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mit dem Vater ihres Pflegekindes, Johannes Hundhausen, lässt sich nicht mehr dokumentieren, war aber zeitweise sehr herzlich.3

      Maries Leben spielte sich vor dem Hintergrund eines rasanten politischen und gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen und technischen Wandels ab. In ihrem Leben spiegelt sich immer wieder diese bewegte Epoche. Marie war zwei Jahre alt, als die erste Eisenbahn zwischen Zürich und Baden den Betrieb aufnahm. Am 3. Oktober 1898 überquerte ihr Gatte im Ballon «Wega» die Alpen, vier Jahre nach ihrem Tod kaufte sich Sohn Arnold 1920 ein Flugzeug. Marie erlebte die Einführung der Elektrizität und des Telefons. Sie war drei Jahre alt, als der Bundesstaat gegründet wurde, als Studentin verfolgte sie 1871 die Entstehung des deutschen Kaiserreichs mit, sie starb mitten im Ersten Weltkrieg, der den Untergang des alten Europa einläutete.

      Als Marie zum Studium nach Zürich kam, zählte die Stadt rund 20 000 Einwohner. Im Jahr von Arnolds Geburt, 1882, verkehrte in Zürich das erste Rösslitram. Mit der Eingemeindung der umliegenden Dörfer – auch Maries Wohnort Hottingen gehörte ab dem 1. Januar 1893 zur Stadt – schnellte die Einwohnerzahl auf 121 057. 1901 lebten bereits 150 000 Menschen in Zürich, 1912 über 200 000.

      Solche Veränderungen kannten nicht nur Gewinnerinnen und Gewinner. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts taten sich Frauen zusammen, um den Menschen auf der Schattenseite des Lebens beizustehen. Marie Heim-Vögtlin nahm ihre soziale Verantwortung wahr und engagierte sich nicht nur in privater Wohltätigkeit, sondern auch in der Sittlichkeits- und Abstinenzbewegung. Als eine der Gründerinnen der Schweizerischen Pflegerinnenschule schuf sie ein Frauenwerk, das rund 100 Jahre Bestand hatte. Die Privilegien, die sie dank ihrer akademischen Ausbildung genoss, empfand sie – ganz im Geist des 19. Jahrhunderts – stets als Verpflichtung.

      «Ich erlebte meine ganze Kindheit auf dem Lande. Da ich in dem einsamen Dorfe Bözen keine Gespielen hatte, so suchte ich meine Vergnügungen in Feld und Wald und es ist wohl dieser Umstand, dem ich meine spätere Liebe zu Naturwissenschaften verdanke. Die Freude meiner frühesten Kinderjahre, zu denen meine Erinnerung zurück reicht, waren Blumen und Wurzeln auf Wiesen und Feldern zu Hausmitteln zu suchen; ich sammelte Schneckenschalen von allen Arten, erzog Raupen zu Schmetterlingen, beobachtete die verschiedenen Arten von Ameisen und brachte ihnen allerlei Futter […].»1 Mit dieser Beschreibung einer idyllischen Welt beginnt die 25-jährige Studentin Marie Vögtlin einen Lebenslauf, den sie für die Aargauer Erziehungsdirektion schrieb.

      Am Zürcher Schreibtisch erinnert sich die junge Frau 1870 an die Abgeschiedenheit ihres Dorfes, an das Fehlen seelenverwandter Freundinnen, an beglückende Naturerlebnisse, an erste wissenschaftliche Neugier. Dann kokettiert sie mit Wissen, das sie sich wohl vor nicht allzu langer Zeit erworben hatte: «Die Glanzpunkte meiner Tage waren die Entdeckungsreisen auf die benachbarten Hügel, wo ich in glühender Sonne stundenlang umher kroch, um die im Jura häufig versteinert vorkommenden Ammonites und die gegliederten Stiele des Haarstern Cuerium liliformis zu suchen.»2 Maries Liebe zur Botanik begleitete sie ein Leben lang, wie Briefe aus der Studienzeit und Fotos der alten Frau belegen.

      

      An ihre Schwester Anna Vögtlin schrieb Marie während Jahrzehnten jede Woche einen Brief, die Korrespondenz ist grösstenteils verschollen. Anna besorgte den Haushalt ihres verwitweten Vaters bis zu dessen Tod.

      Marie Vögtlin kam als jüngstes Kind ihrer Familie am 7. Oktober 1845 im Pfarrhaus des «einsamen Dorfes» Bözen zur Welt. Das Aargauer Strassendorf Bözen liegt westlich des eigentlichen Bözbergs, damals die kürzeste Landverbindung von Zürich nach Basel. Bis heute sind in der Nähe Spuren der alten Römerstrasse sichtbar; völlig im Abseits, wie es dem kleinen Mädchen schien, lag Bözen also nicht.

      Die Volkszählung von 1850 zeichnet ein buntes Bild von Maries Umfeld. Die Statistik führt neben der fünfjährigen Marie ihre Mutter Henriette Vögtlin-Benker (*1802), den Vater, Pfarrer Julius David Vögtlin (*1813), die zwei Jahre ältere Schwester Anna (*1843) sowie die Dienstmagd Elisabeth Brändli (*1799) als Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses auf – für damalige Verhältnisse eine ausgesprochene Kleinstfamilie. Der ältere Bruder Julius (1842–1843) war im Alter von knapp einem Jahr gestorben und bleibt unerwähnt. – Das Pfarrhaus selbst wurde 1824/25 als schlichtes, klassizistisches Gebäude errichtet. An der Rückseite befindet sich eine Holzlaube über vier dorischen Eichen-Säulen.3 In Maries Kindheit war die Liegenschaft recht modern, aus heutiger Sicht wirkt sie romantisch und bescheiden.

      Am Stichtag der Volkszählung hatte die Gemeinde 539 Einwohner, die vornehmlich in Landwirtschaft und Rebbau – rund 50 Hektaren – tätig waren. Während Maries Kindheit besserten zahlreiche Haushalte ihr mageres Einkommen mit dem Zurichten von Stroh für die Strohindustrie auf.4

      In Bözen lebten der Gemeindeschreiber, je ein Wagner, Krämer, Küfer und Steinhauer, zudem jeweils ein Drechsler, Wegknecht, Stationsadjunkt, Bäcker und Schmied. Es gab je zwei Metzger, Zimmerleute und Schreiner, Näherinnen und Maurer, ebenfalls zwei Wirte und zwei Postillione (Postkutscher). Später wurde Marie Zeugin des Eisenbahnbooms, doch während ihrer Kindheit bedeutete die Pferdepost Mobilität.

      

      Im Pfarrhaus in Bözen kam Marie 1845 zur Welt und verbrachte da ihre Kindheit.

      Die Schneider waren zu viert, man zählte diverse Dienstmägde, Dienstknechte sowie Lumpensammler-Landarbeiter. Der Pfarrer mit seinem Siegrist und schliesslich ein Johann Heuberger (*1764), der als Beruf «Capitalist» angab, waren vermutlich zusammen mit dem «medicinischen Doktor», dem 1817 geborenen Johann Gottlieb Märk, so etwas wie die Prominenz des Ortes. – Im Dorf lebten auch einige Fremde: Vier Dienstknechte, zwei Dienstmägde und die beiden Postillione stammten aus dem benachbarten Grossherzogtum Baden. – Am Stichtag hielten sich andererseits 20 Bözener im Ausland auf, 19 lebten in Amerika und einer in Frankreich.5

      Die zwei Schullehrer betreuten jeder eine Abteilung, die Unter- und die Oberstufe. 1825 hatte Bözen diese Aufteilung eingeführt und für die Oberstufe Johannes Kistler eingestellt. Dieser war einer der ersten Aargauer Schulmeister, der eine fachliche Ausbildung im damals neu gegründeten Lehrerseminar besucht hatte. Seine Klasse zählte jeweils zwischen 60 und 70 Kinder. Zu Beginn seiner Laufbahn erhielt er eine Entschädigung von jährlich 130 Franken. Über fünf Jahrzehnte prägte er das Schulleben, erst am 28. Mai 1878 ging er in Pension.6

      Unter mühseligen Bedingungen produzierten Kleinbauern auf winzigen Flächen für den Eigenbedarf. Im Dorf gab es zudem eine Anzahl Rebberge. 1866, zwei Jahre nachdem Marie mit ihrer Familie Bözen verlassen hatte, fand eine Viehzählung statt. Sie erlaubt einen Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse. In Bözen lebten im Stichjahr 1866 82 Kühe, 99 Schweine und 85 Ziegen, jemand besass zwei Schafe, keiner der Bauern hatte ein Pferd.7 Der Charakter dieses Viehbestands deutet auf ein armes Dorf, man zählte mehr Ziegen als Kühe, die Milch diente in erster Linie der Selbstversorgung. – Im April 1902 machte Marie mit ihren Kindern einen Ausflug nach Bözen und zeigte ihnen ihr Geburtshaus und «Grossdättes» Kirche. Ihr Sohn Arnold hielt das Ereignis fotografisch fest: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts holten die Frauen Wasser am Dorfbrunnen.8

      

      Im April 1902 fotografierte Maries Sohn Arnold auf einem Familienausflug den Dorfbrunnen in Bözen. Noch immer holten die Frauen hier das Wasser.

      Die kleine Pfarrerstochter ging nicht nur in der freien Natur auf Entdeckungsreise, sondern half – wie die Bauernkinder ihrer Umgebung – tüchtig mit: «Daneben arbeitete ich viel auf dem Feld mit unsern Tagelöhnern, und mein grösster Stolz war, wenn ich ebenso schwer geladene Kartoffelkörbe, ebenso grosse Garben wie unsere Nachbarskinder nach Hause tragen konnte.»9 Ihre Biografin Johanna Siebel berichtet über Maries

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