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als er seinen Kollegen im Stadtrat die Todesnachricht überbrachte. Und der Tagesanzeiger wusste: «Wenn er ausnahmsweise einmal Urlaub nahm, so gingen die Aktenmappen trotzdem eifrig zwischen seinem Amtszimmer und seiner Wohnung hin und her. Sein Leben war Arbeit.»15

      Sogar die freisinnige «Neue Zürcher Zeitung», gewiss keine Freundin der Sozialdemokratie, fand lobende Abschiedsworte. In Russland hatte er sich Fähigkeiten erworben: «[…] die ihm bei der Leitung unseres Gesundheitswesens sehr zustatten kamen. Unter seiner Amtsführung hat denn auch die Stadt Zürich der Gesundheits- und Wohlfahrtspflege grosse Aufmerksamkeit zugewendet.»16

      Erismanns Persönlichkeit kommentierte Billeter in seiner Trauerrede: «Wohl gewährte er mitunter seinem Temperament freie Bahn, aber es machte sich nie in verletzenden Formen Luft und deshalb freute man sich darüber. Wie alle mit sonnigem Humor begabten Menschen übte er einen wohltätigen Einfluss auf seine Umgebung aus.»17

      Die Erismannhäuser, eine soziale Wohnsiedlung in Zürich-Aussersihl, erinnern noch heute an den rührigen Politiker und ungewöhnlichen Menschen. Marie erlebte ihre Einweihung 1928 nicht mehr.

       «Zu sterben wäre ich freudig bereit gewesen» – Schicksalsjahr 1867

      Bis Ende 1866 verlief Maries Leben in den üblichen Bahnen: Internat, etwas Grossstadtluft, Mithilfe in der Familie, Betreuung kranker Angehöriger, Verlobung mit einem angehenden Akademiker, ehrenamtliche Tätigkeit in der Armenpflege. 1867 wurde plötzlich alles anders. Ein schicksalhafter Bruch in ihrer Biografie wurde nach schweren inneren Kämpfen zum Ausgangspunkt für ein eigenständiges Leben. Dazu musste Marie das überlieferte Frauenbild in Frage stellen und aus der vorgegebenen Rolle ausbrechen. Sie tat dies zunächst für sich selbst und sehr bald auch für viele andere Frauen, wie ihr rasch bewusst wurde. In dieser Zeit des Übergangs stützte sie sich auf zwei Menschen, die kluge Freundin Marie Ritter und den etwas zögerlichen Vater Julius Vögtlin.

      1867 begann mit einem Donnerschlag. Marie war zu Besuch bei Blumers in Zürich, wo sie mit Fritz zusammentraf und eine der grössten Erschütterungen ihres Lebens erfuhr. In einem Brief mit offiziellem schwarzem Trauerrand informierte Marie am 4. Januar 1867 ihren Vater in Brugg über die Auflösung der Verlobung. «Vor zwei Jahren habe ich dir geschrieben, gerade wie heute, mit vollem vollem Herzen, um dir zu sagen, dass ein Ereignis eingetreten sei, dessen Folgen meinem ganzen Leben eine neue Gestaltung geben werden. Dieses Geständnis kam dir aber nicht völlig unerwartet. Heute komme ich wieder zu dir, um dir zu sagen, dass meine Zukunft anders werden wird, als ich damals und seit zwei Jahren sie geträumt hatte, dass nicht mehr Freude und persönliches Glück auf mich warten, sondern ein Leben voller Ernst, voller Kämpfe und Beschwerden; dabei hoffentlich auch Arbeit, die mir Ersatz leisten soll für alles, was ich jetzt – unter wie bitteren Schmerzen! – dahin gegeben habe. Fritz und ich, wie haben uns gestern verständigt, dass wir uns nie verheiraten werden.»

      Dann erklärte Marie ihrem Vater, Fritz habe sich seit Frühjahr 1866 auf eine Weise entwickelt, die «seiner socialen Laufbahn eine vollständig andere Richtung geben wird […]. Unsere Trennung ist eine nöthige und unabwendbare Consequenz davon.» Auch sie selbst habe bereits viele Stadien dieser Entwicklung durchlebt, «und ich schöpfe jetzt aus den Ergebnissen dieser Entwicklung die Kraft, allem zu entsagen, was zu meinem Glück die Grundbedingungen gewesen wären, denn in meinen Gefühlen zu Fritz hat sich bis jetzt noch nichts geändert.»1

      Marie stellte ihrem Vater in Aussicht, sie und Fritz würden ihm mündlich Rechenschaft über alles Vorgefallene geben. Sofort rief Julius seine Tochter zurück nach Brugg. Als die Katastrophe über sie hereinbrach, war Marie gut 21 Jahre alt. In diesem ersten Trauerbrief deutete sie bereits an, wie sie sich ihre Zukunft vorstellte: «Arbeit, die mir Ersatz leisten soll für alles, was ich jetzt dahin gegeben habe.» Eine erstaunliche Reaktion für eine junge Frau ihrer Zeit. In der Beziehung mit Fritz hatte sich nicht nur der junge Mann, sondern auch Marie entwickelt.

      Zunächst aber war Marie einfach nur liebeskrank. «Zu sterben wäre ich freudig bereit gewesen; aber lebend mein Leben zu opfern, ich fühlte, das konnte, das durfte ich nicht.»2

      Ihr wohlmeinender Vater hatte sie zur Kur nicht in die Einsamkeit, sondern nach Obstalden GL gebracht. Die andern Kurgäste nahmen neugierig Anteil an ihrem Schicksal, weshalb sie sich nicht gehen lassen durfte: «Nun haben sie mich fortspediert, und ich bin wider Erwarten hierher gekommen, wo ich nun versuchen soll, gesund und heiter zu werden. Aber ich sehe, dass der Aufenthalt hier in verschiedener Beziehung gar nicht dem entspricht, was ich nach meiner vollen Überzeugung nötig hätte. Ich hatte gewünscht, an einen Ort zu gehen, wo sich niemand um mich bekümmert, und ich auf niemand Rücksicht zu nehmen hätte, wo ich ganz nach meinem Bedürfnis leben könnte, ohne von Leuten beobachtet zu werden, die meine Lebensgeschichte kennen. Und dann hatte ich ein so grosses Verlangen nach echter Alpenluft und hoher Lage und namentlich nach Alpenflora […]. Statt fremd zu sein, habe ich hier fast ausschliesslich halbe Bekannte angetroffen, die sich in grosser Freundlichkeit meiner annehmen wollen als einem jungen Mädchen, das doch nicht ohne mütterlichen Schutz an einem fremden Ort gelassen werden darf. Mein guter Vater hat mich hieher geführt und glaubte, es mit mir gar gut zu machen; aber ich kann mich hier nicht recht zufrieden geben. Ich hatte mich so unendlich auf das schöne hohe Klöntal gefreut, wo ich ohne Zweifel gefunden hätte, was ich bedarf. Ich bin ja kein Kind mehr, das man nicht für sich selbst darf sorgen lassen, darum fällt auch bei mir die Sorge wegen Mangel an Gesellschaft ganz weg; – ich wünsche eben ganz bestimmt keine Gesellschaft und weiss, dass es das ist, was ich nötig habe, nun einmal ausruhen zu können von der beständigen Spannung und dem Zusammennehmen aller Kräfte, um die Pein und Qual im Innern vor andern verbergen zu können.»3

      Erneut gab ihr Vater nach und erlaubte den Umzug nach Richisau GL. Endlich war Marie in ihrem Element. Ihr Leben lang blieb sie dieser Landschaft und den Richisauer Wirtsleuten verbunden. Aus Schwanden kam Marie Ritter zu Besuch – und erfuhr das Neueste. Mit einem Sinn für theatralische Inszenierungen offenbarte ihr Marie am Grenzstein zwischen Schwyz und Glarus den Zukunftsplan. Sie wollte Ärztin werden.4 Marie Ritter ermunterte sie. Dies ist umso beachtlicher, als die hochbegabte Marie Ritter keine Aussicht hatte, ihre vielfältigen Talente auszuleben und stets an ihre häuslichen Aufgaben im Glarnerland gekettet blieb.

      

      Mit den Wirtsleuten Friedli und Martha Stehli in Richisau war Marie während Jahrzehnten eng befreundet.

      Maries Ausbrechen liess sich als Egoismus deuten und verurteilen, weshalb sie sich in einem Brief an die Freundin verteidigte: «Aber ich fühle so tief, wie sehr weit ich von dem Punkt bin, auf dem Du stehst, wie tief ich noch versunken bin im Sumpf der Selbstsucht, wie ich nicht aufhören kann, für mich immer noch etwas von diesem Leben zu verlangen, wenn ich auch glaube, einmal gesiegt zu haben über diesen bösen Feind. Weisst Du, das ist mir so furchtbar schwer, dass ich für Fritz nichts mehr sein kann, jetzt wenigstens, da wir so ferne von einander sind.»5

      Auf der Heimreise von Richisau nach Brugg fuhr Marie über Zürich, wo eben die Cholera wütete. «Im ganzen steht es in Zürich schlimm, man sieht fast keine Reisenden. Als ich nun zu Hause ankam, da war Anna, die von meinem kleinen Aufenthalte in Zürich schon gehört hatte, in solcher Bestürzung, dass sie mich kaum mit Freuden empfangen konnte.»6 Obschon sich Marie bereits für eine unabhängige Zukunft entschlossen hatte, setzte sie kurzfristig ihre ganze Hoffnung auf die Epidemie. Entweder würde ihr die Infektionskrankheit den Tod oder interessante Arbeit bringen. «Hier wird nun die Cholera ziemlich sicher erwartet, und bereits sind alle Massregeln getroffen, um Kranke zu verpflegen und abzusondern. Und denke, ich werde hoffentlich von meinem Vater die Erlaubnis erlangen, mich als Wärterin zu melden, wenn wir Kranke bekommen; ich bin ganz glücklich darüber, denn eines von den beiden Dingen, nach denen ich mich sehne, wird mir ja dann zuteil werden, entweder die ewige Ruhe, oder dann doch wenigstens rechte Arbeit.»7

      Anders

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