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      Die Voraussetzungen der beiden Maries waren ähnlich. Die Väter Julius Vögtlin und Johann Georg Ritter hatten miteinander in Basel und Berlin studiert. Beide führten ein Pfarramt auf dem Land, waren theologisch der konservativen Richtung verpflichtet und intellektuell sehr interessiert. Pfarrer Ritters Eltern hatten ihr Vermögen verloren, in seiner Jugend lebte er in engen wirtschaftlichen Verhältnissen. Das Geld für sein Studium streckte ihm ein Onkel aus Diessenhofen vor, «mit sehr wenig Aussicht, es wieder zu erhalten.»2 Als Johann Georg Ritter die erste Pfarrstelle antrat, nahm er seine Eltern zu sich. Während Marie Ritters Kindheit lebte die Grossmutter noch immer im Haushalt des Sohnes.

      1845 zogen Ritters nach Schwanden. Hier verbrachte Marie Ritter, mit Ausnahme einiger weniger Jahre in Montmirail und Elm, den Rest ihres ausserordentlich langen Lebens. Sie erlebte tief greifende politische und wirtschaftliche Umbrüche. Als Fünfjährige fieberte sie 1847 im Sonderbundskrieg mit: «Die allgemeine Aufregung ergriff auch mich; ich stand auf der Fensterbank im Stillstandzimmer und sah zu, wie die Soldaten in ihren engen Fräcken und Tschakkos fortmarschierten.»3 Marie Ritter starb im Januar 1933, im selben Monat wurde Adolf Hitler in Deutschland Reichskanzler, und in der Sowjetunion wütete Stalin. Statt zu Fuss oder mit der Postkutsche reiste man nun mit der Eisenbahn oder im Flugzeug, abends versammelte sich die Familie nicht mehr um eine einzige Kerze, in den Häusern gab es Elektrizität und fliessendes Wasser.

      Doch zurück zur kleinen Marie Ritter: «Sie hatten bestimmt einen Buben erwartet […], es war eine sehr strenge Zangengeburt […]. Natürlich waren dann alle froh, wenn’s auch nur ein ganz mageres Mädchen war. Aber weil Alle so bestimmt auf einen Buben gerechnet hatten, so ist das wohl der Grund, dass ich mein Leben lang mehr Freude an Bubenbeschäftigungen hatte.»4

      Marie Ritter besuchte die Primar- und Sekundarschule an ihrem Wohnort Schwanden. Das Lernen fiel ihr leicht. Da immer zwei Klassen gemeinsam unterrichtet wurden, schaffte sie die Unterstufe im Eiltempo, mit 10½ Jahren (statt mit dreizehn) kam sie in die Sekundarschule. Das unterforderte Mädchen sorgte offenbar für Betrieb und liess sich, nachdem sie ihre erste Schüchternheit überwunden hatte, immer wieder neue Streiche einfallen. «Übermut und Frechheit kamen in volle Blüte.» Dieses Verhalten wurde im Pfarrhaus wenig geschätzt: «[…] daheim wartete meiner gewöhnlich die Ruthe. Die machte aber auch nicht den gewünschten Eindruck auf mich. Ich dachte, ich wolle es machen wie der berühmte Römer Mucius Scaevola, der Schmerzen erduldete ohne zu muksen. Ich liess also drauf los schlagen ohne einen Laut und dachte, es sei ja eigentlich gleich, ob ich mich so oder so aufführe, die Ruthe werde ich ja so wie so bekommen.»5 Der kleine Bruder Hans dagegen verhielt sich unauffällig und angepasst und blieb von Schlägen verschont.

      

      Während den kritischen Monaten des Entscheids zum Studium war die Glarner Freundin Marie Ritter Maries engste Vertraute.

      

      Marie Ritter, «eine ganz gemütliche alte Jungfer geworden», marschierte noch mit 90 Jahren regelmässig von Schwanden nach Glarus. Die Nachkommen ihres Bruders schätzten sie als hochintelligente, liebenswürdige Persönlichkeit.

      Marie Ritter liebte und achtete ihre Eltern, und doch war ihre Kindheit keine Idylle: «Ich war überhaupt als Kind gar nicht recht zufrieden. Ich fühlte, dass ich in den meisten Dingen anders denke als das allgemeine Publikum, und stellte mir vor, weil die Mehrheit anders denke, so werde ich wohl nicht recht im Kopf sein. Im späteren Leben habe ich aber noch viele gleichgesinnte Seelen und Bücher gefunden und mich darüber beruhigt, wenn ich nicht ganz mit der öffentlichen Meinung übereinstimmte.»6

      Die klassische Frauenrolle war nichts für Marie Ritter: «Die Puppen konnte ich nie ausstehen, sie stiessen mich förmlich ab mit ihren Glotzaugen und ihren steifen, unnatürlichen Leibern, höchstens grübelte ich ihnen etwa die Sägespäne heraus, um zu sehen, was sie eigentlich für Eingeweide haben.»7 Auch Mode war für sie kein Thema: «Mir war schon von Kind auf alle Eleganz ein Gräuel; ich war todunglücklich, wenn ich etwas Neues oder Auffallendes anziehen musste […]. Bei dieser Wertschätzung der Toilette kann man sich denken, dass ich meine Kleider nicht besonders schonte. In allem Schmutz und auf allen Leitern und Bäumen kletterte ich herum.»8 Ihre Mutter reagierte verständnisvoll und sorgte für eine widerstandsfähige Ausrüstung.

      Gerne arbeitete Marie Ritter im Stall, täglich holte sie am Dorfbrunnen viele Liter Wasser für die Küche, eine Arbeit, die besonders an Waschtagen streng war, Putzen war ihr lieber als Handarbeiten: «Lismen hatte ich schon ganz früh bei der Mutter gelernt; hätte es auch ganz gut können, that es aber nicht gern. Als ich dann grösser wurde, sollte ich täglich etwa 4 Gänge an meinem Strumpf lismen; wenn ich aber die andern Kinder auf der Gasse hörte, heulte ich so, dass ich vor Thränen die Maschen nicht mehr sah.»9 Mehr als an Textilien war Marie Ritter an Pflanzen und Tieren interessiert. Mit sieben Jahren hatte sie Gelegenheit, auf der Reise zum Onkel in Diessenhofen in Zürich die Naturaliensammlung mit ihren ausgestopften Tieren zu sehen. Der Wissensstand der kleinen Besucherin beeindruckte den Konservator.

      Zur Ergänzung der Volksschulbildung durfte Marie Ritter bei ihrer Patin, die länger in England gewesen war, Englisch lernen. Als Lehrbuch diente das Prayer Book der High Church. Frisch konfirmiert, reiste Marie Ritter 1859 zur Abrundung ihrer Ausbildung nach Montmirail. In Baden warnten sie zwei Cousinen, diese «schilderten mir Montmirail, wie wenn ich in ein Gefängnis käme.»10 Glücklicherweise kam es anders: «Es gefiel mir alles sehr gut; nur das fehlte mir, dass man auch gar keinen Augenblick, weder Tag noch Nacht allein sein konnte. Da ich im alten Haus schlief, bin ich bisweilen dort auf die Russdiele hinauf gestiegen und habe ganz allein ein wenig zum Fensterchen hinaus geschaut, was aber Niemand wusste.»

      Als Marie Ritter am 6. Mai 1859, begleitet von ihrem Vater, im Töchterinternat Montmirail ankam, traf sie noch am selben Abend auf Maries ältere Schwester Anna. «Als ich sie dann einmal in Brugg besuchte, lernte ich auch ihre jüngere Schwester Marie kennen, und da wir in Vielem übereinstimmten, schlossen wir in kurzer Zeit eine grosse Freundschaft und die hat meinem Leben viel Anregung und Freude gebracht.»11

      Nach der Heimkehr aus dem Internat muss Marie Ritter eine ähnliche Krise wie Marie durchgemacht haben. Mit Freundinnen gründete sie ein französisches Lesekränzchen, doch eine wirkliche Aufgabe fehlte: «Auch wurde ich wieder mit einer armen, kinderreichen Familie bekannt und einige derselben waren auch täglich bei mir. Daneben half ich ein wenig im Hauswesen, wichtig war es nicht. Strengere Arbeit wäre besser für mich gewesen.»12 Zwischendurch half sie in der Kinderschule aus.

      Allmählich verschwanden ihre Freundinnen in die Ehe. 1872 wurde ihr vier Jahre jüngerer Bruder Hans als Pfarrer nach Elm gewählt. Die Geschwister gingen zu Fuss an den neuen Arbeitsort. Bis zu seiner Verheiratung führte Marie Ritter während drei Jahren dem Bruder den Haushalt. Wie sein Vater hatte Johann Ritter an verschiedenen Universitäten studiert und ein Semester in Deutschland, in seinem Fall in Tübingen, verbracht. Was Marie Ritter über die ungleichen Bildungschancen von Frauen und Männern dachte, ist nicht überliefert.

      «Bis zum Tode ihrer Mutter waltete die Heimgegangene an der Seite ihrer Mutter; hernach war sie ihrem greisen Vater Stütze und Pflegerin.»13 Zudem betreute Marie Ritter auch fremde Kinder, zweimal nahm sie Kinder mehrere Jahre bei sich auf. Ihren glücklichen Lebensabend verbrachte sie schliesslich mit der Familie eines ihrer Neffen, der 1908 mit seiner jungen Frau in ihr Haus einzog.

      Für die Pflege der unterschiedlichsten Freundschaften hatte Marie Ritter eine grosse Begabung. Marie berichtet schwärmerisch über den Anfang der Freundschaft mit Marie Ritter: «[…] als nun wirklich alles von Dir mir aus den Augen gerückt war, da habe ich lebhaft gefühlt wie vor zwei Jahren bei Deiner Abreise; ich denke, wir zwei gehören doch eigentlich zusammen; es besteht zwischen uns die Wahlverwandtschaft, die mir höher steht als die Blutsverwandtschaft, weil es ein rein geistiges Band ist, fern von dem Zwang, von dem

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