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sie Tal in die Augen sah, hielt er ihrem Blick stand. Mit dieser Grausamkeit hatte sie nicht gerechnet – von ihrem Vater schon, aber nicht von Tal.

      Die Erinnerung an lange erloschene Flammen flackerte vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie sprach mit tonloser Stimme.

      »Hat mein Vater dich angewiesen, das vorzubringen, wenn ich mich ungebührlich verhalte?«, fragte sie. »Wegen des Pferderennens und allem?«

      »Ja«, erwiderte Tal ungerührt.

      »Tja, dann kann ich dir gern verraten, dass ich nur das eine Mal getötet habe. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«

      Nach einem kurzen Moment drehte er sich um und machte sich an den Büchern auf seinem Schreibtisch zu schaffen. »Es geht um deine Sicherheit wie um die aller anderen. Wenn der König erfährt, dass wir die Wahrheit über deine Kräfte jahrelang verschwiegen haben … du weißt, was dann passieren könnte. Vor allem deinem Vater. Und trotzdem tut er es, weil er dich mehr liebt, als du je begreifen wirst.«

      Rielle lachte hell auf. »Das ist kein Grund, mich so zu behandeln. Ich werde es ihm nie verzeihen. Eines Tages werde ich es auch dir nicht mehr verzeihen.«

      »Ich weiß«, sagte Tal. Seine Stimme klang so traurig, dass Rielle beinahe Mitleid empfand.

      Beinahe.

      Doch dann ertönte von unten ein lautes Krachen, dazu ein unverkennbarer Aufschrei.

      Ludivine.

      Tal warf Rielle den üblichen Blick zu, den er schon so häufig auf sie gerichtet hatte – als sie mit sieben im Tempel der Bäder das Becken zum Überlaufen gebracht hatte oder als er sie mit fünfzehn dabei erwischt hatte, wie sie sich zum ersten Mal in Odos Taverne geschlichen hatte. Dieser Blick besagte: Womit habe ich solche Prüfungen verdient?

      Rielle sah ihn unschuldig an.

      »Bleib hier«, befahl er. »Das ist mein Ernst, Rielle. Ich verstehe deine Enttäuschung – ganz ehrlich –, aber hier geht es um mehr als um die Ungerechtigkeit, dass du dich langweilst.«

      Rielle kehrte zum Fenstersitz zurück in der Hoffnung, dass ihre Miene betreten genug wirkte.

      »Ich liebe dich, Tal«, sagte sie und das war so wahr, dass sie sich selbst ein wenig dafür hasste.

      »Ich weiß«, antwortete er. Dann legte er sein Magistergewand an und rauschte zur Tür hinaus.

      »Magister, es ist etwas mit Lady Ludivine«, erklang eine panische Stimme im Flur – einer von Tals jungen Tempeldienern. »Sie war gerade erst in der Kapelle eingetroffen, Mylord, als sie plötzlich bleich wurde und zusammenbrach. Ich weiß nicht, was geschehen ist!«

      »Hole meinen Heiler«, wies Tal ihn an, »und schicke der Königin eine Nachricht. Sie ist bestimmt schon in ihrer Loge am Startplatz. Sage ihr, dass ihre Nichte krank geworden ist und nicht zu ihr in die Loge kommen kann.«

      Nachdem sie gegangen waren, zog Rielle lächelnd ihre Stiefel an.

      Hierbleiben?

      Ausgeschlossen.

      Eilig schritt sie durch den Wohnraum, der vor Tals Studierzimmer lag, und hinaus auf die Korridore des Tempels mit ihren Wänden aus rot geädertem Marmor und den dicken Teppichen, die mit Stickereien von glühenden Flammen verziert waren. Am Eingang zum Tempel, dessen Parkettboden zu goldenem Glanz poliert worden war, herrschte reges Treiben, während Gläubige, Tempeldiener und Dienstboten auf die spitzbogigen Türen der Kapelle zueilten.

      »Es ist etwas mit Lady Ludivine«, flüsterte eine junge Tempeldienerin ihrer Begleitung zu, als Rielle vorüberging. »Offenbar ist sie krank geworden.«

      Rielle grinste und stellte sich vor, wie sich alle besorgt um die arme Ludivine scharten, die theatralisch hingegossen auf dem Fußboden des Tempels lag. Ludivine würde die Aufmerksamkeit genießen – und die Erinnerung daran, dass sie die ganze Hauptstadt wie eine Marionette an den Fäden gehalten hatte.

      Trotzdem war Rielle ihr nach diesem Auftritt einen riesigen Gefallen schuldig.

      Was auch immer sie verlangen würde, es wäre die Sache auf jeden Fall wert.

      Ludivines Pferd stand neben ihrem eigenen direkt vor dem Tempel, von einem jungen Stallburschen gehalten, der einer Panik nahe zu sein schien. Als er Rielle erkannte, fiel er vor Erleichterung förmlich in sich zusammen.

      »Entschuldigen Sie bitte, Lady Rielle, aber geht es Lady Ludivine gut?«, fragte er.

      »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Rielle und schwang sich in den Sattel. Sie griff nach den Zügeln, und schon jagte ihre Stute die Hauptstraße hinab, die vom Tempel des Feuers ins Zentrum der Stadt führte. Die Hufe klapperten über die Pflastersteine. Eine bunte Ansammlung von Wohnhäusern und Tempelbauten erhob sich zu beiden Seiten – graue Steinmauern, auf denen Szenen von der Gründung der Hauptstadt eingraviert waren, Kuppeldächer aus poliertem Kupfer, hohe, von üppigem Efeu umrankte Säulen und Brunnen, die mit Abbildern der ins Gebet vertieften sieben Heiligen geschmückt waren. Anlässlich des Pferderennens waren so viele Besucher aus der ganzen Welt nach Âme de la Terre gekommen, dass die kühle Frühlingsluft mittlerweile schon muffig und verbraucht war. Die Stadt roch nach Schweiß und Gewürzen, schnellen Pferden und schnellem Geld.

      Als Rielle die Straße entlanggaloppierte, teilte sich die Menge erschrocken vor ihr, und die Leute stießen derbe Flüche aus – bis sie begriffen hatten, wer sie war, und verstummten. Sie lenkte ihre Stute durch die kurvenreichen Straßen und hielt auf die Hauptstadttore zu, ihr Körper aufs Äußerste angespannt.

      Doch heute würde sie ihrer Macht nicht nachgeben.

      Sie würde am Boon-Chase-Pferderennen teilnehmen, wie es jedem Bürger zustand, und ihrem Vater beweisen, dass sie sich beherrschen konnte, selbst wenn ihr Leben in Gefahr war und die Blicke der ganzen Stadt auf ihr lagen.

      Sie würde ihm und Tal beweisen, dass sie es verdient hatte, ein normales Leben zu führen.

      2 ELIANA

      »Eliana sagt, an dem Tag, als das Imperium unsere Stadt einnahm, konnte man vor lauter Blutgeruch kaum atmen. Sie sagt, ich soll froh sein, dass ich noch ein Baby war, aber ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern. Vielleicht wäre ich dann ja stärker. Ein Krieger. So wie sie.«

      Tagebuch von Remy Ferracora, Bürger von Orline

      3. Februar im Jahr 1018 des Dritten Zeitalters

      1020 JAHRE SPÄTER

      Eliana war auf der Jagd, als sie den ersten Schrei hörte.

      In der Großstadt Orline waren Schreie nichts Ungewöhnliches, besonders in den Brachen, wo sich die Elendsviertel über die Landungsbrücken erstreckten und ein düsteres Bild des Jammers boten.

      Dieser allerdings war hoch und grell – der Schrei eines jungen Mädchens – und brach so abrupt ab, dass Eliana glaubte, sie hätte sich ihn nur eingebildet.

      »Hast du das gehört?«, fragte sie Harkan flüsternd, der neben ihr an die Wand gepresst stand.

      Harkan straffte sich. »Was gehört?«

      »Diesen Schrei. Von einem Mädchen.«

      »Ich habe keinen Schrei gehört.«

      Eliana warf einen kurzen Blick in das verdunkelte Fenster neben ihnen, zupfte ihre neue Samtmaske zurecht und bewunderte ihre schlanke Figur. »Tja, wir alle wissen ja, wie scheiße du hörst.«

      »Ich höre nicht scheiße«, brummte Harkan.

      »Zumindest nicht so gut wie ich.«

      »Es können schließlich nicht alle so großartig sein wie der Fluch von Orline.«

      Eliana seufzte. »Traurig, aber wahr.«

      »Allerdings glaube ich, dass selbst ich mit meinem bescheidenen Gehör einen Schrei hören würde. Wahrscheinlich hast du dir den nur eingebildet.«

      Was

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