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begriff, begann sie zu wimmern. Das Wimmern mündete in lautes Schreien und wenige Augenblicke später säumten viele Neugierige mit Tüchern vor den Nasen den Stand von Yazhen. Dieser kniete aufrecht am Boden, beide Hände an die Ohren gepresst, Mund und Augen weit aufgerissen. Aber war es tatsächlich Yazhen, der da mysteriös kauerte? Das Gesicht, der ganze Körper waren ausgezehrt – nur eine graufahle Haut überzog sein Gerippe und glich der einer ausgedörrten Mumie. Die hervorgetretenen Wangenknochen ließen die aufgerissenen Augen groß und ängstlich erscheinen. Gegenüber von Yazhen staubte ein noch glimmender Aschehaufen.

       Kapitel 6: Besuch am Grab

       Washington, D. C., Dezember 2015

      Schon zeitig am Morgen standen Fredrik und Olivia an der Tür. Sandra öffnete mit Meira auf dem Arm ihren Schwiegereltern und nach den Begrüßungsküsschen gingen sie zu viert in die Küche.

      »Die anderen schlafen noch. Wollt ihr vorab einen Kaffee?«

      »Danke, Sandra. Ich hoffe, wir sind nicht zu früh?«, fragte Olivia etwas unsicher.

      »Nein, nein, gar nicht, dann haben wir was vom Tag. Ihr könnt gleich mit dem Frühstück helfen. Fredrik, holst du bitte den Karton Orangen aus der Speisekammer und presst sie aus?«

      Fredrik lief zur seitlichen Kammer, während Olivia lächelnd Sandra betrachtete. »Du siehst gut aus.«

      »Es geht mir auch gut, Olivia.«

      »Keine Übelkeit durch die Schwangerschaft?«

      »Nichts dergleichen, mir geht es richtig blendend. Nächste Woche bin ich wieder zur Voruntersuchung – scheint alles in bester Ordnung zu sein.«

      »Wunderbar. Wir freuen uns schon so auf den Nachwuchs.«

      »Und wie«, lachte nun Fredrik, während er begann, die Orangen in zwei Hälften zu schneiden.

      »Marc und Janette werden sicher auch gleich kommen. Denke nicht, dass Lea sie lange schlafen lässt – ach, wenn man vom Teufel spricht.«

      »Morgen Mom, Dad.« Marc kam ums Eck gebogen, nur in Shirt und Boxershorts bekleidet, die blonden Haare vom Schlaf zerzaust. Er drückte seiner Mutter Olivia einen flüchtigen Kuss auf die Wange und fragte: »Wie spät ist es?«

      »Kurz nach acht«, antwortete Sandra mit einem Nicken zur Küchenuhr.

      »Ihr seid zeitig dran, was, Mom?«

      »Na, wir wollten nichts verpassen und wussten nicht so recht, wann ihr frühstückt.«

      »Jetzt wissen wir’s«, schmunzelte Fredrik, die Hand an der Fruchtpresse.

      »Janette wird auch gleich hier sein. Macht gerade Lea fertig.«

      »Wie geht es Lea?«, fragte Olivia ihren Sohn.

      »Gut so weit. Professor Collins meint, dass sie alles sehr gut wegsteckt.«

      »Wann fahren wir zum Grab?«, unterbrach Fredrik.

      »Ich dachte, gleich nach dem Frühstück. Da ist die Luft noch schön kühl und rein. Anschließend sind wir mit dem Mittagessen beschäftigt und heute Abend werden wir zu tun haben, Lea ins Bett zu bringen.«

      Kurz nach zehn Uhr standen alle angezogen im Foyer. Auf zwei Jeeps verteilt fuhren sie zum Nationalfriedhof Arlington, der unweit des Weißen Hauses auf der gegenüberliegenden Seite des Potomac Rivers lag. Der Tag war sonnig, die Luft so, wie Sandra versprochen hatte: klar und kühl.

      Als sie vor dem gewichtigen Grabstein aus Marmor standen, betrachteten sie dessen Inschrift.

       Chris Owen

       * geboren am 30. Mai 1984 † gestorben am 17. Juni 2014

      Sie hatten bewusst nicht Stephens Namen gewählt, um zu verhindern, dass seine letzte Ruhestätte zum Pilgerort wird.

      Stephen Haskins, alias Chris Owen, wurde in einem Atemzug mit Martin Luther King genannt, nachdem er 2012 in einem landesweit verfolgten Prozess als Anwalt jenen weißen Polizisten vertrat, der einem Schwarzen während einer routinemäßigen Fahrzeugkontrolle acht Kugeln in den Rücken schoss. In monatelangen Verhandlungsmarathons gelang es Stephen Haskins als Verteidiger zunächst, alle Annahmen zu zerstreuen, die die Schuld seines weißen Mandanten nahelegten. Er hatte die Jury aus zwölf Geschworenen bereits auf seiner Seite, als er plötzlich – mitten in seinem Schlussplädoyer – das Blatt wendete.

      Seine Rede vor Gericht dauerte gerade einmal dreißig Minuten. Danach war allen im Gerichtssaal, im ganzen Lande bewusst, dass er Geschichte geschrieben und den schwarzen Menschen weit über die Vereinigten Staaten hinaus zu ihrem Recht verholfen hatte. Zwar entzog man ihm den Fall, doch über Nacht war er zum Symbol der Farbigen geworden, weit über die Landesgrenzen der USA hinaus.

      Zeitgleich mit der erlangten Berühmtheit wurde er Feind Nummer eins aller Rassisten, die ihm nach dem Leben trachteten. Zum Schutz seiner Person, seines Lebens, änderte das FBI seine Identität: Aus Stephen Haskins wurde Chris Owen. Als Weißer geboren, zu einem Schwarzen mutiert, starb Stephen Haskins, alias Chris Owen, durch ein Attentat in der Mother Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston.

      Schon von Weitem war ihnen der imposante Baum am Grab aufgefallen und Fredrik war der Erste, der nun danach fragte: »Hast du diesen Baum gepflanzt? Der ist ja riesig.« Fredrik blickte zu Sandra, die an Meiras Kinderwagen stand.

      »Nein, ich dachte bis jetzt, ihr hättet ihn hier einpflanzen lassen.«

      »Schöner Baum«, meinte Marc, »aber von uns ist er auch nicht.« Marc lief um den Grabstein herum. »Man könnte meinen, er steht schon immer da. Der Stamm hat mindestens einen halben Meter Durchmesser.«

      Kaum hatte Marc die Worte ausgesprochen, als eine Schar Sperlinge aus der Baumkrone aufwirbelte und im quirligen Durcheinander in die Höhe flog. Etwas erschrocken sahen alle den Vögeln nach.

      »Ich werde mich gleich nach den Feiertagen bei der Friedhofsverwaltung informieren. Seltsam, dass man es überhaupt zulässt, so ein ausladendes Gewächs auf diesem Friedhof und dann noch direkt an einen Grabstein zu pflanzen«, meinte Fredrik.

      Sandra legte den mitgebrachten Kranz ab, hob den roten gläsernen Windschutz an der Grablampe hoch und zündete die darunter angebrachte Kerze an. »Frohe Weihnachten, Stephen.« Ihre Augen wurden feucht. »Autsch.« Sandra bückte sich leicht und hielt den Bauch.

      »Was ist los, Kind?«, fragte Olivia besorgt und ging einen Schritt auf ihre Schwiegertochter zu.

      »Nichts weiter, aber gerade hat es in meinem Bauch getreten.«

      »Das wäre aber früh, so Anfang des dritten Monats«, orakelte Janette. »Geht es dir wirklich gut?«

      »Ja, ja, ist nichts. Aber schon seltsam. Da bin ich gespannt, was meine Frauenärztin bei der Voruntersuchung sagt. Wenn es jetzt schon tritt! Das kann ja was werden!«

      Janette betrachtete Sandra im Versuch sich zu erinnern, wann sie das erste Mal Lea im Bauch gespürt hatte. Das musste im vierten oder fünften Monat gewesen sein.

      Sie standen weitere Minuten schweigend am Grab und gedachten Stephens. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach – durchweg waren sie liebevoll, geprägt von Stolz und Trauer.

      »So, wenn wir den Braten heute noch essen wollen, sollten wir uns wieder auf den Weg machen«, meinte Sandra und rief zum Aufbruch.

       Kapitel 7: Der Missionar

       Changchun, Nordosten Chinas, 1878

      William Lockhart lief durch die Straßen Changchuns; der Schweiß rann ihm in die Augen, während die Sonne unerbittlich die Luft zum Glühen brachte. Es roch bestialisch nach verwestem Fleisch, doch nicht der Gestank verschlug ihm den Atem – nein, es war der Anblick des Grauens, das sich seinem Auge entsetzlich

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