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musterte sie noch eine Weile, dann drehte er sich um und nahm vier dicke Bücher aus dem Regal hinter ihm.

      »Hier«, sagte er und ignorierte ihre aufsässige Miene. »Ich habe ein paar Abschnitte markiert, die du lesen sollst. Heute ist Stillarbeit. Und ich frage dich später ab, also komm gar nicht erst auf die Idee, nur querzulesen.«

      Mit zusammengekniffenen Augen musterte Rielle das Buch, das obenauf lag. »Eine kurze Geschichte des Zweiten Zeitalters, Band I: Die Nachwirkungen der Engelskriege.« Sie verzog das Gesicht. »Das sieht für mich gar nicht kurz aus.«

      »Es ist alles eine Frage der Perspektive«, sagte Tal und wandte sich wieder den Unterlagen auf seinem Schreibtisch zu.

      Rielles Lieblingsplatz in Tals Studierzimmer war der Fenstersitz mit Blick auf den größten Innenhof des Tempels. Hier lagen stapelweise dunkelrote Kissen mit goldenen Paspeln, und wenn sie darauf saß und die Beine in der Sonne baumeln ließ, konnte sie fast vergessen, dass es jenseits des Tempels und ihrer Stadt eine riesige Welt gab – eine Welt, die sie niemals zu Gesicht bekommen würde.

      Sie setzte sich ans Fenster, streifte die Stiefel ab, raffte die schweren spitzenbesetzten Röcke und stellte ihre nackten Füße auf das Fensterbrett. Die Frühlingssonne legte sich warm auf ihre Beine, und schon bald sah sie im Geist vor sich, wie Audric an heiteren Tagen wie diesen immer aufblühte. Wie seine Haut geradezu leuchtete und um Berührung flehte.

      Tal räusperte sich und zerstörte ihren Tagtraum.

      Tal kannte sie viel zu gut.

      Sie schlug Eine kurze Geschichte auf, warf einen Blick auf die winzigen verblassten Zeilen und hätte das Buch am liebsten aus dem Fenster in den Innenhof des Tempels geworfen, wo die Bürger gerade zum Morgengebet herbeiströmten – zweifellos um zu erbitten, dass die Reiter gewannen, auf die sie beim heutigen Rennen gesetzt hatten. Jeder Tempel der Hauptstadt war gerade mit solch gierigen Seelen gefüllt, nicht nur Tals Tempel des Feuers, wo die Menschen die heilige Marzana als Feuerzeichnerin anbeteten, sondern auch das Haus des Lichts und das Haus der Nacht und die Tempel der Bäder und des Firmaments, der Schmiede und der Burg. Gewisperte Gebete in allen sieben Tempeln, an alle sieben Heiligen und deren Elemente.

      Verschwendete Gebete, dachte Rielle mit einem Kribbeln der Erregung. Die anderen Reiter werden im Vergleich zu mir wie Kinder auf Ponys wirken.

      Sie blätterte ein paar Seiten durch und kaute an ihrer Unterlippe, bis sie sich ruhig genug fühlte, um zu sprechen. »Ich habe gehört, dass viele am borsvallianischen Hof Celdaria für Runas Tod verantwortlich machen. Wir würden so etwas doch nicht tun, oder?«

      Tals Stift kratzte über das Papier. »Natürlich nicht.«

      »Aber es spielt keine Rolle, ob es die Wahrheit ist oder nicht, stimmt’s? Wenn König Hallvards Berater ihn davon überzeugen, dass wir seine Tochter getötet haben, erklärt er uns doch noch den Krieg.«

      Mit einem verärgerten Schnauben ließ Tal den Stift fallen. »Heute komme ich wohl zu gar nichts, was?«

      Rielle verkniff sich ein Grinsen. Wenn du wüsstest, wie recht du hast, liebster Tal …

      »Es tut mir leid, wenn ich Fragen zur politischen Situation unseres Landes habe«, sagte sie kühl. »Fällt das in die Kategorie von Themen, die wir nicht diskutieren dürfen, weil sonst mein armes, zartes Gehirn unter der Anstrengung zusammenbrechen könnte?«

      Ein Schmunzeln umspielte Tals Mundwinkel. »Borsvall könnte den Krieg erklären, ja.«

      »Dich scheint diese Möglichkeit nicht zu beunruhigen.«

      »Ich halte es für unwahrscheinlich. Wie stehen schon seit Jahrzehnten am Rande eines Krieges mit Borsvall, und doch ist es nie so weit gekommen. Und es wird auch in Zukunft nie so weit kommen, denn die Leute von Borsvall mögen zwar Kriegstreiber sein, aber König Hallvard ist krank und nicht dumm. Wir würden seine Armee dem Erdboden gleichmachen. Er kann sich keinen Krieg leisten, und erst recht nicht gegen Celdaria.«

      »Audric hat gesagt …« Rielle zögerte. Sie verspürte ein leichtes Unbehagen. »Audric glaubt, dass der Tod von Prinzessin Runa und der Sklavenaufstand in Kirvaya darauf hindeuten, dass es jetzt so weit ist. Dass die Königinnen kommen.«

      Stille legte sich über den Raum wie ein Leichentuch.

      »Audric war schon immer fasziniert von der Prophezeiung«, sagte Tal mit verdächtig gelassener Stimme. »Er sucht seit Jahren nach Anzeichen für die Ankunft der Königinnen.«

      »Diesmal klingt er ziemlich überzeugt.«

      »Ein Sklavenaufstand und eine tote Prinzessin reichen wohl kaum für –«

      »Aber ich habe Großmagister Duval davon sprechen hören, dass es in Meridian, auf der anderen Seite des Ozeans, Stürme gegeben hat«, drängte sie weiter, während sie ihn prüfend musterte. »Und sogar in Ventera und Astavar. Seltsame Stürme, außerhalb der Saison.«

      Tal blinzelte. Ah, dachte Rielle. Das wusstest du nicht, was?

      »Gelegentlich gibt es auch außerhalb der Saison Stürme«, sagte Tal. »Die Wege des Empiriums sind unergründlich.«

      Rielle vergrub die Finger in ihren Röcken und tröstete sich damit, dass sie schon bald in Reithosen und Stiefeln stecken würde, den Kragen geöffnet im Wind.

      Sie würde am Start sein.

      »In dem Bericht, den ich gelesen habe«, fuhr sie fort, »stand, dass ein Staubsturm in Süd-Meridian den gesamten Hafen von Morsia tagelang lahmgelegt hat.«

      »Audric soll aufhören, dir jeden Bericht zu zeigen, der über seinen Schreibtisch wandert.«

      »Audric hat mir überhaupt nichts gezeigt. Ich habe den Bericht selbst gefunden.«

      Tal hob eine Braue. »Du meinst, du hast dich in sein Studierzimmer geschlichen, als er nicht dort war, und seine Papiere durchwühlt.«

      Rielles Wangen wurden heiß. »Ich habe nach einem Buch gesucht, das ich dort liegen gelassen hatte.«

      »Tatsächlich. Und was würde Audric sagen, wenn er wüsste, dass du ohne seine Erlaubnis in seinem Studierzimmer warst?«

      »Es wäre ihm egal. Ich darf kommen und gehen, wie es mir beliebt.«

      Tal schloss die Augen. »Lady Rielle, du kannst nicht einfach Tag und Nacht die Privaträume des Kronprinzen aufsuchen, als wäre nichts dabei. Ihr seid keine Kinder mehr. Und du bist nicht seine Verlobte.«

      Rielle vergaß für einen Augenblick zu atmen. »Das ist mir wohl bewusst.«

      Tal winkte ab und stand auf, und schon war das Gespräch über die Prophezeiung und die Königinnen beendet.

      »Die Stadt ist heute voller Menschen und unberechenbar«, sagte er, ehe er quer durch den Raum ging und sich noch eine Tasse Tee einschenkte. »Der Tod von Prinzessin Runa spricht sich überall herum. In einem solchen Klima könnte sich das Empirium auf ähnlich unberechenbare Art und Weise verhalten. Vielleicht sollten wir ein paar Gebete sprechen, um unseren Geist zu sammeln. Inmitten des Chaos der Welt ist die brennende Flamme ein Anker, der uns in Frieden an das Empirium und an Gott bindet.«

      Rielle funkelte ihn an. »Sprich nicht in deinem Magister-Tonfall, Tal. Dabei klingst du so alt.«

      Seufzend nippte er an seinem Tee. »Ich bin alt. Und verdrießlich – was ich dir zu verdanken habe.«

      »Zweiunddreißig ist doch nicht alt, und erst recht nicht, wenn man schon Großmagister des Feuers ist.« Sie hielt inne. Nun musste sie vorsichtig sein. »Es würde mich nicht wundern, wenn du zum nächsten Archon ernannt werden würdest. Mit jemandem an meiner Seite, der so begabt ist wie du, könnte ich das Rennen gefahrlos von deiner Loge aus verfolgen …«

      »Versuch nicht, mir zu schmeicheln, Lady Rielle.« Er sah sie mit blitzenden Augen an. Das war der Tal, den sie mochte – der temperamentvolle Hitzkopf, nicht der fromme Lehrer. »Es ist momentan nicht sicher für dich dort draußen, außerdem

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