 heiratete sie den wohlhabenden Histologen A.Y. Golubew. Sie starb 1918 auf der Krim.

      Erismanns Aufgaben wurden immer umfassender. Im russisch-türkischen Krieg von 1877 leitete er auf dem ausgedehnten Kriegsschauplatz die Desinfektionsarbeiten auf den Schlachtfeldern, in Kriegsspitälern und Wohnstätten. 1879 verlegte er sein Arbeitsfeld nach Moskau, wo er 1881 einen Ehrendoktorhut erhielt. 1882 berief die Universität Erismann auf den Lehrstuhl für Hygiene. Sein Privatleben nahm ebenfalls eine neue Wende: 1883 liess er sich von Nadejda Suslova scheiden, im gleichen Jahr kam sein ältester Sohn Theodor zur Welt, und 1884 heiratete er seine zweite Frau, die russische Ärztin Sophie Hasse. Auch sie hatte in Zürich studiert, schloss aber aus politischen Gründen das Studium in Bern ab, da der Zar ein Weiterstudium in Zürich verboten hatte.13

      In seiner Wahlheimat genoss Erismann hohes Ansehen. 1894 wurde er Präsident der russischen Ärztegesellschaft. Auch in Amt und Würde blieb sein politisches Gewissen wach, was ihn an hoher Stelle weiterhin verdächtig machte. Mehrmals intervenierte er bei Studentenunruhen zugunsten der Studierenden. Im Sommer 1896 weilte er mit seiner Familie ferienhalber in der Schweiz. Der russische Unterrichtsminister nützte diese Abwesenheit und entzog Erismann die Professur. Sein berufliches Leben schien zerstört.

      Die Familie liess sich in Zürich nieder – in unmittelbarer Nähe von Maries Praxis. Zunächst arbeitete Erismann als Privatgelehrter, doch dann holte ihn die Politik wieder ein. Seine letzte Karriere begann 1898 mit der Wahl in den Grossen Zürcher Stadtrat (Legislative), von 1901 bis zu seinem Tod 1915 war er Mitglied des Stadtrats (Exekutive) und von 1902 bis 1914 sass er zudem im Zürcher Kantonsrat. Im Stadtrat betreute er das Gesundheitswesen. Dies war ein vielfältiges Dossier, zu dem nicht nur Sanitäts- und Wohnungsfragen und die Planung des Stadtspitals auf dem Käferberg gehörten, sondern auch die Aufsicht über die Kehrrichtverbrennungsanlage, den Schlachthof und die Beseitigung von Tierkadavern. Ausserdienstlich engagierte er sich für den Bau des Volkshauses und die Pestalozzigesellschaft, die öffentliche Bibliotheken für ein breites Publikum betrieb.

      In einer Hinsicht glich Fritz

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