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nicht im üblichen Sinn, doch auf eine Art, die die Leute zum Hinsehen brachte, und zwar zum genauen Hinsehen. Umwerfend war das Wort, das Ludivine oft benutzte, oder atemberaubend.

      Ihr Vater hatte sich nur einmal zu ihrem Aussehen geäußert: »Du hast das Gesicht einer Lügnerin. Ich sehe sämtliche Intrigen der Welt in deinen Augen.«

      Trotzdem pflegte Rielle ihre Schönheit, so gut sie konnte. Sie trug die ungewöhnlichsten Kleider, die sie sich erlauben konnte – auffallend und beinahe freizügig, aus exotischen Stoffen genäht, die Ludivine heimlich für sie bestellte und in denen Rielle wie ein Pfau unter Tauben am Hof hervorstach. Jedes Mal, wenn sie sich in einem solchen Kleidungsstück zu zeigen wagte, spürte sie die gierigen Blicke auf sich und ihre eigene heimliche Begierde, die sich heiß und stürmisch in ihrem Bauch aufbäumte.

      Doch schon damals lagen die Worte ihres Vaters um ihren Hals wie ein Dornenjoch und sie unterdrückte sämtliche Gelüste.

      Außerdem wollte sie nicht einfach irgendjemanden, zumindest nicht so sehr, dass sie das Risiko eingegangen wäre.

      Und so hielt sie sich zurück, während sich ihre Entbehrungen in wilden und schlüpfrigen Träumen niederschlugen, manchmal von Audric, manchmal von Ludivine oder Tal – vor allem aber von Audric. Nach solchen Nächten, in denen der Traum-Audric sie zu sich ins Bett gezogen hatte, waren die Spiegel in ihrem Zimmer beim Aufwachen zerbrochen und ausgelöschte Kerzen hatten sich erneut entzündet und flackerten heftig.

      Ihr Vater täuschte sich nicht: Rielle barg eine Gefahr, etwas Unberechenbares. Das durfte sie nicht in das Bett eines anderen Menschen tragen.

      Erst recht nicht in das Bett von jemandem, der ihrer Freundin versprochen war.

      Rielle beging den Fehler, sich über die Schulter nach Audric umzusehen, und sein dunkler Blick verfing sich kurz in ihrem, ehe sie sich beide abwandten.

      »Wir müssen gehen«, sagte sie und riss ihm ihre Jacke aus den Händen. Sie stopfte sich die Haare unter die Reitkappe und ging hinaus, um aufs Pferd zu steigen. Dann drapierte sie den Schleier ihrer Kappe über Gesicht und Hals und steckte sich die Enden in den Kragen. Als sich Audric in seiner eigenen Schutzkleidung zu ihr gesellte, sprachen sie kein Wort mehr, und sie war froh darüber.

      Das Rennen würde ihr nicht gewogen sein, wenn sie sich weiterhin ablenken ließ.

      Gemeinsam folgten sie den anderen Reitern zur Startlinie.

      Audric saß auf einem von Odos Pferden, einer celdarischen Fuchsstute aus dem südlichen Flussland. Rielles Reittier, das ebenfalls aus Odos Ställen stammte, war kleiner – eine graue kirvayanische Stute namens Maliya, die ihren geschmückten Schweif hoch trug.

      Rielle nahm ihren Platz an der Startlinie ein, fünf Positionen links von Audric und zwei hinter ihm. Hoch über ihnen kündigte der Ausrufer jeden Reiter durch einen kleinen runden, in der Schmiede gefertigten Verstärker an.

      Als Rielle ihren falschen Namen vernahm, winkte sie der Menge zu und erntete großzügigen Applaus. Auch wenn ihre und Audrics Schein-Identität den Leuten nichts sagte, hatte doch der Name ihres Gönners, des reichen Kaufmanns Odo Laroche, dem die Hälfte der Geschäfte in der Stadt gehörte, enormes Gewicht.

      Hoch oben nahm König Bastien seinen Platz vor dem Verstärker ein, um einleitende Worte zu sprechen.

      »Zur Feier eines weiteren Friedensjahres in unserem Königreich«, dröhnte die Stimme des Königs, »und in der Hoffnung auf eine gute Ernte – und ein fröhliches Fest – und um Gott zu danken, der Celdaria mit solchen Gaben gesegnet hat, heiße ich euch alle zum diesjährigen Boon-Chase-Pferderennen willkommen!«

      König Bastien kehrte an seinen Platz zurück und die Trommler begannen. Die Reihen der Reiter gerieten in Bewegung und die Luft prickelte auf Rielles Haut.

      Die Rennherolde bliesen in ihre Hörner. Einmal. Zweimal.

      Rielle schlang die behandschuhten Finger um Maliyas Zügel, ihr Körper bebte vor Spannung.

      Die letzten Reiter nahmen ihre Plätze ein – zwölf maskierte Schiedsrichter in den königlichen Farben Pflaumenblau, Smaragdgrün und Gold. Sie würden das Rennen mitreiten und auf Regelwidrigkeiten achten.

      Die Trommelschläge wurden schneller, genau wie Rielles pochendes Herz.

      Die Herolde bliesen zum dritten Mal in ihre Hörner.

      Begleitet von einem ohrenbetäubenden Schrei der Menge stürmten die Reiter los, hinaus in das weite, mit Gras bewachsene Tiefland direkt vor den Stadttoren.

      Das Rennen hatte begonnen.

      Die ersten Minuten waren eine blinde Raserei aus Geräuschen und Farben. Die Hufe von fünf Dutzend Pferden wirbelten dichte Staubwolken auf.

      Rechts von Rielle riss ein Mann mit einer metallenen Schutzspange über den Zähnen einen mit Eisenspitzen versehenen Handschuh heraus und stieß mit einem einzigen Hieb seines kräftigen Arms einen anderen Reiter vom Pferd. Die übrigen Reiter trampelten über ihn hinweg und übertönten seine Schreie. Sein Pferd trottete mit herabhängenden Zügeln von der Rennstrecke.

      Rielle trieb Maliya an und sah sich aufgeregt um. Ein Schiedsrichter hätte den Mann für seine Tat disqualifizieren müssen. Doch in dem Staubwirbel konnte sie die Farben der Schiedsleute nirgends erkennen. Es schien, als wären sie verschwunden.

      Sie durchquerte die flache Ebene und lenkte Maliya durch ein Meer aus rempelnden Ellbogen und fliegenden Peitschen, aus Reitern, die ihre Tiere lautstark anspornten und in den verschiedensten Sprachen Drohungen brüllten. An den Ausläufern des Mount Taléa angelangt, verlangsamte sie ihren Ritt und lenkte Maliya den steilen Anstieg durch den Wald hinauf. Zwischen den Bäumen sah sie vor sich vertraute Farben aufblitzen. Schwarz und Gold. Odos Farben.

       Audric.

      Sie duckte sich auf Maliyas Hals, trieb die Stute die Anhöhe hinauf und verließ den Wald vor dem ersten Bergpass. Ein breiter Streifen Gras wogte vor ihr im Wind. Zu beiden Seiten ragten Felswände auf.

      Rielle wurde leicht ums Herz. Sie murmelte die kirvayanischen Worte, auf die ihre Stute reagieren würde, wie Odo ihr versichert hatte: »Reite auf dem Wind, Falke meines Blutes, Schwingen meines Herzens!«

      Maliya stürmte los.

      Der Wind pfiff an ihnen vorüber und presste Tränen aus Rielles Augen. Sie schloss zu Audric auf und jubelte triumphierend.

      Er blickte zu ihr hinüber und sein Tuch fiel herab. Als er sie angrinste, machte ihr Herz einen Satz. Trotz der Gefährlichkeit des Rennens wünschte sie sich, sie könnten hier draußen bleiben – fern vom Hof, fern von allen anderen –, für immer.

      Sekunden später bog Audric ab und schlug den kürzesten Weg um den Berg ein. Seine celdarische Stute war für solche steilen, steinigen Wege wie geschaffen.

      Doch Maliya war für Tempo gut geeignet. Rielle trieb sie weiter über den Pass und Maliya gehorchte. Der Wind heulte in Rielles Ohren. Sie konnte kaum ihren eigenen Atem hören. Die Umrisse der anderen Reiter, die sich über den Pass verteilten, waren nur vage Farbtupfer. Sie schlossen allmählich zu ihr auf.

      Rielle lenkte Maliya nach rechts, auf einen schmalen Felsenpfad. Nicht ihre erste Wahl, doch dadurch würde sie Zeit gutmachen. Sie schärfte sich ein, nicht hinzuschauen, und konnte es sich doch nicht verkneifen, über die Kante in den Abgrund zu spähen. Es schüttelte sie vor Grauen, und ihr Blickfeld kippte. Eine falsche Gewichtsverlagerung, ein Fehltritt ihres Pferdes, und sie würde dem sicheren Tod entgegenstürzen.

      Hinter ihr erklang das Klappern von Hufen auf Stein. Als der Weg breiter wurde und zu den bewaldeten Gebirgsausläufern hin abfiel, wandte sie sich um.

      Ein Reiter raste an ihr vorbei, dann drei weitere, so nah, dass sie ihren Schweiß roch. Hinter ihnen rammte ein Reiter sein Pferd gegen

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