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konnte, strich sie seine aschblonden Haare zur Seite und drückte auch ihm einen Kuss auf die Stirn. Dort, wo ihre Lippen ihn berührten, brannte seine Haut; ihm stiegen Tränen in die Augen. Er hatte den Eindruck, als stünde er am Rand eines schwankenden Felsvorsprungs, als würde gleich etwas Schreckliches passieren und er könnte nichts dagegen tun.

      »Geh nach Borsvall«, befahl Rielle ihm. »Suche König Ilmaire und Kommandantin Ingrid. Zeige ihnen die Halskette. Sie werden euch verstecken.«

      In Rielles entlegeneren Gemächern wurden Türen laut aufgestoßen.

      »Rielle?«, brüllte Corien.

      Rielle legte eine Hand an Simons Wange und schaute ihm in die Augen. »Was auch immer passieren mag, pass auf, dass er dich nicht sieht.«

      Als sie gehen wollte, griff Simon nach ihrer Hand. Ohne sie würde er ganz allein sein mit diesem Kind, und plötzlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als sein Gesicht in ihren Armen zu vergraben. Monster oder nicht, jetzt war sie Mutter, und nach einer Mutter sehnte er sich am allermeisten.

      »Kannst du nicht bleiben?«, flüsterte er.

      Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln. »Du bist stark, Simon. Du schaffst das.«

      Dann eilte sie nach drinnen und stellte sich Corien mitten in ihrem Schlafzimmer entgegen.

      »Wo ist es?« Coriens Stimme klang leise und gefährlich.

      Simon verlagerte sein Gewicht ein wenig und lugte durch den schmalen Spalt der Vorhänge. Als er den Anführer der Engel erblickte – ein schöner Mann, blass und wie in Stein gemeißelt, mit glänzendem schwarzem Haar und vollen Lippen, die ein grausamer Zug umspielte –, setzte sein Herzschlag einen Moment lang aus.

      »Sie«, verbesserte Rielle ihn. »Ich habe eine Tochter.«

      Coriens Blick war noch immer tödlich. »Und wo ist sie

      »Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.«

      Simon schöpfte Mut. War etwa jemand unterwegs, um ihnen zu helfen?

      Corien lachte unfreundlich. »Ach ja? Und wer soll das sein?«

      »Versuche gern, die Wahrheit herauszufinden«, sagte Rielle, »aber dann wirst du schnell merken, dass du nicht länger in mir willkommen bist.«

      Mit einem Knurren schlug Corien ihr fest ins Gesicht. Rielle stolperte, ihre Lippen waren blutverschmiert, und Simon fing ihren Blick auf. Ihre flammend goldenen Augen wirkten entschlossen und triumphierend. Ihre erschöpfte Miene strahlte eine Stärke aus, die er so an ihr nicht kannte.

       Ich habe sie weit weggeschickt. Mit jemandem, der so mächtig ist, dass du sie niemals finden wirst.

       Du bist stark, Simon. Du schaffst das.

      Und plötzlich wurde Simon klar, dass niemand kommen würde, um ihnen zu helfen.

      Er selbst war der mächtige Jemand.

      Es lag also allein an ihm, die Prinzessin zu retten.

      Wenn er sie beide Hunderte von Kilometern nach Borsvall und in Sicherheit bringen wollte, würde er seine magischen Kräfte gebrauchen müssen – die Magie eines Halbblut-Gezeichneten, die Reisemagie, die fast jedem seiner Art bisher Unglück gebracht hatte.

      Rielle richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Corien.

      »Du solltest besser nicht so wütend werden«, sagte sie zu ihm. »Wenn du wütend wirst, machst du Fehler. Wenn du nicht so blind vor Wut gewesen wärst, dann wärst du bei mir geblieben und hättest sie in dem Moment, als sie geboren wurde, gepackt, um ihr an Ort und Stelle die Gurgel durchzuschneiden.«

      Corien lächelte kalt. »Dafür hättest du mich wahrscheinlich getötet.«

      Die Königin zuckte mit den Schultern. »Womöglich töte ich dich sowieso.«

      Simon wandte sich ab, seine Brust war vor Angst wie zugeschnürt. Wie sollte ihm das bloß gelingen? Er war erst acht Jahre alt. Natürlich hatte er seine Reisebücher ein ums andere Mal gelesen, aber er begriff noch immer nicht alles, was darin stand. Und nach dem, was sein Vater ihm über die vergangenen Zeiten erzählt hatte, als die Gezeichneten noch nicht von Menschen und Engeln zur Strecke gebracht worden waren, versuchten die meisten seiner Art sich erst im Erwachsenenalter am Reisen.

      Du schaffst das, Simon, erklang eine Stimme. Eine Frauenstimme, doch nicht die der Königin. Vertraut, aber …

      Er wirbelte herum, spähte in die Dunkelheit, entdeckte jedoch niemanden.

      Du musst das schaffen, sagte die Stimme. Du und das Kind, Simon, ihr seid die Einzigen, die uns retten können. Beeile dich jetzt. Bevor er dich entdeckt. Dein Vater hat dich gut versteckt, aber ich kann dich nicht weiter schützen.

      Aus dem Schlafzimmer kam ein sattes, volles Geräusch. Glas zerschellte am Boden. Die Königin schrie auf und Corien zischte ihr etwas Hasserfülltes zu.

      Das Schloss stöhnte. Die Wand, hinter der Simon sich verbarg, grollte, als würde etwas tief im Inneren des Schlosses erwachen. Aus dem Schlafzimmer drang explosionsartig ein Schwall heißer Luft, die Fenster zersplitterten. Simon beugte sich tief über das Baby und drückte es gegen seine Brust. Die Kleine wand sich und stieß einen gedämpften, wütenden Schrei aus.

      »Scht, bitte!«, flüsterte Simon. Um ihn herum vibrierte die Luft, die Terrasse unter seinen Füßen schwankte. Schweißperlen liefen ihm den Rücken hinab. Aus dem Schlafzimmer quoll surrend ein helles Licht, das immer strahlender leuchtete.

      Er schloss die Augen, versuchte die seltsame Frauenstimme zu vergessen und sich zu konzentrieren. Er musste sich an die Worte aus seinen verbotenen Büchern erinnern, die jetzt verwaist unter den Bodendielen im Geschäft seines Vaters lagen:

       Das Empirium ruht in jedem Lebewesen und jedes Lebewesen ist Teil des Empiriums.

       Seine Macht verbindet nicht nur Haut mit Knochen, Wurzeln mit Erde, Sterne mit Himmel, sondern auch Straße mit Straße und Stadt mit Stadt.

       Augenblick mit Augenblick.

      Nur Gezeichnete, das wusste Simon, hatten diese mächtige Gabe. Die Gabe zu reisen. Die Fähigkeit, von einem Augenblick zum anderen riesige Entfernungen zu überwinden und einfach durch die Zeiten hindurchzuspazieren, so wie Menschen Straßen entlangspazierten.

      Simon hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wäre, wenn er in die Zeit zurückreisen könnte, bevor die Pforte gebaut wurde – lange vor den frühen Kriegen, damals, als Engel noch auf der Erde wandelten und Drachen den Himmel bevölkerten.

      Aber über Zeit durfte er nicht nachdenken, nicht jetzt. Zeit war gefährlich und nur schwer fassbar. Er sollte lieber über Entfernungen nachdenken: von Celdaria nach Borsvall.

      »Nein, Rielle«, schrie Corien. »Nein! Tu das nicht!«

      Simon warf einen Blick in Rielles Gemach zurück, wo die Königin kniete, ihr Gesicht dem Himmel zugewandt, und sich nur mühsam aufrecht hielt, während sie von strahlendem Licht umhüllt wurde. Corien schlug auf das Licht ein und verbrannte sich die Fäuste, aber es gelang ihm nicht, sie zu berühren. Er schlug und brüllte, verfluchte sie und flehte sie an.

      All seine Beschimpfungen waren nutzlos. Rielles Körper öffnete sich in lange Lichtstrahlen, ihre Haut platzte ab und wurde wie Asche vom Wind verweht.

      Simon wandte seinen Blick ab. »Keine Angst, ich lass dich nicht los«, flüsterte er der Prinzessin zu. »Ich halte dich fest.«

      Er schloss die Augen, biss sich auf die Lippe und ignorierte Coriens verzweifelte Schreie und das blendende Licht, das von der Königin ausging. Er richtete seine Gedanken nach Nordosten auf Borsvall. Dann lenkte er seinen Atem in jede Faser seines Körpers, jeden Muskel und jeden Knochen, genau so, wie er es in seinen Büchern gelesen hatte.

       Jetzt.

      Er

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