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Bank setzen, nach vollendetem Gottesdienst aber sie vereint mit ihren Vätern und Müttern in Gegenwart der ganzen Gemeinde vor das ehrenwerte Sittengericht stellen soll […].» Zum Schluss kommentiert der Pfarrer: «Dies geschah an dem heutigen Tage, zur Zufriedenheit und Sicherstellung aller Rechtschaffenen und hoffentlich zur Warnung so vieler […].»9

      Im Alter von 63 Jahren traute sich Benker letztmals eine neue Aufgabe zu. Er liess sich 1829 nach Schöftland wählen, wo er 1850 im Amt starb. In seinem neuen Wirkungskreis betreute er fast 4000 Gläubige, ein Riesenpensum für einen älteren Herrn, kein Wunder also, dass ihm ein junger Vikar wie Julius Vögtlin zur Seite stehen musste. Zudem hatte Benker allerhand Ärger mit seinem Umfeld. Mit der Schulpflege stritt er sich wegen der Ansetzung des Konfirmandenunterrichts, der mit dem Stundenplan der Bezirksschule kollidierte. Auch der Staat machte ihm gelegentlich das Leben schwer. So sollte die Pfarrscheune in ein Schuloder ein Spritzhaus umgewandelt werden.10 Trotzdem war er mit seinem Schicksal nicht unzufrieden. Es wäre undankbar gewesen, den Kanton Aargau zu verlassen, da habe er viel Freundschaft und Zuneigung erfahren, schrieb er neun Monate vor seinem Tod.11

      Der Bildungsstand der männlichen Angehörigen der Familie Benker beeindruckt. Dies umso mehr, als damals ein Grossteil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte und der Besuch der Universität ein Vermögen kostete. Immerhin gab es in Diessenhofen eine ausgezeichnete Lateinschule, sodass die Grundausbildung lokal gesichert war. Als sich die Thurgauer in den 1830er-Jahren ernsthafte Gedanken zur Verbesserung der Lehrerbildung machten, organisierten die Verantwortlichen aufgrund der Lateinschule an diesem Ort einen ersten Kurs. Die Behörden vertrauten dem Ortspfarrer Leodegar Benker den erfolgreichen Lehrgang an. Leodegars Sohn wandte sich als Theologe ebenfalls der Pädagogik zu. Henriette Benker kannte diesen Cousin von seinen Besuchen in Schinznach-Dorf.12 Er wurde zum ersten Rektor der neu gegründeten Thurgauischen Kantonsschule in Frauenfeld ernannt.13 Benkers durften sich zur Thurgauer Bildungselite zählen, die von den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts unmittelbar profitierte.

      Mit weiblicher Gelehrsamkeit dagegen taten sich diese bildungsfreudigen Männer schwer. Über Henriette Benker schreibt Johanna Siebel: «In ihrer Jugend ein hochstrebender Mensch, geistreich und witzig und voller Ideale, war Henriette Benker durch die Macht der Zeitverhältnisse, die sich der harmonischen Entwicklung der Frau entgegenstellte und sie in Haus und Küche bannte, nicht dazu gelangt, ihre Talente auszubilden. Ihr grosser Wunsch, Lehrerin zu werden, scheiterte an der Strenge ihres Vaters, der trotz leidenschaftlichen, kniefälligen Flehens von einer beruflichen Ausbildung der Tochter nichts wissen wollte. Auch die übrigen aristokratischen Verwandten stellten sich mit ihren starren Anschauungen dem Bildungsverlangen des Mädchens entgegen.»14

      

      Maries Mutter, die Pfarrerstochter Henriette Vögtlin-Benker, heiratete spät und war oft krank. Sie muss eine für ihre Zeit gebildete Frau gewesen sein.

      Es ist unbekannt, wie es Henriette Benker gelang, sich trotz ungünstigem Umfeld eine gewisse Bildung anzueignen, denn, berichtet Marie, ihre Mutter habe sie in «Französisch und Clavier» unterrichtet.15

      1829 folgte Henriette ihrer Familie nach Schöftland. Dort begegnete sie dem viel jüngeren Vikar ihres Vaters, Julius David Vögtlin, und entschloss sich zu einer späten Ehe. Sie hatte Zeit gehabt zu lernen, was die Gesellschaft von einer Frau Pfarrer erwartete.

      Maries Beziehung zu Henriette bleibt ein Geheimnis. Nach einer recht stürmischen Pubertät verlor sie als 19-Jährige ihre Mutter. In ihren Briefen taucht ihre Mutter nicht mehr auf. Nur einmal – vermutlich im Sommer 1867 – spricht sie von ihr zu Marie Ritter: «Wenn ich bei Dir bin, so fühle ich mich wie ein ganz kleines Kind von Dir geschützt und behütet; es ist ein Gefühl ganz ähnlich dem, was ich für meine Mutter hatte, als ich noch ein kleines Kind war. Aber auch ebenso wenig als damals für sie, kann ich jetzt für Dich tun.»16

      Ihrem Vater, dem konservativen Theologen Julius David Vögtlin, stand Marie sehr nahe. «Wenn doch mein Vater ein anderes Amt hätte! Er ist auf der äussersten Rechten, und zwar einer von denen, welche es kaum der Mühe wert halten zu polemisieren, weil die Ansichten der Gegner ihm unmoralisch vorkommen […]. Wunderbar ist die Kombination von soviel natürlicher Güte und Gerechtigkeitssinn mit diesen Theorien. Wunderbar namentlich seine Toleranz mir gegenüber. Er sucht nie eine Kontrolle auf mich auszuüben, er lässt mir die absoluteste Freiheit, und trotz meiner für ihn verwerflichen Theorien hat er zu mir das vollkommenste Vertrauen. – Aber nun musst Du daraus nicht ein Vorurteil gegen meinen Vater schöpfen, – erinnere Dich an die Selbständigkeit, an die Stärke, mit der er meinen Gegnern widerstand, nachdem er sich einmal entschlossen hatte, mich ziehen zu lassen, und du wirst ihn darüber wie ich bewundern und lieben.»17

      Mit kritisch-zärtlichen Worten beschrieb Marie Vögtlin ihrem Verlobten Albert Heim die Persönlichkeit Julius David Vögtlins (1813–1894). Sie war ihm zutiefst verbunden, wie die Briefe aus der Studienzeit zeigen. Nachdem sich Julius durchgerungen hatte, seine Tochter den Beruf ihrer Wahl lernen zu lassen, war er offensichtlich stolz auf sie. Nur wenige Monate nach Studienbeginn schrieb Marie: «Mein lieber Vater scheint nun völlig beruhigt; er ist sehr guter Dinge –, hört sehr gern von allen meinen Angelegenheiten und erzählt andern gern davon.»18 Auch als berufstätige Frau besuchte Marie ihren Vater regelmässig in Brugg, der glückliche Grossvater tauchte gelegentlich in Zürich auf.19

      Aus Julius’ Feder sind keine Originaldokumente erhalten, Maries Antworten lassen seine Sicht der Dinge nur vermuten, einiges lässt sich rekonstruieren. Im Vergleich zu anderen Vätern seiner Generation verbrachte der Pfarrherr während Maries Kindheit recht viel Zeit mit seiner kleinen Tochter. So gab er ihr Unterricht in Deutsch und Rechnen. «Von ihm lernte Marie die Pflanzen und Gesteine ihrer Heimat nach Namen und Eigenschaften kennen; unter seiner Leitung legte sie auch systematisch die ersten Sammlungen an und vertiefte ihr grosses Interesse für Naturgeschichte», ergänzt Siebel Maries Beschreibungen in ihrem Lebenslauf.20 Die Tochter begleitete den Vater auf seinen Gängen zu den Pfarreiangehörigen. Früh entwickelte sie einen Sinn für soziale Verpflichtungen, der ihr bis zum Lebensende erhalten blieb.

      Die Vögtlins sind ein altes Brugger Bürgergeschlecht. Wie bei Henriette finden sich auch in Julius’ Stammbaum Theologen. Sein Vater sowie sein Grossvater dagegen arbeiteten bei der Post, Maries Urgrossvater als Postcommis in Brugg, ihr Grossvater als Postkontrolleur in Aarau, ein Amt, das mit der Führung einer heutigen Kreispostdirektion vergleichbar ist.21

      Am 8. November 1830 immatrikulierte sich Julius an der theologischen Fakultät der Universität Basel.22 Sein um ein Jahr älterer Bruder Jakob Samuel studierte dort bereits Jurisprudenz, was dem 17-Jährigen den Abschied von zu Hause bestimmt erleichterte. Die Studienzeit fiel in eine unruhige Epoche. Nach der Pariser Julirevolution von 1830 forderten Liberale die Revision und Modernisierung des Bundesvertrags von 1815. Ein bürgerkriegsähnlicher Konflikt lag unmittelbar vor der Basler Haustüre. Julius’ Studienkollege Johann Georg Ritter erinnerte sich: «Die ganzen zwei Jahre meines Basler Aufenthaltes waren erfüllt mit Kriegslärm. Professoren und Studenten taten Militärdienst, De Wette stand Schildwache.»23 Der Schildwächter De Wette lehrte Neues Testament. – Nach längeren Wirren und einer bewaffneten Auseinandersetzung, die 67 Menschen das Leben kostete, anerkannte die Tagsatzung 1833 die Aufspaltung Basels in die beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft. Ganz besonders schmerzlich war für die Stadt die Aufteilung des Vermögens.

      

      «Wunderbar namentlich seine Toleranz mir gegenüber», schrieb die junge Marie über ihren Vater, den Pfarrer Julius David Vögtlin.

      Julius David Vögtlin war Mitglied der 1819 gegründeten Studentenverbindung Zofingia.24 Ihre Devise lautete: Vaterland, Freundschaft, Wissenschaft. Vögtlins Karteikarte vermerkt, dass er keine Chargen übernommen hat. Der Verein förderte das Chorsingen, Turnen, organisierte

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