Скачать книгу

dritten Seuchezug von 1867 wurde sie von Italien in die Schweiz eingeschleppt. Cholerapatienten leiden unter Erbrechen und wässrigen Durchfällen, schlimmstenfalls dauert die Krankheit bis zum Tod nur Stunden oder einige Tage. Zwei Drittel der Betroffenen starben, im Kanton Zürich waren es über 500. Schuld an der Übertragung des Erregers war in erster Linie verunreinigtes Trinkwasser, weshalb in den folgenden Jahrzehnten Städte wie Zürich von Grund auf saniert wurden.

      Vorsorglich richteten die Ärzte ein Absonderungshaus ein, die glücklichen Brugger blieben aber von der Cholera verschont. Marie war enttäuscht, erneut blieb sie auf sich gestellt. Ihr Liebeskummer hatte sich zu einer existenziellen Krise verdichtet. Für die Umwelt war Maries Schicksalsjahr alles andere als einfach. Oftmals musste die junge Frau in Aufruhr für alle eine echte Nervenprobe gewesen sein: «Die schlimmste Einsamkeit ist die, alleine zu sein in einer Menge; das ist eben mein Los […]. Das Bewusstsein, dass die Atmosphäre, in der ein Mensch lebt, nicht die richtige wahre Lebensluft ist, ist doch gewiss einem stumpfen Dahinleben in der starren Kälte, ohne etwas Besseres nur zu kennen und zu verlangen, weit vorzuziehen. Wenn ein Mensch erfahren gelernt hat, was Liebe ist, so wird er diese Liebe doch wieder an andern ausüben, sie andere lehren können, und auf diese Weise sich selbst und andere glücklich machen. – Ich habe das an mir selbst gefühlt – früher lebte ich in meiner verhältnismässig kühlen Atmosphäre dahin, selbst um keinen Grad wärmer als das mich umgebende Medium, bis ich dann auf einmal erfahren lernte, dass ich selbst und mein Medium nicht die normale Temperatur habe, und ich darum vor allem aus [mir] selbst wärmer werden müsse. Das bin ich nun geworden, und ich verdanke es meinem Bruder. Nun allerdings ist die Temperatur um mich her die nämliche, niedrige geblieben und mich fröstelt darin in einem fort – dennoch bin ich weit entfernt, obschon dies Missbehagen mich fortwährend sehr peinlich drückt, zu wünschen, dass ich nie gelehrt worden wäre, was das Richtige ist. Allerdings strebe ich nun heraus aus der Kälte in ein wärmeres Land, in ein moralisches Italien oder auch Indien.»8

      Was für Maries persönliche Entwicklung notwendige Voraussetzung war, erlebte das Umfeld als unangepasste Aufmüpfigkeit. «Ich weiss nicht, ob ich zu weit gehe, aber da ich einmal Überzeugungen, nicht nur Ansichten habe und diese so oft angefochten werden, so gewöhne ich mich nach und nach, hartnäckig fest daran zu halten, und kein Jota mir nehmen zu lassen. Darum herrscht so Entsetzen unter meinen Leuten über meinen fürchterlichen Starrkopf.»9

      Marie war sich bewusst, dass sie ihre Krise als Chance verstehen durfte – aber noch war nichts ausgestanden: «Du musst nicht meinen, ich sehe nicht jetzt schon ein, dass mein Unglück mir zum Segen werden soll – ich habe mich darüber nie getäuscht; denn ich fühlte von Anfang an, wie nötig ich es hatte, ein schweres, ausnahmsweise schweres Kreuz zu tragen.»10

      In diesen Monaten verglich Marie in ihren Gedanken das Schicksal der Unterprivilegierten mit dem Leben der Privilegierten, das «schauderhafte Missverhältnis» der Möglichkeiten von Männern und Frauen ihrer Gesellschaftsschicht. Sie kam zu ernüchternden Schlüssen. «Ich habe in dieser harten Zeit wieder manches fühlen und einsehen gelernt, was mir von grosser Wichtigkeit ist – wenn man so in seiner Bequemlichkeit dahin lebt, so vergisst man immer wieder an die zu denken und für die zu fühlen, welche ein so ganz anderes Leben haben, – denen die Arbeit, welche ich z. B. zur Seltenheit verrichte und die mir unsympathisch ist, das ganze Leben ausfüllt, welche so in dieser Arbeit versinken, dass sie nun nicht mehr ahnen, dass ein höheres Leben, ein Leben, dessen jeder Mensch würdig ist, auf der Welt von Rechts wegen jedem ohne Unterschied zugänglich sein sollte.

       Hast Du nicht auch ein unaussprechliches Mitleid für die Millionen, welche so dahinleben müssen in jämmerlichem Kampf um ihr Dasein, welche alle die geistigen Kräfte, welche ihnen so gut wie uns zur Benutzung geschenkt sind, elendiglich vergraben müssen? Ich habe viel Zeit während des Kochens und Abwaschens und Kehrens mit solchen Gedanken zubringen müssen.

       Und andere Punkte auch sind mir wieder klar vor Augen getreten wie kaum je, so z. B. das schauderhafte Missverhältnis zwischen dem Leben der Männer und Frauen unserer Klassen. Es fährt mir manchmal bis in die Fingerspitzen, wenn ich sehe, wie die Männer durch nichts aus der Fassung und aus dem Genuss ihrer geliebten Bequemlichkeit zu bringen sind, wie das ganze Leben der Frauen eigentlich nur dazu da sein muss, um ihnen diese Bequemlichkeit möglich zu machen. Und das gilt gewiss von der überwiegenden Mehrzahl. Und doch ist es gar nicht so, dass ihre geistige Arbeit dann immer der Sorg falt entsprechend sei, mit der wir sie umringen sollen, um alles Störende fern von ihnen zu halten.

       Wenn ich so spreche, so musst Du nicht meinen, dass ich um meiner selbst willen diese Klage aufwerfe; die eigene Erfahrung und Beobachtung hat mich für mein ganzes Geschlecht wieder jammern gemacht.

       Ich fange an wie Du innerlich zu jammern, wenn ein Mädchen zur Welt kommt – und die Sehnsucht, dass einmal alles anders werden möge – dass Erlösung komme aus dieser Sklaverei wird brennender als je.» 11

      Mit solchen Schlüssen musste Marie ihre Umgebung vor den Kopf stossen. Wie fast immer nahm sie auch hier ihren Vater in Schutz: «Und glaube auch nicht, dass ich dies besonders in Bezug auf meinen Vater sage; er ist ja nur wie die andern, und allerdings auch in dieser wie in mancher anderen Beziehung besser als viele andere.»12

      Aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts ist klar, dass Marie mit ihren Analysen ins Schwarze traf. Für ihr Brugger Umfeld waren diese Gedanken Häresien. «Ich habe keinen Menschen, dem ich solche Gedanken aussprechen dürfte; ich denke aber, Du musst auch in dieser Hinsicht ähnlich fühlen wie ich. ‹Du denkst eben anders als andere Leute›, das ist immer die Bemerkung, mit der die Verhandlung schliesst, wenn ich einmal einen eigenen Gedanken ausspreche.»13

      Zu Recht vermutete Marie in Marie Ritter eine verwandte Seele. In ihren Lebenserinnerungen berichtet die Glarnerin, wie sie als Kind unzufrieden war, wie sie anders dachte als ihre Umwelt und deshalb glaubte, mit ihr stimme etwas nicht. Gerade im Schicksalsjahr 1867 war die Freundschaft der beiden Frauen entscheidend. Ein weniger kritischer Geist als Marie Ritter wäre erschrocken und hätte das kühne Vorhaben kaum unterstützt.

      Gegen Jahresende war Marie bereit, sie setzte alles auf eine Karte, nun sollte der Vater von ihren Plänen erfahren. «Was ich entschlossen bin, mir von meinem Vater zu erbitten, ist unendlich schwer zu erlangen, so schwer, dass ich oft an der Möglichkeit verzweifle. Und doch bin ich fest entschlossen, alles daran zu setzen, weil ich die Überzeugung habe, dass das, was ich verlange, recht ist, dass es mein wahrer Beruf ist. Nach Neujahr denke ich, das grosse Wagnis zu unternehmen, von dessen Resultat ich sowohl vor Furcht der Niederlage, als vor Hoffnung auf Erfolg zittere.»14

       Marie Ritter, die verlässliche Vertraute

      Einzig ihre Schwester Anna begleitete Marie länger durchs Leben als die treue, gescheite Glarner Freundin Marie Ritter (1842–1933). Wie ein roter Faden zieht sich die jahrzehntelange Beziehung der beiden Maries durch ihre Biografien. Während den turbulenten Monaten des Abschieds von Fritz und des Entscheids zum Studium war Marie Ritter vermutlich die einzige Person, die Maries intimste Geheimnisse kannte. Stets begleitete und ermunterte Marie Ritter liebevoll-kritisch Marie auf ihrem Weg. Die Briefe aus Schwanden sind verloren, dagegen existieren Maries Antworten aus der Studienzeit. Neben den Briefen an Vater Julius sind sie die wichtigste Quelle für Maries Schicksalsjahre. In zwei Anläufen, im Alter von 81 und 86 Jahren, verfasste Marie Ritter einen Rückblick auf ihr Leben. Dank dieser Arbeit ist ihre Stimme nicht ganz verstummt.

      Die um drei Jahre ältere Glarner Freundin blieb ledig. Ihr Werdegang ist beispielhaft für eine hochbegabte Frau, die auf ihre Weise – ähnlich wie Marie – nicht in ein vorgegebenes Lebensmuster passte. Selbst an der Abdankung war ihr Zivilstand ein Thema: «Man möchte vielleicht das Schicksal anklagen, das einem solchen tiefangelegten Menschen, in dem ein starker Familiensinn gewachsen war, die Gründung einer eigenen Familie versagte, aber gerade im Leben unserer Verstorbenen ist offenbar geworden, dass auch im Dasein der Ehelosen die feinsten,

Скачать книгу