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In einem Brief vom 11. April 1864 an ihre Familie in Brugg schildert Marie ihren Alltag. Rudolfine war für einige Tage verreist: «Die letzte Woche ist unter den vielen Beschäftigungen, die sie mir brachte, pfeilschnell dahingegangen. Ich bin jetzt also Haushälterin und als solche habe ich manches zu denken und zu besorgen; es ist aber bisher alles auf ’s Beste gegangen und ich bin schon sehr fröhlich und vergnügt bei meinen Geschäften, obschon ich mich auch wieder herzlich auf unserer rechten Hausmutter Rückkehr freue […]. Alice hat bis morgen Ferien; da habe ich mich auch viel mit ihr abgegeben und sie hat mir recht Freude gemacht. Ich muss mich oft verwundern, wie sie so sehr an mir hängt. Ich glaube, ich könnte alles mit ihr anstellen, ohne dass sie bös auf mich würde. Auch Emma will nun bei niemand anders sein, als bei mir und ich muss sie fast immer tragen oder auf dem Schoss haben. Ich habe aber eine grosse Freude an dieser Anhänglichkeit […]. Am Freitag hatte ich fünf kleine Freundinnen für Alice eingeladen, um ihr eine rechte Ferienfreude zu machen. Ich spielte die ganze Zeit mit den Kindern und wir machten es uns sehr lustig zusammen.»5 Von Mina und dem kleinen Albert hören wir in diesem Brief nichts, vielleicht waren sie in diesen Tagen auswärts.

      Eine Hausmutter musste improvisieren können: «Gestern war ich in einem argen Pech. Ich kam eben von einer wundervollen Predigt von Dr. Held zurück; da hiess es, ein Lyoner Freund von Herrn Blumer sei hier gewesen und werde wahrscheinlich hier bleiben; ich hatte schon viel von ihm gehört, als dem vornehmsten und reichsten von all den befreundeten Lyonern […], um 11 Uhr endlich liess man mir sagen, Herr Dobler werde bei uns zu Mittag essen und zwar gleich nach zwölf […], stellt Euch meine Verlegenheit vor; ich hatte ein ganz einfaches Mittagessen bestellt.»6 Offensichtlich beschäftigten Blumers eine Köchin, der Marie in Rudolfines Abwesenheit die entsprechenden Aufgaben zuteilte. Die Bözener Wirklichkeit lag in weiter Ferne.

      Marie durfte Blumers zu Gesellschaften begleiten, wo man sie als junge Dame von Welt behandelte, sie wurde auf den Ehrenplatz neben dem Gastgeber platziert: «Donnerstag Abend waren wir in einer grossen Gesellschaft bei Herrn Nüschelers; ich traf wenig Bekannte, hatte aber zum Tischnachbarn den Hausherrn, der sehr amüsant ist und mit dem ich mich auf’s Beste unterhielt. Beim Heimgehen war es sehr kalt; ich hatte einige Tage nachher sehr entzündete Augen, die mir ziemlich Schmerzen machten.»7

      

      Marie als junge Frau, vermutlich kurz nachdem sie bei Rudolfine Blumer die Führung eines Grosshaushaltes gelernt hatte.

      Bis ins hohe Alter spielte Rudolfine im Leben der Grossfamilie eine zentrale Rolle. In ihrem Haus herrschte stets ein lebhaftes Kommen und Gehen. Immer wieder drängten sie die Umstände in die Rolle der «Anstandsdame», die ihre ländlichen Verwandten bei ersten Gehversuchen in der Stadt vor allerhand Fallstricken bewahren sollte. Auswärtige Familienangehörige auf Durchreise nutzten ihre Adresse gerne als Hotel.8 So liess sich auch Maries Schwester Anna in Zürich beherbergen, um den Zahnarzt zu besuchen: «Rudolfine ist gerne bereit, Dich zu empfangen, wenn Du kommen willst, das Zimmer sei immer bereit.»9

      Rudolfines Heim war Schauplatz einiger biografisch wichtiger Ereignisse und Begegnungen. Hier traf sich Marie immer wieder mit ihrem ersten Verlobten, Friedrich Erismann, und hier kamen die beiden am 3. Januar 1867 überein,10 ihre Beziehung aufzulösen. «Fritz», Henriettes Neffe, war als Cousin mit Rudolfine genau so nahe verwandt wie Marie und profitierte in jungen Jahren häufig von ihrer Gastfreundschaft. – Kurz vor Studienbeginn musste Marie ganz besonders auf ihren guten Ruf achten. Was lag näher, als bei Rudolfine zu logieren, um in Zürich Einzelheiten über die Immatrikulation abzuklären? Nachdem sie in Zürich bereits eine eigene Adresse hatte, lernte Marie im Hause Blumer die Italienischlehrerin Sophie Heim kennen und traf – bei Rudolfine selbstverständlich – erstmals deren Bruder, ihren künftigen Gatten Albert Heim.

      Wie sehr sich die Welt der Familie Blumer vom bescheidenen Pfarrhaus in Bözen unterschied, mögen einige Hinweise illustrieren. Wenige Jahre nachdem Marie ihre Praxis in Hottingen eröffnet hatte, bezogen Blumers in ihrer Nachbarschaft eine Mietwohnung an der Zürichbergstrasse,11 für die sie eine Jahresmiete von 3000 Franken bezahlten. Möglicherweise war in dieser Summe die Miete für ein Seidenlager enthalten. Das damals neue Gebäude bot einen herrschaftlichen Wohnkomfort. (Zum Vergleich: Albert Heims Gehalt als junger Professor an der ETH betrug jährlich 3800 Franken.)

      Die kleinen Mädchen, die Marie so sehr ans Herz gewachsen waren, heirateten alle erfolgreiche Ehemänner: Mina, die Älteste, wurde die Gattin des damals reichsten Zürchers, Gustav Adolf Tobler, und lebte in der Jugendstilvilla an der Winkelwiese. Alice und Emma lebten in Basel. Alice heiratete den künftigen Präsidenten des Schweizerischen Bankvereins, Emma einen Direktor der Gesellschaft für Chemische Industrie, der späteren Ciba-Geigy. Über die Ehe der kleinen, anschmiegsamen Emma schrieb eine Verwandte: «[…] Emma Blumer, die sehr energisch und streberisch war und ihn [Eduard Ziegler], den ‹Ultragutmütigen›, ganz leitete. Es war aber wirklich zu seinem Glück.»12

       «Jetzt lese ich etwas Hochinteressantes. Tante Lotte hat unsere ganze Korrespondenz aus meinen ersten Jugendjahren, meiner ersten Brautzeit und dann der inneren Entwicklungsjahren aufbewahrt und angeordnet, immer Antwort auf Antwort, und mir die Briefe zum Aufheben übergeben. Ich habe sie schon jahrelang bei mir gehabt, aber nie Zeit zum Lesen gefunden. Jetzt in diesen Tagen des Hierseins nehme ich sie vor – und wie ist das hochinteressant! Es ist mir ja fast, wie wenn es ein anderes Wesen gewesen wäre, nicht ich. – Ich habe mich völlig in jene Werdezeit hinein gelebt, zuerst in meine erste Brautschaft, die kindliche, wie zu einem Gott aufschauende, grenzenlose Liebe, dann ihr allmählicher Rückgang von der anderen Seite, das Erziehungswerk, mein allmähliches, unter schwersten Leiden und Kämpfen erzwungenes Selbständigwerden. Dann die Trennung ohne Bitterkeit, aber für mich in grenzenlosem Leid; trotzdem Mut und Kraft zum Kampf für ein neues Leben: Die Bahn zu öffnen für Frauenärztinnen.» 1

      Die Botschaft der 67-jährigen Frau ist eindeutig: Ohne die gescheiterte Liebe zu ihrem Cousin Fritz Erismann (1842–1915) hätte Marie kaum ihre traditionellen Pfade verlassen. Seine Bedeutung für ihr persönliches Schicksal und das Schweizer Frauenstudium ist zentral. Leider sind die Dokumente, von denen Marie ihrem Sohn Arnold schreibt, nicht mehr erhalten. Sie waren bereits vernichtet, als Johanna Siebel wenige Jahre nach Maries Tod ihre Biografie verfasste.2

      

      Fritz Erismann (in der Bildmitte), Maries grosse Liebe, als Mitglied des schlagenden Studentencorps Tigurinia im Wintersemester 1862/63. Neben seinen Studien muss er Fechtunterricht genommen haben. In der Studentenverbindung lernte er den späteren General Ulrich Wille (1848–1925) kennen.

      Die engere Beziehung mit Fritz begann Ende 1864 oder wenig später. Im Herbst 1864 verlor Marie kurz nacheinander im September ihre Mutter Henriette Vögtlin-Benker und im November ihre Grossmutter Verena Vögtlin-Erismann. In dieser emotional schwierigen Zeit war die junge Frau bestimmt für jede Art von Zuwendung offen und dankbar. Damals übernahm Marie die Pflege der Mutter von Fritz, ihrer Tante Willhelmine Erismann-Benker, in Aarau. Am Krankenbett kam sie Fritz näher. Ferner lernte sie hier die Haushalthilfe Jette Schaffner kennen, die später in der Familie Heim eine grosse Rolle spielte.

      Das traurige Schicksal von Maries Tante war für die damalige Zeit nicht aussergewöhnlich. Nach wenigen Ehejahren starb 1846 Willhelmine Erismanns Gatte, der als Theologe in Gontenschwil tätig gewesen war. Nicht nur hatte sie ihren Partner verloren, sie musste auch ihr Logis für den Nachfolger räumen. Mit drei kleinen Kindern – Fritz, der Älteste, war vier Jahre alt – kehrte die Witwe ins elterliche Pfarrhaus nach Schöftland zurück, wo Fritz Kindheit und Jugend verbrachte. Seine beiden Schwestern starben in jungen Jahren.

      Als sich Marie in ihn verliebte, studierte Fritz in Zürich Medizin. Wenn sie in ihrer Rückschau

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