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Selbst nachdem ihre Nichte bereits über ein Jahr mit Vergnügen an der Universität studiert hatte, unterliess sie Sticheleien gegen Maries Werdegang nicht. So unterstellte sie im Gespräch mit Marie einem ihrer Professoren (Biermer), er habe gesagt, das Gesetz betreffend Maturitätsprüfungen sei «eine Demonstration gegen die studierenden Frauen.» Ausgerechnet jener Professor war ein überzeugter Anwalt des Frauenstudiums, und es war Marie selbst, die mit ihren Freundinnen auf eine Gesetzesänderung hingewirkt hatte. Marie rief ihrem Vater in Erinnerung: «Zweitens hat sie ja zu Neujahr noch behauptet, ich meine und sage jetzt nur, ich sei glücklich in meiner neuen Lage, während jeder, der irgend unbefangen urtheilen will, gut genug sieht aus meiner ganzen geistigen Verfassung, dass alles für mich anders geworden ist […]. Dass sie es gut mit mir meint und mich in ihren Briefen sehr liebt, weiss ich und anerkenne ich vollständig.»17

      Im Sinn ihrer Zeit hatte Rosa trotz viel Schwerem eigentlich eine weibliche Bilderbuchkarriere gemacht. Ihre beiden Ehemänner waren erfolgreiche, bedeutende Persönlichkeiten, beruflich herausragend, politisch und sozial engagiert, finanziell abgesichert. Im gemeinnützigen Bereich fand die Witwe eine Aufgabe, bei der sie ihre vielfältigen Talente unter Beweis stellen und echte Not lindern konnte. Anders als ihrem Bruder gelang es ihr allerdings nicht, über den konservativen Schatten zu springen.

       Die Würfel fallen …

      «Verzage nicht. Du hast ein schönes, weites Leben vor Dir, das Du gestalten kannst nach Deinem freien Willen, und Du wirst etwas schönes daraus machen. Ich weiss ja aus Erfahrung, dass ein doppelt gesegnetes Leben daraus werden kann.»1 Mit diesen Worten tröstete Marie ihren Sohn Arnold, nachdem seine Freundin einen anderen Mann geheiratet hatte.

      Im Januar 1868 hielt sich Marie im Kurhaus Brestenberg auf, das Adolf Erismann, einem Onkel von Fritz gehörte. Von dort aus schrieb sie ihrem Vater über ihren Plan, Medizin zu studieren. Was sie nie zu hoffen gewagt hatte, traf ein: Ihr Vater gab sein Einverständnis. Selbst für einen jungen Mann wäre ein Medizinstudium eine Herausforderung gewesen. Im ganzen Kanton Aargau praktizierten zu jener Zeit keine hundert Ärzte! Marie berichtete ihrer Freundin Marie Ritter die aufregenden Neuigkeiten: «Wie soll ich es heute anfangen, Dir zu schreiben? Ich kann es fast nicht unternehmen, weil ich Dir so unendlich vieles sagen möchte, was ich ja niemals mit der kalten Feder tun kann – ich möchte bei Dir sein, o nur eine Stunde, wie wäre das für mich eine Wohltat!

       Seit ich zum letzten Mal geschrieben, habe ich mehr durchlebt, als früher in zehn Jahren zusammen genommen, und ich kann kaum glauben, dass von diesem Jahr erst ein Monat vorbei sei. Immer ist es für mich der Anfang des Jahres, der in meinem Leben zum entscheidenden Moment wird. Marie, ich werde voraussichtlich mein Ziel erreichen! Ich werde Medizin studieren, irgendwo ein Staatsexamen machen und dann das Leben antreten, wonach meine heissesten Wünsche streben. Die letzte Woche war ich in Brestenberg; von dort aus habe ich schriftlich meinem Vater alles gesagt; ich habe ihm erklärt, wie es so hat kommen müssen, dass ich für keine Arbeit Lust und Mut habe als für diese. Als ich heimkam, zitternd vor Spannung, da erkannte ich mehr als je, wie gut, wie treu mein Vater an mir gehandelt, wie sehr er mich liebt. Er gibt mir seinen Segen zu meiner Arbeit, er lässt mich gewähren, mit grossen Sorgen allerdings, aber er versteht, dass dies für mich der allein richtige Weg sei. Und ich werde nun nicht einmal grosse Umwege einschlagen müssen, um zu meinem Ziel zu gelangen – ich kann ihm direkt entgegengehen. Wahrscheinlich bleibe ich nun bis zum Herbst noch zu Hause, um unter meines gütigen Onkels Doktors Leitung gründliche Vorstudien zu machen. Und nachher werde ich nach Zürich auf die Universität gehen.

       O Marie, nicht wahr, Du freust Dich mit mir? Für mich war die Macht der Freude, die plötzliche Entladung der schweren Last so gewaltig, dass ich fast krank davon wurde, und mehrere Tage ganz betäubt war. Nach und nach komme ich nun zum Verständnis, wie gross die Erleichterung ist, und ich werde nun wieder zu leben anfangen.

       Allerdings ein ernstes Leben, in welchem jede Minute mich erinnern wird an die grosse Verantwortlichkeit, die nun auf mir ruht. Denn wenn mein Weg auch ein schöner und lohnender ist, so ist er dennoch ein dorniger Weg, voller Schwierigkeiten. Aber keine davon ist unüberwindlich, ich will sie alle überwinden.» 2

      Gerne wäre Marie gleich im Frühjahr losgezogen, doch damit war Julius nicht einverstanden. Ob er in einem Winkel seines Herzens noch hoffte, Marie könnte ihre Meinung ändern? Die Verwandtschaft jedenfalls machte sofort Schwierigkeiten, ein junges Mädchen aus angesehener Familie sollte keine unpassenden Emanzipationsgelüste hegen. Die lieben Angehörigen zweifelten – wie so viele ihrer Zeitgenossen –, ob Frauen zu einer Hochschulbildung fähig seien. Um Maries guten Ruf nicht zusätzlich zu gefährden, verbot Pfarrer Vögtlin jeden weiteren Briefwechsel mit dem früheren Verlobten. Der Sturm der Entrüstung verbreitete sich von Brugg aus nach Bern und Zürich. Die Berner Zeitung «Der Bund» schrieb am 6. April 1868:

      «Der Leser erinnert sich noch der Russin, die voriges Jahr in Zürich zur Doktorin der Medizin ernannt wurde. Bald darauf hiess es, sie sei bei der Rückkehr nach Russland verhaftet worden, weil die russische Polizei in Erfahrung gebracht habe, dass sie in Zürich Verkehr mit Polen gehabt und Briefe von denselben mitgenommen habe. Daran scheint nach der ‹Neuen Zürich Zeitung› kein wahres Wort zu sein, denn vor kurzem hat sich die Dame in Wien mit einem Dr. med. aus dem Aargau verlobt. Dies Ereignis habe eine Aargauerin zu dem Entschluss gebracht, ebenfalls Medizin zu studieren und sich den drei Engländerinnen anzuschliessen, die gegenwärtig die medizinischen Vorlesungen in Zürich besuchen.»

      Übelwollende Brugger witterten Ungemach, anders lassen sich die folgenden Zeilen Maries an ihre Freundin Marie Ritter nicht verstehen:

       «Die Zeit hat nun begonnen, wo der allgemeine Sturm losbricht, wo mein Plan das Tagesgespräch wird. Der ‹Bund› und die ‹Neue Zürcher Zeitung› haben sich bereits derselben bemächtigt, um ihn in die Öffentlichkeit zu tragen und ihm einen so unaussprechlich gemeinen Beweggrund zu geben, dass ich lange den liebenswürdigen Artikel nicht verstand. Mir selbst, wie Du Dir denken kannst, macht dies sehr wenig Eindruck – ich habe ein gutes Gewissen bei der Sache und werde mich vor niemandem ihrer schämen – es sind ja schon bessere Menschen als ich verdächtigt, verleumdet worden, und ich habe mich entschlossen, auch diese Widerwärtigkeit mir zum besten dienen zu lassen, indem ich dadurch nur fester und stärker werden will. Aber denke, nun hat dieser gemeine Zeitungsartikel, der keiner Notiz würdig ist und dem Einsender gewiss nur zur Schande gereicht in den Augen von rechten Leuten, meine Verwandten dergestalt in Aufruhr gebracht, dass sie sich gebärden, als wären sie die Träger und Märtyrer der Frauenschande, die ich nun über sie bringe. Es ist wirklich bunt!

       Fremde Menschen, um deren Urteil ich mich nicht zu kümmern brauche, mögen über mich sagen, was ihnen beliebt; ich weiss ja, sie können mir doch nichts schaden, und meine Sache kann dennoch triumphieren, ihnen zum Trotz; aber dass diejenigen, mit denen umzugehen ich beständig gezwungen bin, deren entsetzliche Vorstellungen und Bedenken ich nun noch sieben Monate lang anhören muss – mir nur mein Leben erschweren wollen, das ist wirklich schlimm, und mir kommt es vor, es sollte sich niemand wundern, wenn es mich an allen Haaren aus diesem Spektakel hinauszieht.» 3

      Unter dem Druck seiner Umgebung wurde Pfarrer Vögtlin beinahe schwach. Er beriet sich mit zwei seiner besten Freunde, Dr. Stäbli in Aarau sowie Maries Pate, Pfarrer Hagenbuch. Die beiden Herren und die Schwester Anna stellten sich auf Maries Seite. Andere Verwandte wollten das verirrte Kind auf den rechten Weg zurückbringen.

       «Ich habe nur mit sehr wenigen Leuten in letzter Zeit über mein Projekt gesprochen und diese haben dasselbe mit grossem Interesse aufgefasst und durchaus nichts von dem Entsetzen gezeigt, welches meine Verwandten beseelt; diese machen sich selbst und anderen immerfort weiss, ich werde ‹will’s Gott› bis zum Herbst noch anderen Sinnes werden. –

       Nun muss ich Dir danken, dass Du mich auf die Gefahr aufmerksam machst, ich möchte zu eigensinnig werden. Diese Mahnung

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