Скачать книгу

zu versammeln und hielten ihnen, in viele Classen abgetheilt, Schule.»6

      

      Im Pfarrhaus in Thalheim AG besuchte Marie mit zwölf Jahren als Internatsschülerin den Unterricht bei Pfarrer Jakob Imanuel Hunziker und seiner Gattin.

      Gerade die «Jungfrau von Orléans» war Marie aus nahe liegenden Gründen ans Herz gewachsen: eine junge Frau, die ihrer Berufung folgt und Grosses leistet. In ihrem Maturitätsaufsatz über die Rolle der Frauen in der Geschichte schreibt sie: «AUS DEM VOLKE sind keine Frauen hervorgegangen, welche DIREKT ihrem Staat in der Administration desselben Dienste geleistet haben, selten solche, welche ihrem Vaterland durch ihren Arm gedient haben. Die grösste und unvergesslichste Frau, welche, von reiner Vaterlandsliebe getrieben, das letztere gethan hat, ist Jeanne d’Arc.»7

      Das Vorlesen spielte früher eine ähnliche Rolle wie heute der gemeinsame Fernsehkonsum. Bücher waren so teuer, dass sich selbst bürgerliche Familien höchstens eine bescheidene Bibliothek leisten konnten. Vortragen mit verteilten Rollen oder Lesungen des Familienvaters, während sich die Frauen mit Handarbeiten nützlich machten, waren klassische Abendvergnügungen. Zuhörerinnen und Zuhörer sassen oft im Dunkeln, Elektrizität gab es keine, Petrollampen oder Kerzen spendeten kärgliches Licht.

      Während der Thalheimer Jahre verbrachte Marie ihre Ferien nach wie vor in Bözen: «In den Ferien, die ich zu Hause zubrachte, eilte ich dann wieder meinen alten Freunden unter Blumen und Thieren in Wald und Feld nach.»8 Über das Familienleben erfahren wir nichts.

      Die Beziehung zu den «Thalheimern» hielt mindestens bis in die Zürcher Zeit. Im Mai 1869 erhielt die Studentin Besuch von der «alten treuen Luise». Im Brief an ihre Schwester Anna lässt sie durchblicken, dass Hunzikers noch immer wenig Verständnis für ihren Berufsentscheid haben. «Ihr [Luises] Besuch hat mich herzlich gefreut […], sie schien auch über mein Leben etc. beruhigt, als sie mich so gesund und frisch und zufrieden fand, dass hoffentlich ihr Befund in Thalheim ein kleines Gewicht in die Waagschale zu meinen Gunsten legen kann.»9

      Das Welschlandjahr galt als Höhepunkt eines traditionellen Jungmädchenlebens. Erstmals war die Grundschulabsolventin weit von zu Hause fort, sie erhielt den letzten intellektuellen und gesellschaftlichen Schliff und schloss oftmals Freundschaften für das Leben. Marie besuchte – wie zahllose Pfarr- und Bürgerstöchter vor und nach ihr – das Herrenhuter Internat Montmirail bei Neuenburg, eine Schule mit internationalem Ruf.

      Kern der malerischen Anlage ist ein Schloss aus dem Jahr 1618. 1766 übernahm die Herrenhuter Brüder-Sozietät das Anwesen. Das Gegenstück für junge Männer befand sich im Schloss Prangins in der Nähe von Nyon, dem heutigen Westschweizer Landesmuseum. Kurz bevor Marie in Montmirail eintrat, waren neue Bauten entstanden, so 1853 ein Haus für die Pensionärinnen.10 Die Bildungsstätte überlebte bis 1991, als die Brüder-Sozietät das Institut aufgab und die Liegenschaft umnutzte.

       «Während dieser Jahre wurde ich in den Schulfächern so weit gefördert, dass, wie ich im sechzehnten Jahr in ein grösseres Internat im Ct. Neuenburg eintrat, ich mit den höhern Classen folgen konnte. Hier wurde die Abwechslung zwischen französischer und englischer Conversation fortgesetzt, so dass ich bald mit diesen Sprachen völlig vertraut war. Ich fing nun auch Italienisch zu lernen an, trieb mit grossem Eifer alle übrigen Fächer, namentlich Musik und Zeichnen.» 11

      Maries spätere Freundin Marie Ritter schildert in ihren Lebenserinnerungen das Leben im Internat: «Es gab so viel Neues zu erleben, dass ich nicht dazu kam Heimweh zu haben […]. Ich kam ins 5te Zimmer […]. Im Zimmer waren 15 Mädchen und 2 Lehrerinnen. Es waren im Ganzen 5 Zimmer und ein Haufen Lehrerinnen zum Theil recht gute.»12

      In Montmirail wurde Marie am 22. Dezember 1861 konfirmiert.13 Das heisst, sie hatte auch ausgedehnten Religionsunterricht besucht, was sie jedoch in ihrem Lebenslauf unterschlägt. War ein Hinweis darauf in einem offiziellen Bewerbungsschreiben überflüssig, oder hatte sie sich innerlich bereits so sehr von der Kirche entfernt, dass sie nicht mehr darüber sprechen mochte?

      Religiös mündig verabschiedete sich Marie von Montmirail. Das Niveau ihrer Allgemeinbildung war für eine Frau überdurchschnittlich gut. Für Alltag und Erwachsenenleben gerüstet, konnte sie sich dem Ernst des Lebens stellen.

       Rudolfine oder die grosse, städtische Welt

      Zurück in Bözen zeigte sich der Ernst des Lebens zunächst in Form von gelangweilter Verlorenheit. Modern ausgedrückt: Marie erlebte einen kleinen Kulturschock: «Nach einem Jahr kam ich in meine Heimat zurück. Hier fühlte ich schmerzlich den Mangel an Gelegenheit, das was ich gelernt hatte, weiter auszudehnen, ich fand nicht die Bücher, welche meinem Standpunkte entsprachen, und so war ich genöthigt, neben den häuslichen Arbeiten mich auf Musik und Italienisch, worin ich mir am besten allein helfen konnte, zu beschränken.»1 Die «alten Freunde Blumen und Thiere», tröstende Gefährten während der Ferien in der Thalheimer Zeit, reichten nicht mehr aus. Zu viele geistige Türen hatte der Aufenthalt in Montmirail aufgestossen.

      Nach Siebel rieben sich auch die beiden Schwestern Anna und Marie aneinander: «Räumlich getrennt, doch durch regen Briefwechsel verbunden, fühlten sich die Schwestern immer einander näher, als im täglichen, ihre Gegensätze offener aufdeckenden Beisammensein.» Ablenkung fand Marie am Klavier: «Am liebsten versenkte sie sich in die Werke Beethovens.»2

      Maries kränkliche Mutter war inzwischen 60 Jahre alt. Auf engem Raum mit einer unzufriedenen 18-Jährigen zusammenzuleben, strapazierte das Umfeld sowie die betroffene junge Frau. Dank ihrer weitläufigen Familie fand Henriette Vögtlin-Benker einen Ausweg. Sie wandte sich an eine Verwandte in Zürich, Rudolfine Blumer, und bat sie, Marie für einige Zeit bei sich aufzunehmen. Dieser Aufenthalt wurde ein Erfolg: «Dann brachte ich einen Winter in Zürich zu, wo ich zum ersten Mal Gelegenheit hatte, das rege geistige Treiben einer Stadt kennen und schätzen zu lernen.»3 Nach der Natur entdeckte Marie also ein zweites kongeniales Umfeld, die Stadt.

      Anna Rudolfina Blumer-Eckenstein (1831–1923), über ihre Mutter Susanne Benker eine direkte Cousine, war nur 14 Jahre älter als Marie. Obschon erfahrene Familienmutter, war sie also noch recht jung. Wie Marie hatte sie ihre Kindheit in einem Aargauer Pfarrhaus verlebt – in ihrem Fall in Reitnau. Ihr Gatte Johannes Blumer, Teilhaber der Seidenstofffabrik «Nägeli, Wild & Blumer», entstammte einer alten Glarner Textildynastie. Die junge Familie war kurz vor Maries Zürcher Aufenthalt aus der französischen Seidenmetropole Lyon in die Schweiz zurückgekehrt.

      Beruflich war der Seidenhändler Johannes Blumer international, ja interkontinental vernetzt und entsprechend weltoffen.4 Anders als bei ihren beiden Internatsaufenthalten trat Marie nun erstmals wirklich aus dem Schatten des Pfarrhauses heraus. Die neue Umgebung nutzte ein städtisches Kulturangebot und verfügte über ganz andere finanzielle Ressourcen als Maries Eltern, selbst wenn man berücksichtigt, dass sich konjunkturelle Hochs und Tiefs unmittelbar auf die Geschäfte auswirkten.

      In Bözen – und später in Brugg – hiess es, knappe Mittel möglichst geschickt und sparsam einzusetzen. In Zürich lernte Marie, wie man einen gepflegten Grosshaushalt nach französischem Muster führt, ohne sich von dieser Aufgabe völlig vereinnahmen zu lassen. In den Kreisen, in denen sich Blumers bewegten, waren die gängigen Grundfähigkeiten einer Hausfrau selbstverständliche Voraussetzung. Die Gattin sollte sich jedoch nicht nur auf Kochen, Waschen oder Kindererziehung verstehen, sondern ein offenes, gastfreundliches Haus führen, sich für Kultur aufgeschlossen zeigen sowie sich gelegentlich sozial engagieren. Solch vielfältige Ansprüche setzten grosses organisatorisches Talent voraus. Im Hause Blumer erwarb sich Marie Fertigkeiten, die ihre Chancen auf dem traditionellen Heiratsmarkt enorm verbessert hätten. Obwohl sie schliesslich einen andern Weg einschlug, war der praktizierenden Ärztin das Gelernte bei der Bewältigung von Berufs- und Familienarbeit später sehr nützlich.

      Als

Скачать книгу