Скачать книгу

In Maries Lebenslauf für die Aargauer Regierung sind Handarbeiten kein Thema. Für eine junge Frau waren solche Fertigkeiten selbstverständlich und, im Gegensatz zu den Naturbeobachtungen, für Maries angestrebtes Berufsziel unerheblich.

      Die sonnige Erinnerung an das Bözen ihrer Kindheit steht in merkwürdigem Gegensatz zu tragischen Vorfällen, die in jenen Jahren den Kanton Aargau und die künftige Schweiz erschütterten. In Maries Geburtsjahr schlossen sich die katholischen Kantone zum Sonderbund zusammen – ein Entscheid, der 1847 den bislang letzten innerschweizerischen Bürgerkrieg auslöste. Erst nach dem Sieg über die «Sonderbündler» war ein moderner Bundesstaat möglich, gab es Platz für die neue Schweiz. Ob die dreijährige Marie «hinter den sieben Bergen» etwas davon mitbekam? Ihre etwas ältere Freundin Marie Ritter (1842–1933) beschrieb in ihren Lebenserinnerungen den Abmarsch der Soldaten in ihren farbigen Uniformen.

      Doch zurück ins Jahr 1845. Damals vernichtete eine Pilzkrankheit, die Braunfäule, europaweit die Kartoffelernte. Innert weniger Wochen wurden grüne Felder braun, die Erdäpfel schrumpften schon im Boden und waren ungeniessbar. – Bereits seit rund hundert Jahren waren Kartoffeln im Aargau ein Hauptnahrungsmittel der Kleinbauern und Kleinhandwerker. Deshalb hatte die Kartoffelfäule vor allem für die arme Bevölkerung verheerende Folgen. In zahlreichen Gemeinden mussten Sparsuppenanstalten die Menschen vor Hunger und Krankheit bewahren. Diese Katastrophe läutete eine Auswanderungswelle ein. Die Missernte von 1850 war ein weiterer Rückschlag für arme Dorfbewohner. 1854, auf dem Höhepunkt der Auswanderung, suchten 41 Bözener ihr Glück in Übersee.11

      Wie erwähnt, war Marie im Lauf ihres Lebens Zeugin, wie die Schweizer Industrie aufblühte und wie ihre Heimat zum Eisenbahnland wurde. 1847 fuhr die sogenannte Spanischbrötlibahn zwischen Baden und Zürich. Während ihrer Kindheit stritt man sich heftig über die Frage des Verlaufs der Bahnlinien. Grosse wirtschaftliche und lokale Interessen standen auf dem Spiel. Durch welche Gegenden sollte beispielsweise die Bahnlinie von Baden in Richtung Basel führen? Die Zürcher «Handels- und Gewerbezeitung» kommentierte: «Der Plan [einer Bözbergbahn] erhält eine europäische Wichtigkeit. Der diametrale Handelsweg über die Landenge von Suez nach Ostindien kann für den Westen Europas keine kürzere Route einschlagen.»12

      Maries Landschaft als Teil der grossen Welt – ein Punkt auf der Landkarte zwischen Paris und dem 1869 eröffneten Suez-Kanal? Maries Bözener Träume waren handfester. In jenem Jahr 1869 schrieb die Studentin aus Zürich an ihren Vater, sie habe von der Pfarrwahl in Bözen geträumt: «Am Himmelsfahrtstag früh träumte ich so lebhaft, ich war in der Kirche von Bözen und sah, wie man die Stimmen zählte und Herr Keller hatte die Mehrheit für sich.»13 Jakob Keller wurde tatsächlich gewählt.

      Während ihres ganzen Lebens blieb das Dorf in Maries Briefen gegenwärtig. Wenige Wochen vor ihrem Tod bat sie ihre Schwester Anna um Hilfe: «Wo muss man dies Jahr Härdöpfel hernehmen? […] Wie steht es wohl damit in Bözen? Haben sie gute und übrig zum Verkaufen? Ich würde ja den höchsten Preis bezahlen. Und dann nimmt mich wunder, wie es dort dem Chüeli geht.»14 Wie in ihrem Geburtsjahr waren auch 1916 die Kartoffeln im Boden verfault.

       Die Eltern: Henriette Benker und Julius David Vögtlin

      Maries Mutter Henriette Benker stammte aus einer Thurgauer Theologendynastie. Ihr Vater – Maries Grossvater – Johann Ulrich Benker1 (1766–1850) war Theologe wie schon zuvor sein Vater, sein Grossvater und der ältere Bruder. Einzig der jüngere Bruder Conrad entzog sich der Familientradition und wurde Arzt. Gute Stellen waren damals rar, junge Theologen warteten oft jahrelang auf ein geregeltes Auskommen und sahen sich gezwungen, eine Familiengründung immer wieder aufzuschieben. In Benkers Heimatstadt Diessenhofen hatte sich bereits Johann Ulrichs Bruder Leodegar niedergelassen, als sich mit dem Untergang des Ancien Régime Johann Ulrich Benker eine unerwartete Karrieremöglichkeit eröffnete.

      Nach dem Einmarsch der französischen Truppen brach 1798 die Alte Eidgenossenschaft zusammen. Die meisten Berner Theologen, die bis anhin die kirchlichen Ämter im Aargau besetzt hatten, zogen sich überstürzt aus dem ehemaligen Untertanenland zurück.2 Die militärische Besetzung brachte viel Leid ins Land, doch eröffneten die Wirren manchen Menschen auch neue Perspektiven. Maries Grossvater nutzte seine Chance, verliess die thurgauische Heimat und wanderte aus.

      Ein Blick auf Benkers Stammbaum zeigt eine Familiengeschichte, wie sie für jene Epoche typisch ist. Innerhalb von 24 Jahren brachte Johann Ulrichs Mutter neun Kinder zur Welt. Susanne Benker-Huber, Maries Urgrossmutter, wurde 39 Jahre alt und starb vermutlich in Zusammenhang mit der Geburt ihrer jüngsten Tochter. Drei Buben und drei Mädchen hatte sie als Kleinkinder verloren, nur drei Söhne – die beiden Theologen und der Mediziner – erreichten das Erwachsenenalter. Beim Tod seiner Mutter war Johann Ulrich elf, sein jüngster Bruder, der spätere Arzt, ein Jahr alt. Sterben war in jener Zeit allgegenwärtig und nicht wie heute mit Alter oder Gebrechlichkeit verknüpft.

      Johann Ulrich Benker hatte in Zürich und Halle Theologie studiert. Von 1787 bis 1800 wirkte er in seiner Heimatstadt Diessenhofen, dann setzte er seine Laufbahn als Provisor in Brugg fort. 1801 wurde er Lateinlehrer und Klasshelfer. In Brugg kam 1802 die Tochter Henriette, Maries Mutter, zur Welt. Drei Jahre später verheiratete sich Johann Ulrich zum zweiten Mal.3 1808 schaffte Benker den Sprung ins Pfarramt Bözen, 1813 verpflanzte er seine Familie nach Schinznach-Dorf.

      Bis zu ihrer späten Heirat lebte und arbeitete Henriette Benker im elterlichen Haus. Nach der Kindheit in Bözen verbrachte sie ihre Jugend in Schinznach-Dorf, wo der Pfarrer damals gleichzeitig auch Zivilstandsbeamter, Schulinspektor und Sittenrichter war. Als einziger Auswärtiger hatte Johann Ulrich Benker im Sittengericht allerdings einen schweren Stand. Niemand wollte sich mit Wirtsleuten anlegen, die sich nicht an das Gesetz hielten. So donnerte er am 28. November 1813 von der Kanzel: «[…] ein solches Unwesen ist besonders in der gegenwärtigen Zeit sündlich, wo Gottes Führsehung uns durch das Stillestehen der Gewerbe, durch Misswachs in den Weinbergen und durch die Gefahr, in der sich unser Vaterland befindet, vom herrschenden Leichtsinn heilen und zum Ernst, zur Mässigkeit und Nüchternheit führen will.»4

      Benkers Weltbild stand im Einklang mit seiner Zeit. In der aargauischen Kirche war in der Predigt zu Herzen gehende Erbauung nicht gefragt: «Vernunftgemässe Tugendlehre und staatserhaltende Pflichterfüllung waren die Hauptthemen.»5

      Die folgenden Jahre brachten neues Elend. Mit der Verbannung des Kaisers nach St. Helena war die napoleonische Epoche 1815 endgültig zu Ende, doch konnten die Europäer noch immer nicht aufatmen. 1816 herrschte nasskaltes Wetter: «An keinem Baum war Obst zu finden, die Weinreben blühten spärlich im August, die Trauben erfroren vor Michaeli, die Kornernte begann Ende August, […] der Hafer wurde im Christmonat und im Jänner noch unter dem Schnee hervorgesucht. Die Kartoffeln waren verfault, das Futter vergraut.»6 Nicht nur die bisherigen Armen, auch rechtschaffene Familienväter gerieten in Not. Das Pfarrhaus war gefordert.

      Pfarrer Benker empfahl die Verteilung der sogenannten Rumfordischen Suppe und anerbot sich, «dieselbe in seinem Hause und von seinen eigenen Leuten bereiten zu lassen.»7 Es meldeten sich 52 Familien, an die im Februar 1817 pro Tag 133, im März 169 und im April 183 Portionen ausgeteilt wurden.

      Die Rumfordische Suppe war eine Armenspeise, die nach dem Rezept des Amerikaners B. Thompson – «Graf Rumford» – gekocht wurde. Im Protokoll der Armenpflege beschreibt Benker die Zutaten: «Es wurde beschlossen, unter den verschiedenen Rezepten dasjenige auszuwählen, welches die Aargauische Kulturgesellschaft bekannt gemacht hat. Es besteht dasselbe für 100 Portionen aus 38 Maass Wasser, 6 Mässlein Habermehl, 8 Mässlein Erdäpfeln, ½ Pfund Anken, 1 Pfund Salz und 6 Pfund Brot.»8 Mit keinem Wort werden die Frauen des Hauses erwähnt, die diese grosse Zusatzarbeit leisteten.

      Benker vertrat eine harte Linie. Teuerung und Hunger hatten in diesem Unglücksjahr 1817 sieben Kinder veranlasst, täglich Lebensmittel zu stehlen. In der Schule wurden sie mit der Rute bestraft, ihre Eltern vor die Armenpflege zitiert, der Pfarrer hielt eine Predigt, alles umsonst. Schliesslich verfügte der Oberamtmann auf

Скачать книгу