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als er dachte, er habe in seinem Leben noch nie derart schwer zu Ertragendes gesehen, schreckten ihn Schreie auf. Sie drangen aus dem gegenüberliegenden Haus. Ohne weiter darüber nachzudenken, überquerte er raschen Schrittes die Straße und betrat die Türschwelle.

      Im Inneren fand er eine Frau vor, deren Alter er aufgrund des abgemagerten Körpers nicht schätzen konnte. Sie kniete vor einem Bett, in dem ein Mädchen lag. Die Wangenknochen des Kindes ragten hervor, der geöffnete Mund ließ wenige, von Fäulnis befallene Zähne erkennen. Die Augen der Kleinen waren geschlossen. Hinter der wimmernden Frau stand ein gebeugter Mann mit schütterem Haar, dessen hängende Hose dünne, knöchrige Beine vermuten ließ.

      »Nicht Lien, nicht meine Lien«, schluchzte die Frau und stieß die Hand, welche der Mann ihr besänftigend auf die Schulter legte, von sich. Der Magere wandte sich daraufhin ab, war im Begriff, auf einen Holzschemel zu sinken, als er den Missionar Lockhart an der Tür erblickte. »Wer sind Sie?«, fragte er und sowohl sein Blick als auch seine Stimme waren gebrochen.

      »Mein Name ist William. Ich habe Schreie gehört und dachte …«

      »Was wollen Sie?«

      Im ersten Moment wusste Lockhart nicht, was er antworten sollte. Er war aufgebrochen, nachdem in England die Gerüchte blühten, die seit zwei Jahren anhaltende Dürre in China hätte eine Hungersnot unermesslichen Ausmaßes ausgelöst. Da er bereits vierzig Jahre zuvor Guangdong, Macau und Shanghai besucht hatte und maßgeblich an der Errichtung von Krankenhäusern beteiligt gewesen war, wollte er sich trotz seines Alters von 67 Jahren ein eigenes Bild verschaffen. Das, was ihn erwartete, übertraf bei Weitem seine bittersten Albträume. Und jetzt, dieses Kind vor Augen … Er fand keine Worte. Daher trat er schweigend in den Raum und kniete sich neben die Frau. »Lebt sie noch?«

      Zwei müde Augen blickten ihn an. Die Frau blieb jedoch stumm. Lockhart beugte sich über das Kind und befühlte vorsichtig die Schlagader am Hals des Mädchens. Seine Fingerspitzen spürten das schwache Pochen unter der vom Fieber glühenden Haut. Ob das Kind schlief oder das Bewusstsein verloren hatte, konnte er nicht ausmachen. Was ihm indes klar wurde, war die Tatsache, dass es ebenso dem Hungertod zum Opfer fallen würde wie Millionen weiterer Chinesen. Er griff zu seiner Feldflasche, benetzte die Lippen der Kleinen und wandte sich anschließend dem Mann zu, dem Vater, der verzweifelt am Tisch saß. »Ich werde wiederkommen und etwas zu essen bringen«, versprach Lockhart im Versuch, die eigene Verzweiflung zu verbergen.

      Der Chinese sah ihn nur an, dann stand er auf und bedeutete Lockhart, ihm zu folgen. Sie gingen hinaus auf die Straße und der gebeugte Vater lief hinter das Haus. Vor einem Fleck ausgetrockneter Erde blieb der Chinese stehen. »Hier liegt mein Sohn Tian. Ich habe ihn heimlich vergraben, damit er nicht in einem der Massengräber an den Straßenrändern verscharrt oder liegen gelassen nachts von Wölfen angefallen wird.«

      Lockhart verschlug es einmal mehr die Sprache. Dann, als der Alte mit gesenktem Haupt weitererzählte, liefen Lockhart die Tränen.

      »Die großen Gräber der Stadt werden nicht mehr geschlossen. Man wirft die Toten hinein und lässt die Gruben offen. Und weißt du, warum? Um am nächsten Tag weitere Leichen hineinzuschmeißen – und weil sie nachts sowieso anfangen, die Körper auszugraben. Verstehst du? Unser Volk hat Hunger und es isst seine Verstorbenen. Das Wasser ist verseucht, wir verzehren Stroh und bekommen Durchfall. Was kannst du schon helfen?« Der Chinese hob den Kopf und Lockhart sah in glasige, feuchte Augen. »Wir haben ein Sprichwort: Ein Chinese ist Konfuzianer, wenn es ihm gut geht, er ist Daoist, wenn es ihm schlecht geht, und er ist Buddhist im Angesicht des Todes. Geh jetzt und lass uns sterben. Wir sind ein verlassenes Volk.«

      Einen Monat später schrieb William Lockhart als Direktor der London Missionary Society und Vorstandsvorsitzender der Medical Missionary Association direkt an Königin Victoria.

       Eure Majestät, Königin des Empire, Kaiserin von Indien,

       meine Reise nach China war erfüllt von der Hoffnung, jenem Land in diesen schweren Jahren der Dürre Hilfe zu bringen. Das, was mich erwartete, übertraf an Elend und Tod alles, was sich der Mensch in seinen schlimmsten Träumen auszumalen vermag. Als gläubiger Christ bin ich der festen Überzeugung, dass Gottes Prophezeiung uns offenbar wird. Dort, in diesem fernen Land, wird uns die Apokalypse vor Augen geführt. Gott stehe uns bei!

       Ihr gottesfürchtiger Diener

       William Lockhart

       Kapitel 8: Das zweite Siegel

       Braunau am Inn, April 1913

      Der Sonnenuntergang legte sich zart wie ein roter Seidenschal über den Marktplatz von Braunau, als ein stämmiger Mann mit rotem, bis zu den Stiefeln reichendem Ledermantel die von Zigarren und Pfeifenrauch vernebelte Wirtsstube betrat. Er behielt den dunklen Hut mit breiter Krempe auf, während er an den Tresen der gefüllten Gaststube trat.

      Lisbeth war gerade damit beschäftigt, zwei Krüge mit Bier aus dem Zapfhahn zu füllen, als sie kurz aufsah. Beim Anblick des Mannes fröstelte sie. »Bin gleich bei Ihnen«, rief sie dem Fremden über den Geräuschpegel der vielen Gäste hinweg zu. Nachdem sie beide Bierkrüge auf der Theke abgestellt hatte, wandte sie sich dem groß gewachsenen Mann mit dem auffallend roten Mantel zu: »Was darf’s denn sein, der Herr?«

      »Sie vermieten Zimmer?«

      Lisbeth konnte das Gesicht des Fremden wegen des tief in die Stirn gezogenen Hutes kaum erkennen. Im Schatten der Kopfbedeckung erhaschte sie kurz zwei tief liegende Augen sowie eine ausgeprägte, glatt rasierte Kinnpartie. Die Lippen des Mannes waren dünne Striche und zuckten ein wenig, wenn er sprach.

      »Da schau’n wir doch gleich, ob noch was frei ist.« Lisbeth wischte die feuchten Hände an ihrer Schürze ab und griff zu einem dunkelbraunen Buch unter der Theke. »Zwei sind noch frei, mein Herr, eins im ersten Stock sowie die kleine Dachkammer. Wie lang wollen’s denn bleiben?«

      »Dann nehm ich die Dachkammer«, sagte der Mann in sonderbar wirkendem Tonfall, ohne auf die Frage einzugehen.

      Na, von hier biste aber nicht, überlegte Lisbeth. »Das Zimmer im ersten Stock ist das schönere. Auch viel geräumiger.«

      »Ich nehm die Dachkammer, Lisbeth.«

      Verwundert darüber, dass dieser seltsame Mensch sie mit Namen ansprach, legte sie ihm das braune Buch auf den Tresen. »Wenn Sie da Ihren Namen reinschreiben würden; dann bekomm ich noch vier Groschen für die Nacht.«

      Nachdem der Mann etwas eingetragen hatte, schob er Lisbeth das Buch mit vier Münzen darauf entgegen.

      »Haben der Herr Gepäck? Wir können es nach oben bringen.«

      Doch der neue Gast griff nur den Schlüssel, welchen Lisbeth hingelegt hatte, und verließ ohne Antwort die Gaststube.

      »Wer war denn das?«, fragte die Wirtsfrau, die den skurril wirkenden Reisenden von der Küchentür aus beobachtet hatte.

      »Keine Ahnung, aber er kennt meinen Namen.«

      »Zeig mal«, bat die Wirtin, auf das Gästebuch deutend. Als sie versuchte, die geschwungene Schrift zu entziffern, schüttelte sie den Kopf. »Kann ich nicht lesen. Hab ein Auge auf den Kerl, ja, Lisbeth?«

      Die Nacht brach herein, als der seltsame Hüne vor einem kleinen Holztisch in der mit Dachgiebeln versehenen Mansarde saß. Der rote Ledermantel lag neben dem Hut auf dem Bett. Ein dicker anthrazitfarbener Wollpullover mit rundem Ausschnitt ließ den muskulösen Brustkorb erahnen und zwei kräftige, dunkel behaarte Hände hielten einen gerollten Gegenstand, so als ob dieser zerbrechlich sei. Der Mann fixierte ihn mit zittrigen Fingern. Langsam neigte er den Kopf in den Nacken und blickte zur Zimmerdecke, während sein schwarz gewelltes Haar den Ansatz seiner Schultern umspielte. Gleichmäßige, tiefe Atemzüge durchzogen die Stille der Kammer.

      Gedämpft begann er zu flüstern, doch niemand aus Braunau wäre in der Lage gewesen, die Worte zu verstehen. In bläulicher Dunkelheit der Nacht betete er ohne jede

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