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stand. Im trübgelben Schein der Flamme sah er auf das, was er zuvor mit Bedacht in Händen gehalten hatte.

      Die ockergelbe Pergamentrolle schien alt – braune Verfärbungen zierten die Oberfläche. Verhalten rollte er sie mit dem Zeigefinger vor und zurück, während ein Widerstand am Pergament es auf der Tischoberfläche holpern ließ. Dann nahm er das Schriftstück in beide Hände und drehte es, bis das rote Wachssiegel im Lichtschein des flackernden Kerzenlichtes vor seinen Augen erschien. Zwischen Daumen und Zeigefinger gab das Siegel mit leisem Knacken nach. Es war gebrochen!

      Als er die Schriftrolle öffnet, erkennt er die griechischen Buchstaben. Sie sind nicht neu für ihn. Er kennt sie seit Tausenden von Jahren! Und doch, in diesem Augenblick lassen sie ihn erschaudern. Laut liest er die Sätze der kriegerischen Verdammnis und als er das letzte Wort gesprochen hat, geht die Schriftrolle in Flammen auf. Er lässt sie nicht los, bis die letzte Glut in seinen Händen zu Asche zerfällt.

      Es war bereits nach zwölf Uhr mittags, als Lisbeth an der Tür der Mansarde klopfte. Sie war nicht verschlossen und bewegte sich knarzend einen Spalt breit ins Zimmer. »Hallo, schlafen Sie noch? Es ist schon Mittag und ich würde gerne etwas sauber machen. Sind Sie da?«

      Vorsichtig lugte Lisbeth durch den Türspalt. Was sie vorfand, ließ sie einen Schrei ausstoßen. Sie sah den roten Mantel, daneben den Hut. Der gesamte Raum war mit schwarzem Ruß überzogen, der Tisch von einer dunklen, rußigen Schicht bedeckt. Auf dem Stuhl lag ein Aschehaufen – die Kerze war abgebrannt und das Wachs formte ein tropfenförmiges Gebilde auf der Tischplatte. Von ihrem Gast war nichts zu sehen.

       Kapitel 9: Ostfront 1915

       Ostfront bei Bolimov an der Bzura, 12. Juni 1915

      Michail war sechzehn, als er mit seinem älteren Bruder Pjotr in die Kaiserlich Russische Armee eingezogen wurde. Nun lag er im Schützengraben und die vom Schlamm schwer gewordenen Stiefel drohten bei jeder seiner Bewegungen vom Fuß zu rutschen. Nach der Musterung, deren einziges Kriterium darin bestand, aufrecht zu gehen, erhielt er die Ausrüstung, bestehend aus Uniform, Feldbeutel, einer M1891, Gasmaske, Socken und Stiefeln. In seiner Größe hatte man kein Schuhwerk vorrätig, was er jetzt mit zwei Nummern zu groß geratenen Stiefeln verfluchte. Blasen quälten ihn an den Fersen, doch dieser Schmerz war das unbedeutendere Problem. Den ganzen Tag schon hatte es geregnet, was seine grünbraune Reiterhose, die Breeches, völlig durchnässt an den Schenkeln kleben ließ.

      Als die Abenddämmerung hereinbrach, wurde die Feuerpause in der von einem kleinen Wald umgebenen Lichtung eingestellt. Seitdem krachten Hunderte, Tausende abgefeuerte Schüsse der gegenüber verschanzten Deutschen über seinen Kopf und die seiner Kameraden hinweg. Pjotr lag neben Michail auf dem Rücken, das Gewehr, jene M1891, Kaliber 7,62 mm, nach oben gerichtet im Anschlag. »Auf drei hoch und feuern, hörst du, Michail? Und dann gehst du sofort wieder in Deckung!«

      »Aber auf was soll ich schießen?« Es war stockfinstere Nacht und ein Wolkenmassiv hatte sich vor den Halbmond geschoben.

      »Egal, einfach in die Richtung der Mündungsfeuer. Und dann: Kopf einziehen. Also! Eins – zwei – drei.«

      Die beiden Brüder verließen sekundenschnell ihre Deckung, rissen die Gewehre über den Schlammwall und begannen in die pechschwarze Nacht hineinzufeuern. Einmal – Schlagbolzen spannen – zweimal – Schlagbolzen spannen – dreimal … Umgehend pressten sie sich wieder geduckt mit den Rücken in den sicheren Schlammwall. Den Donner des wiederkehrenden Kugelhagels durchzogen nun pfeifende Geräusche und Michail erkannte Rauchschwaden, die sich über ihn hinweg weiter hinten im Feld wie tödlicher Nebel senkten. Schließlich fanden viele dieser seltsamen Geschosse ihren Weg – einige landeten direkt neben Pjotr und Michail.

      »Gas, Michail, Gas! Zieh deine Maske auf, schnell!« Pjotr hantierte an der Gasmaske, zitterte, riss an ihr, doch sie verhakte sich am offenen Riemen seines Armeebeutels. In Panik rüttelte er eine gefühlte Unendlichkeit, bis sie endlich vom Gurt des Beutels abfiel. Mit angehaltenem Atem zog er die Maske in die Stirn, bekam sie jedoch nicht ganz über sein Gesicht gestülpt. Ihm ging die Luft aus. Er röchelte, hustete – atmete im Reflex des Erstickenden einen tiefen Zug in die Lunge. Rasch breitete sich das Gift in seinem Körper aus. Die Maske halb über den Mund gezogen, brennende Augen, die den Schützengraben nur noch schemenhaft wahrnahmen. Mit all seiner Kraft widersetzte er sich dem Drang, seinen Mageninhalt von sich zu geben. Zu spät. Sauer Erbrochenes quoll die Speiseröhre Pjotrs nach oben, verklebte die Nasenlöcher, lief unter die Sichtfenster der Maske in seine Augen – er verlor das Bewusstsein.

      Michail, der den Gummi der eigenen Schutzmaske roch, fragte sich, ob dies der Gestank der Maske oder des eindringenden Gases war. Hechelnd versuchte er, den Atem unter Kontrolle zu bringen, als er durch die schlammverdreckten Sichtfenster den reglosen Pjotr liegen sah. Im Hagel des Dauerfeuers schrie er, dumpf in den Luftfilter der Atemmaske hinein, den Namen des Bruders. An den Schützenwall gelehnt, zog er den leblosen Körper Pjotrs auf seine Oberschenkel und umfasste von hinten dessen Brust.

      »Pjotr! Wach auf, wach auf!«

      Hilfe suchend schweifte Michails Blick wie im Traum den Graben entlang. Hunderte Gasgranaten hüllten bereits den gesamten Schützengraben ein. Schreie der Soldaten, die sich aufbäumten im Versuch, die Grube zu verlassen, um hierdurch den Giftwolken zu entkommen. Sie krochen über regungslose Gefährten durch glitschigen Schlamm den schützenden Wall hinauf, um dann, von den Salven der gegnerischen Gewehrkugeln durchlöchert, einzusinken. Gleich einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird, brannten sich die Bilder in Michails Innerem ein. Nie wieder würde er diese vergessen können!

      Durch Tränen hindurch, die wie ein See in den runden Sichtfenstern der Atemmaske schwammen, sah er wieder zu seinem Bruder. Der blecherne Behälter mit dem Kohlefilter hing seitlich an Pjotrs Wange herab. Er muss sie aufsetzen! Warum hat er die Maske nicht auf? Hektisch riss er an ihr, doch ohne Erfolg. Sie muss verhakt oder verdreht sein, dachte Michail – und im Bruchteil einer Sekunde stand sein Entschluss fest. Er holte tief Luft und streifte seinen Atemschutz vom Kopf.

      Gerade als er die rettende Hülle dicht auf Pjotrs Gesicht presste, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Fast hätte er vor Schreck einen Atemzug getan, der seine Lungen mit dem giftigen Qualm füllen würde, als er eine Gestalt erblickte, die zu ihm herabsah. Ohne Schutz vor dem Gesicht, ohne Anzeichen einer Furcht, von den peitschenden Kugeln getroffen zu werden. Gütige Augen sahen ihn an. Das muss der Tod sein, dachte Michail, denn eine derartige Erscheinung hatte er noch nie zuvor gesehen. Dunkle Haut, nicht rußig, nein, eine schwarze Haut, kurze, gekräuselte Haare.

      »Dein Bruder ist von uns gegangen.«

      Jetzt erkannte Michail, wer da vor ihm stand, wer zu ihm sprach. Es war nicht der Tod. Nein! Es war ein Farbiger. Er hatte schon Bilder von Schwarzen gesehen, war aber noch nie einem begegnet. Er wollte Fragen stellen, doch dazu hätte er atmen müssen. Der Farbige griff zur Maske und legte sie Michail wieder an.

      »Pjotr!«, flüsterte Michail verzweifelt in den Luftfilter hinein.

      »Dein Bruder ist längst bei uns. Und du wirst ihm folgen.«

      »Wer bist du? Was machst du hier?«, fragte Michail, indes all die Schreie seiner Kameraden – ja, der ganze Krieg um ihn herum in weite Ferne gerückt schienen. »Was meinst du damit, mein Bruder ist bei euch? Er ist doch hier. Bist du einer von uns?«

      »Ich bin einer von euch. Der eine, der zurückkehren wird, um die Worte Throns zu verkünden.«

      Michail verstand nicht. Zwar hörte er die Worte klar und deutlich, so als ob er mit diesem Fremden allein in einem Zimmer sitzen würde, doch er begriff deren Inhalt nicht. »Zurückgekehrt? Aber mein Bruder – Pjotr.«

      »Michail, du bist einer der Engel. Und du wirst künftig auf meiner Seite stehen! Deine Seele ist rein. Deute die Zeichen.«

      »Welche Zeichen?«

      Noch bevor Michail weitere Fragen stellen konnte, lief der Farbige an ihm vorbei durch den Schützengraben, bis der Rauch seine Silhouette verschlang. Michail legte sich

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