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sich eine Krise ab, Marie Ritter fürchtete, sie stehe nun nicht mehr an erster Stelle. Marie stellte richtig: «Und doch fühle ich so lebhaft, wie ferne ich bin von der Veränderung, die Du Dir dachtest; ich fühle, dass ich Dich immer mehr und mehr lieben werde, wenn das sein kann – ich weiss dass keine andere Frau – Mady15 ausgenommen – mir so nahe stehen könnte wie Du.»16

      Und an anderer Stelle: «Ich freue mich so sehr, wenn Du früher kommst; aber ist es möglich, dass Du nicht bei mir wohnen willst? Was kann dich zu diesem Entschluss bewegen? Ich wundere mich, ob doch zu innerst in Deinem Herzen ein Gefühl steckt, wie wenn mein jetziges Leben mich von Dir entfremden müsste? Ich wollte, Du sagtest es mir ganz aufrichtig. Ist es so, so kann ich nichts machen, bis wir einander sehen. Solche Gefühle lassen sich durch Worte nicht töten, ich weiss es.»17

      Wie Marie vermutete, schloss Marie Ritter auch Maries amerikanische Studienfreundin Susan Dimock (1847–1875) ins Herz. Grosszügig suchte sie für Susan Dimocks Weihnachtsferien 1868 eine Unterkunft in Schwanden. «Sie war ein seltsamer Mensch, angenehm, gebildet, gutherzig, dabei einfach und anspruchslos.» Und die 86-Jährige fährt fort: «Sie ist mir unvergesslich und wenn ich ans Sterben denke, so freue ich mich allemal darauf, sie wieder zu sehen.»18

      Marie Ritter blieb lange erstaunlich rüstig. Noch im hohen Alter marschierte sie von Schwanden nach Glarus. «Man ist im Handumdrehen 90», soll sie jeweils gesagt haben.19 Obschon ihr nicht die Möglichkeiten späterer Generationen offen standen, schliessen Marie Ritters Lebenserinnerungen versöhnlich: «Am meisten freut mich, dass ich es daheim so schön habe und eine ganz gemütliche alte Jungfer geworden bin.»20

       Das Brugger Kinderspital und seine Gründerin «Tante Rahn»

       «Durch die Pflege von kranken Familiengliedern lernte ich diese Beschäftigung lieben, und als ich während einiger Zeit in unserem kleinen Kinderspital die Stelle der Hausmutter versah, und dabei Wunden versorgen und innerliche Krankheiten beobachten lernte, überzeugte ich mich, dass das Gebiet der Sorge für Kranke meine Bestimmung sei. Anfänglich dachte ich blos an Krankenpflege, aber bald entstand in mir ein so grosses Bedürfnis nach medicinischem Wissen, dass ich beschloss, alle meine Kräfte darauf zu verwenden, um dahin zu gelangen, die medicinische Wissenschaft in ihrer ganzen Ausdehnung zu studiren, mit dem Ziel, später die ärztliche Behandlung von Frauen und Kindern übernehmen zu können.» 1

      Die Erfahrungen im Kinderspital mit seinen schwer kranken kleinen Patienten prägten Maries Weltbild. Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, war nicht die Frucht einer romantischen Laune, sondern entwickelte sich aus der praktischen Arbeit am Krankenbett. Weshalb sie sich nicht mit Krankenpflege begnügen wollte, wie es ihre Zeitgenossinnen getan hätten? Vielleicht spielte der elende Zustand ihrer Schützlinge eine gewisse Rolle. Wirkliche Hilfe setzte gründliches medizinisches Wissen voraus.

      In den schwierigen Monaten vor Beginn des Studiums (Frühling/Sommer 1868) fand Marie Trost im Umgang mit den kranken Kindern. Damals ging sie davon aus, dass sie nie eine eigene Familie haben würde: «Im Kinderspital geht mir das Herz am meisten auf, wo ich mich der Liebe der Kinder freuen und auch sie hin und wieder glücklich machen kann. Wenn ich so bei den Kindern bin, so kann ich mich oft kaum mehr von ihnen trennen, sondern möchte sie ganz alleine für mich haben, damit sie die unendliche Lücke in meinem Herzen füllen könnten.»2

      Emotional blieb Marie den kleinen Patienten im Spital auch als Studentin verbunden. Aus ihren ersten Semesterferien schrieb sie: «Weihnachtsabend habe ich bei den lieben Spitälikindern zugebracht; ihr Willkommen hat mein Herz erfreut; ich weiss nicht, wie es kommt, dass sie mich so sehr lieben, während ich doch nichts für sie tue. Ich kleide auf Neujahr eine grosse Puppe für sie; die muss dann jedenfalls Marie heissen.»3

      Im «Aargauischen Hausfreund» erschien 1867 ein erster Jahresbericht über die Arbeit des Kinderspitals. Der medizinische Teil stammte aus der Feder des Hausarztes Rudolf Urech, mit dem sich Marie immer wieder austauschte. Er gab Auskunft über die Krankheiten der betreuten Patienten: «Knochenfrass4 und Hüftgelenkvereiterung, Entzündung der Hals- und Rückenwirbel, Skrofuloseentzündung beider Augen und chronische Bronchitis, Lungenentzündung, Knochenhautentzündung und Beinfrass der linken Hand und beider Füsse, Herzübel und Wassersucht, Knochenschwamm, von Ungeziefer bevölkerter Ausschlag und fressendes Geschwür an der Backe (lupus), Beinhautentzündung und Knochenbrand.»5 Die beschriebenen Knochen, Gelenke, die Haut sowie die Lymphknoten waren vermutlich alle von Tuberkulose befallen, eine damals weit verbreitete und gefürchtete Krankheit. Zwei Mädchen konnte nicht mehr geholfen werden, sie starben.

      Gründerin des Kinderspitals war Maries Tante Rosa Rahn-Vögtlin (später Urech-Vögtlin, 1820–1897). Rosa Vögtlin, Julius Davids jüngere und einzige Schwester, war beim Tod ihres Vaters knapp elf Jahre alt. Mit der Mutter zog sie von Aarau zurück nach Brugg. Ihre beiden Brüder waren inzwischen Universitätsstudenten und lebten auswärts. Über ihre Kindheit und Ausbildung ist nichts bekannt. 1841 heiratete sie den Zürcher Juristen Johann David Rahn (1811–1853),6 der in ihr, gemäss Stammbuch der Familie Rahn, eine «gleichgesinnte Lebensgefährtin»7 fand.

      Durch ihre Heirat wurde Rosa Vögtlin Teil einer bedeutenden, gelehrten Zürcher Familie, die zutiefst traditionellen Werten verpflichtet war. Die Rahns sind ein altes Zunftmeister- und Ratsherrengeschlecht. Rosas Schwiegervater, Dr. med. David Rahn (1769–1848), war bis zur Gründung der Universität Zürich «Archiater», das heisst Staatsarzt beziehungsweise der höchste Zürcher Arzt. Nach seinem Rücktritt aus dem Berufsleben bekleidete er weiterhin verschiedene wichtige Ämter. Bis wenige Wochen vor seinem Tod präsidierte er beispielsweise die Vorsteherschaft der Höheren Töchterschule.

      

      Maries «Tante Rahn», Rosa Urech-(Rahn-)Vögtlin (1820–1898) gründete in Brugg das erste Aargauer Kinderspital, das 1866 seinen Betrieb aufnahm. Sie war eine begabte Organisatorin, die es verstand, für die gute Sache immer wieder die nötigen Mittel aufzutreiben.

      Rosa zog in eine Stadt, in der die politischen Wogen hochgingen. Die rasante Modernisierung, die sich die liberale Zürcher Regierung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, machte auch vor der jungen Universität nicht halt. So hatte der Erziehungsrat den rationalistischen Bibelinterpreten David Friedrich Strauss (1808–1874) als Professor für Neues Testament berufen. Konservativen Christen – darunter Vertretern der Familie Rahn – missfiel dessen bibelferne Auffassung des Christentums. Auf der Zürcher Landschaft gärte es seit längerem, denn auch die Wirtschaft befand sich im Umbruch, die von der Obrigkeit bestimmte Zwangsmodernisierung verunsicherte viele Menschen. Die Ernennung des Theologen löste deshalb eine breite Protestbewegung aus. Im sogenannten Zürich-Putsch vom 6. September 1839 drang die unzufriedene Landbevölkerung in die Stadt ein, bürgerkriegsähnliche Zustände wurden knapp verhindert. Strauss kam nie nach Zürich, sondern wurde gleich in Pension geschickt.

      Rosas Schwager, Hans Conrad Rahn (1802–1881), war wie sein Vater Arzt. In diesen unruhigen Tagen spielte er eine aktive Rolle, was sich unmittelbar auf die Laufbahn seines jüngsten Bruders – Rosas Gatten – auswirkte. Für kurze Zeit hatten die Konservativen das Sagen. Hans Conrad Rahn zog in den Grossen Rat und in den Erziehungsrat ein, wo er für die Wahl einiger bedeutender Universitätsprofessoren verantwortlich war. Getreu seiner Überzeugung, ein Kanton habe sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen einzumischen, liess er einige Jahre später – im März 1845 – den Luzerner Schultheiss vor dem zweiten liberalen Freischarenzug warnen. Auf seine Weise bezog er – konservativ – Stellung in der Sonderbundsfrage und mischte diskret doch ein bisschen mit.

      Rosas Ehemann Johann David Rahn hatte in Göttingen, Berlin und Bonn Jurisprudenz studiert. Nach dem Zürich-Putsch wurde auch er in den Grossen Rat gewählt und zudem zum Staatsanwalt des Kantons Zürich befördert. Als die Liberalen 1849 an die Macht zurückkehrten, verlor er diese Stellung wieder. Rahns

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