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verschlungene Bänder aus Licht.

      Mit pochendem Herzen und nur einem Arm hielt Simon die Prinzessin eng an sich gedrückt und streckte den anderen aus. Er hörte in sich hinein, tief in seinem Inneren kannte er den Weg, so wie er wusste, wann er laufen musste, schlucken oder atmen. Er fühlte in die Nacht hinein und suchte nach den richtigen Bändern von hier nach dort. Irgendwo da draußen lag ein Weg, den er zwar nicht sehen konnte, den die Macht, die durch seine Adern pulsierte, aber zweifellos kannte. Jetzt musste er nur noch das entsprechende Band finden, es aufknüpfen und wie einen Teppich vor seinen Füßen ausrollen.

       Da.

      Vor seinen Fingerspitzen tanzte ein einzelnes Band, das heller als die anderen leuchtete.

      Simon traute sich fast nicht, danach zu greifen. Wenn er sich zu langsam oder zu schnell bewegte oder sich nicht genug konzentrierte, würde das Band ihm entwischen.

      Hinter ihm schrie die Königin Corien an, ihre Stimme war voller Zorn. »Ich gehöre dir nicht mehr!«

      Zum Zaudern blieb keine Zeit. Simon griff nach dem hellsten Band und wickelte es wie eine glänzende Haarlocke vorsichtig um seine Finger.

      Lass dir einen Moment Zeit, hatte in seinen Büchern gestanden, um dein Band kennenzulernen. Je vertrauter es dir ist, desto wahrscheinlicher wird es dich dorthin bringen, wohin du willst.

      Während Simon auf das Band starrte, das in seiner Hand schwebte, nahmen andere an Helligkeit zu und trieben durch die Kraft seiner Gedanken in seine Richtung.

      Obwohl die Bänder unangenehm auf der zarten Haut seiner Handteller brannten, nahm er sie auf und lenkte sie durch die kalte Nachtluft. Schon bald hatte er sie zu einem flackernden Ring gewunden und hinter diesem Ring führte ein Weg in die Dunkelheit.

      Das erste Band, das hellste, näherte sich Simons Brustkorb, verfing sich dort wie eine Dornenranke und zog ihn sanft vorwärts.

      Simon kam sich albern vor, schickte dem Band in Gedanken aber trotzdem ein Hallo.

      Der Druck, mit dem es ihn berührte, ließ etwas nach.

      Hinter dem Durchgang, der sich ständig veränderte, aber immer deutlicher wurde, zeichneten sich schwach Umrisse ab: ein sich windender Pfad aus schwarzen Steinen, ein hohes, schmales Tor. Berge mit schnee- und eisbedeckten Gipfeln. Soldaten, die ehrfürchtig auf etwas zeigten und sich in ihrer harten Borsvall-Sprache etwas zuriefen.

      In Simons jungem Körper spannten sich alle Muskeln. Die Welt verblasste mit jedem Atemzug mehr. Und doch stieg ein Lachen in ihm auf. Glücklicher würde er wohl nie wieder sein. Diese Macht war nicht einfach zu steuern, aber sie fühlte sich richtig an und sie gehörte ihm.

      Plötzlich rief Königin Rielle etwas, Simon verstand sie nicht. Ihre Stimme brach.

      Coriens verzweifelte Schreie klangen heiser und gequält.

      Simon holte Luft, seine Ängste umkreisten ihn wie ein Schwarm Insekten.

      Dann schluckte plötzlich vollkommene Stille jedes Geräusch – das Weinen des Säuglings, die sirrenden Bänder. Die Welt verstummte.

      In dem Moment, als Simon zurückschaute, schoss eine Lichtsäule aus dem Schlafzimmer der Königin hinaus in die Nacht und tauchte den Himmel in helles Dämmerlicht. Simon schützte sein Gesicht und beugte den Kopf über den Säugling in seinen Armen. Seine Reisehand zitterte vor Anstrengung. Eine Sekunde später zerbrach die Stille mit einem ohrenbetäubenden Knall, der die Berge zum Beben brachte und Simon beinahe von den Füßen riss.

      Das Schloss rutschte unter ihm weg. In der Luft über der Hauptstadt lag plötzlich ein Brandgeruch. Einer der umliegenden Berge stürzte in sich zusammen, und dann noch einer und noch einer.

      Halte sie gut fest – da war die Frauenstimme wieder, hoch und deutlich hörte Simon sie in seinem Kopf. Lass sie auf keinen Fall los.

      Die Bänder entglitten dem Zugriff seiner Gedanken. Simon spürte einen Zug, der von der Stelle, wo das Band an seiner Brust zerrte, bis zu seinen Füßen reichte.

      Geh, Simon!, rief die Frauenstimme. Jetzt!

      Simon schritt auf den Ring aus Licht zu, der nach Osten zeigte – als sich hinter ihm eine glutheiße Hitze ausbreitete.

      Die letzten Dinge, die Simon wahrnahm, begriff er nur allmählich:

      Eine grelle Feuerwand, brausend wie unzählige Feuersbrünste, rast von allen Seiten auf ihn zu. Während er den Ring aus Bändern durchquert, verschieben sich die Luftmassen und gleiten wie kaltes Wasser über seine Haut. Die Prinzessin in seinen Armen schreit.

      Die Berge von Borsvall verblassen.

      Das Band, das sich an sein Herz geheftet hat, verändert sich. Verdreht sich.

      Wird dunkler.

      Und reißt mit einem Donnerschlag.

      Etwas kracht mit voller Wucht gegen ihn und zieht ihn vorwärts.

      Das Baby wird aus seinen Armen gerissen, ganz gleich wie sehr er es festzuhalten versucht.

      Ein Stück Stoff, das in seinen Fingern zerreißt.

      Und dann, nichts.

      1 RIELLE

      »Lord Kommandant Dardenne kam in tiefer Nacht zu mir, seine Tochter in den Armen. Sie rochen nach Feuer, ihre Kleider waren versengt. Er vermochte kaum zu sprechen. Ich hatte den Mann noch nie in Furcht erlebt. Er drückte mir Rielle in die Arme und sagte: ›Hilf uns. Hilf ihr. Lass nicht zu, dass man sie mir wegnimmt.‹«

      Aussage des Großmagisters Taliesin Belounnon

      über Lady Rielle Dardennes Beteiligung am Massaker von Boon Chase

      29. April im Jahr 998 des Zweiten Zeitalters

      ZWEI JAHRE ZUVOR

      Rielle Dardenne stürzte in Tals Studierzimmer und warf die Nachricht auf seinen Schreibtisch.

      »Prinzessin Runa ist tot«, verkündete sie.

      Es war nicht gerade aufregend für sie – denn zwischen ihrem eigenen Königreich Celdaria und ihrem nordöstlichen Nachbarn Borsvall herrschte schon so viele Jahrzehnte ein angespanntes Verhältnis, dass es kaum der Rede wert war, wenn etwa ein Handelsschiff aus Celdaria vor der Küste Borsvalls sank oder Patrouillen an der Grenze aneinandergerieten.

      Aber der Mord an einer borsvallianischen Prinzessin? Das war etwas Neues. Und Rielle wollte der Sache genauestens auf den Grund gehen.

      Tal legte seufzend den Stift beiseite und fuhr sich mit den tintenfleckigen Händen durch sein zerzaustes blondes Haar. Die an seinen Kragen geheftete Flamme aus blankem Gold blinkte in der Sonne.

      »Vielleicht«, hob Tal an und bedachte Rielle mit einem Blick, der nicht missbilligend, aber auch nicht erfreut war, »solltest du in Erwägung ziehen, dir deine Begeisterung über den Mord an einer Prinzessin nicht allzu sehr anmerken zu lassen.«

      Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Ich bin nicht froh darüber oder so. Ich bin einfach neugierig.« Rielle zog das Papier wieder zu sich her und las die mit Tinte geschriebenen Wörter ein weiteres Mal. »Dann glaubst du also, es war Mord? Audric glaubt das.«

      »Versprich mir, dass du heute nichts Dummes anstellst, Rielle.«

      Sie lächelte ihn zuckersüß an. »Wann habe ich je etwas Dummes angestellt?«

      Er hob eine Braue. »Die Wachen der Stadt sind in höchster Alarmbereitschaft. Ich will, dass du hierbleibst, im sicheren Tempel, falls irgendetwas passiert.« Er nahm ihr das Blatt ab und überflog es. »Woher hast du das überhaupt? Nein, warte, ich weiß. Audric hat es dir gegeben.«

      Rielle erstarrte. »Audric hält mich auf dem Laufenden. Er ist ein guter Freund. Was ist schon dabei?«

      Tal erwiderte nichts, doch das brauchte er auch nicht.

      »Wenn

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