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Johann David Rahn kümmerte sich um die Errichtung von Sonntagslesesälen für Arbeiter und Lehrlinge, schuf den Verein für entlassene Sträflinge und gründete mit Freunden die Rettungsanstalt Friedheim bei Bubikon.8 Im August 1847 nahm dieses Heim für arme verwaiste und verwahrloste Kinder seinen Betrieb mit 18 Zöglingen auf.

      Am 24. September 1853 starb Johann David Rahn im Alter von erst 42 Jahren ganz unerwartet – vielleicht an Typhus. «Nervenfieber», die offizielle Diagnose, existiert heute nicht mehr als anerkannte Krankheit. Irgendwann kehrte die junge Witwe nach Brugg zu ihrer Mutter zurück. Den Kontakt mit ihrer Schwiegerfamilie pflegte sie weiter. Während ihres Studiums übermittelte Marie immer wieder Grüsse von Onkel Doktor (Hans Conrad Rahn) aus Zürich.

      Mit ihrem Unternehmen suchte Rosa Rahn-Vögtlin nach einer Lösung für eine eigentliche Versorgungslücke. Generell lag das Gesundheitswesen im Argen. Die Aargauer Kantonalen Krankenanstalten befanden sich im ehemaligen Kloster Königsfelden. Diese historischen Gebäude genügten modernen Anforderungen in keiner Weise. Rosas Berater und künftiger zweiter Gatte, der Arzt Rudolf Urech, hatte während Jahren in Königsfelden gewirkt und war mit den prekären Verhältnissen bestens vertraut. In einer Schrift beklagte er sich bei den Behörden «über die ganz ungenügenden Räumlichkeiten, über die dadurch bedingte Erschwerung und die Unmöglichkeit einer richtigen Behandlung.»9

      Kinder hatten noch weniger Zugang zu medizinischer Versorgung als Erwachsene. Aus Platzgründen wurden sie in Königsfelden kaum aufgenommen. Hatte Rosa den Notstand erkannt, und sann sie auf Abhilfe, oder stand Urech hinter der Idee des Kinderkrankenhauses, wie gewisse Leute glauben wollten? Wer immer es war, Rosa nahm die Sache an die Hand und verfasste gemeinsam mit einflussreichen Freunden verschiedene Aufrufe, um das nötige Geld für das wohltätige Unternehmen zu sammeln.

      In einem gemieteten Haus nahm das Kinderspital am 19. Juli 1866 seinen Betrieb auf. Rosa führte es zusammen mit einer Krankenschwester und einer Spitalmagd. Für bestimmte Brugger Kreise soll es anstössig gewesen sein, dass eine Frau ein solches Werk ins Leben rief.10 Immerhin tat sie es nicht «zum Zwecke des Erwerbs, sondern aus Nächstenliebe und Erbarmen gegenüber leidenden Menschenkindern.»11

      Als das Spital funktionierte, wendete sich das Blatt. Zahlreiche Brugger steuerten Naturalgaben wie Holz, Mobiliar oder Seife bei. Die Gemeinde bestimmte eine Weihnachtsgabe von 138.36 Franken, sieben Bäcker taten sich zusammen und spendeten 80 Franken, statt ihren Kunden Neujahrsgeschenke zu überreichen. Fräulein Elise Stäblin richtete ein Legat an «den hiesigen von Frau Rahn-Vögtlin gestifteten Kinderspital zur beliebigen Verwendung» aus. Aus dieser Formulierung geht klar hervor, dass Rosa tatsächlich als Stifterin wahrgenommen wurde. Selbst die Regierung in Aarau unterstützte die Einrichtung mit 200 Franken, was im Grossen Rat zu einem Nachspiel führte. Die Prüfungskommission beanstandete, dass der Regierungsrat das Geld seiner Kompetenzsumme entnommen habe, die ausschliesslich ausserordentlichen Aufwendungen vorbehalten war.

      Zu Beginn konnten acht Kinder betreut werden, weitere Anmeldungen wurden aus Platzmangel nicht berücksichtigt. Bereits dachte die Leiterin über eine Erweiterung nach. Einen Spendenaufruf vom August 1867 unterzeichneten neben anderen wichtigen Bruggern Rosas Bruder Julius sowie Rudolf Urech.

      Der Brugger Mediziner Rudolf Urech12 (1815–1872), der Rosa seit der Gründung mit Rat und Tat zur Seite stand, betreute die Institution auch als Hausarzt. Als die beiden ihre Zusammenarbeit aufnahmen, hatte Urech bereits eine bewegte Karriere hinter sich. 1847–1862 war er Spitalarzt in Königsfelden gewesen, dann eröffnete er eine eigene Praxis in Brugg. Gleichzeitig sass er im Grossen Rat. 1862–1866 war er Regierungsrat, eine Aufgabe, die er nicht gesucht hatte und die er nach einer Amtszeit aufgab, um in seinen medizinischen Beruf zurückzukehren. 1868 wurde er in den Nationalrat gewählt.

      Als Rudolf Urechs zweite Frau 1866 starb, lebten noch drei seiner Söhne zu Hause, Rosa und Urech dachten an Heirat. Wegen der angeschlagenen Gesundheit des Bräutigams zögerte sich eine eventuelle Hochzeit immer wieder hinaus. Marie verfolgte die Geschichte mit grosser Anteilnahme. «Tante Rahn ist immer noch Tante Rahn, und denke, Hr. Dr. Urech ist letzte Woche sehr krank gewesen, so dass man ernstlich besorgt war. Ich denke mir immer wie merkwürdig es wäre, wenn er sterben müsste und Tante wieder frei würde. Es thäte mir aber sehr leid und Tante würde erst dann fühlen wie gross seine Liebe war», kommentierte Marie im November 1868.13 Im Dezember schrieb sie wiederum an ihre Freundin: «Herr Dr. Urech ist immer noch nicht gesund, jede Erschütterung macht ihm Schwindel, diese Krankheit hat natürlich nun wieder alles in die Länge gezogen.» Und im Januar 1869: «Herr Dr. Urech ist an und für sich schon viel besser, aber die Schwindeldisposition ist immer da und auch hat er Ohrengeschichten; er glaubt, das eine Trommelfell sei zerrissen. Also ist der Bräutigam noch als solcher ins neue Jahr geschlittert; vor 14 Tagen sei von Heirathung keine Rede; nun vermuthlich ist der Januar wieder hinausgeschoben – du begreifst, dass ich unter solchen Umständen nicht blos nicht mehr fragen, sondern über die Sache auch nicht mehr nachdenken möchte – es kommt mir sonst in die Fingerspitzen.»14

      Schliesslich wagten die beiden 1869 den Schritt, doch war das Glück nur von kurzer Dauer. Rudolf Urech starb 1872 bei einem ärztlichen Einsatz, nachdem er eine 3½-stündige Amputation abgeschlossen hatte. Rosa liquidierte das Erbe und baute sich als Alterssitz das Wohnhaus, in dem sie bis zu ihrem Tod 1897 lebte.

      Das Kinderspital dagegen verblieb vorläufig in einem Mietshaus. Dies führte immer wieder zu prekären Situationen. Auf die Dauer brauchte das Spital für seine Schützlinge ein eigenes Gebäude. Erneut wandte sich Rosa an die Öffentlichkeit und bat um finanzielle Hilfe. Auf einem eigenen Grundstück und auf eigenes Risiko entstand 1881 endlich ein Haus für zwölf kleine Patienten. «Darin werden kranke Kinder aus mittleren und ärmeren Volksklassen gepflegt, namentlich solche, die langwierige Leiden haben oder die schwieriger Operationen bedürfen.»15 Für einen Verpflegungstag bezahlten die Kinder pauschal 50 Rappen.

      1894 übertrug die 74-jährige Stifterin die Spitalleitung einer Kommission. Der Stiftungsrat ernannte seinerseits zusätzlich ein «Damenkomitee», in dem bis zu Rosas Tod Marie Rahn, ihre Zürcher Nichte, einen Sitz hatte. Anna Vögtlin, die Nichte aus Brugg, löste sie ab und war von 1899 bis 1922 Mitglied.

      Rosas Stiefkinder waren alle vor ihr verstorben. «Sie überlebte ihre Brüder, hinterliess allein ihre Nichten Anna Vögtlin und Maria Heim-Vögtlin, von ihrer Anverwandtschaft aus Zürich besonders die Nichte Maria», hiess es in der Todesanzeige. Der nicht dem Kinderspital übermachte Nachlass ging an Anna Vögtlin und Marie Heim-Vögtlin. Nach dem damaligen Stand des Rechts musste sich Marie von ihrem Ehemann Albert Heim vertreten lassen. Die Erben verkauften Rosas Wohnhaus. Dem Spital überliessen sie die vorhandenen Schuldbriefe, Obligationen und Sparhefte im Wert von 53 000 Franken.

      Obschon 1887 in Aarau das neue Kantonsspital mit einer Kinderabteilung eröffnet worden war, hatte die Brugger Institution weiterhin Bestand. Eine Spitalmagd und zwei Diakonissen aus Riehen führten das Haus. Eine der Diakonissen war gleichzeitig die Gemeindeschwester. Da die Kapitalbasis längerfristig nicht ausreichte, brauchte das Unternehmen ein neues juristisches Kleid. 1905 entstand deshalb eine gemeinnützige Stiftung unter dem Namen «Urech’scher Kinderspital Brugg» – ein ehrendes Denkmal für die Gründerin. Im 20. Jahrhundert wandelte sich das Krankenhauswesen von Grund auf, Tante Rahns Gründung wurde zum «Reformierten Kinderheim Brugg.»

      Als Marie sich in Zürich mit ihrem ehemaligen Verlobten Fritz Erismann treffen wollte, musste sie von Tante Rahn äusserst heftige Kritik einstecken. Marie berichtete ihrem Vater: «[…] vielleicht weisst du es zwar schon, dass Tante Rahn mir letzte Woche einen Brief geschrieben hat, der mich wirklich am ganzen Körper zittern machte, der mich furchtbar betrübt hat. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Christin so mit solcher Härte und grenzenloser Rücksichtslosigkeit sprechen kann. Ohne auch nur von Ferne zu zögern, alle Gefühle seines Nebenmenschen anzugreifen, bitter zu verletzen. Ich habe gegen Tante durchaus keinen Groll gefühlt, weil ich überzeugt war, dass sie das Rechte zu thun glaubt, aber es hat mich unendlich betrübt, dass sie mit mir, dass sie überhaupt gegen einen Menschen so verfahren könne.»16

      Dass die Tante um den guten Ruf der Nichte besorgt war, ist

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