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auf der Flucht. Millionen, die ihr Land verlassen, und unsere Truppen sind mittendrin.«

      »Doch lieber ein Weihnachtsfilm?«, schlug Marc vor, als seine Hand auf die Schulter des Schwagers sank.

      »Hast ja recht, auf Kanal 19 kommt Das Wunder von Manhattan

      Genau, die Dialoge kann ich schon mitsprechen, sann Marc.

       Kapitel 5: Der Schwarze Reiter

       Changchun, Nordosten Chinas, 1875

      Tian rannte neben seiner kleinen Schwester Lien zwischen den Buden des Marktplatzes, während sie einen Heidenspaß hatten, mit ihren Köpfen gegen die an Schnüren befestigten bunten Seidenschals zu springen. Aufgeregte Beschimpfungen der Budenbesitzer brachten sie noch lauter zum Lachen. Der große Markt war überdacht durch endlos gespannte Decken und Tücher, die angenehmen Schatten spendeten.

      »Komm rüber, Lien. Dort hinten ist der Stand.«

      Sie bogen in eine kleine Gasse und von Weitem roch man – neben den süßlichen Aromen der Gewürze, der Teesorten, des Obstes und Gemüses – den ekligen Gestank von ungekühlt liegendem Fisch und Fleisch.

      »Ihhh, Tian, das stinkt! Müssen wir da wirklich hin?«

      »Mutter hat uns Geld dafür gegeben und wenn wir ohne das Huhn heimkommen, reißt sie mir den Kopf ab.« Tian legte beide Hände seitlich an seinen Kopf und zog daran. Dabei verdrehte er die Augen und streckte die Zunge heraus.

      Lien prustete vor Lachen. »Aber du trägst das Huhn. Ich fass es nicht an!«

      Direkt vor dem Verkaufsstand angekommen, lief zwischen ihren nackten Füßen ein Rinnsal aus Wasser, vermischt mit dem Blut ausgenommener Tiere.

      »Sieh mal, Tian, die Fliegen.«

      Etwas nach hinten gerückt, befand sich eine offene Tonne, gefüllt mit Innereien und abgetrennten Fischköpfen, um die Tausende von Insekten wild herumschwirrten. Ein kleiner weißhaariger Chinese schnitt gerade mit flinker Messerführung einem Fisch den Bauch auf und zerrte Herz, Lunge und Darm heraus. Dabei betrachtete er lächelnd die beiden Kinder, die, halb staunend, halb sich ekelnd, vor ihm standen. »Na, Tian, was soll’s denn sein? Wieder Fischköpfe für die Suppe?« Die langen, wie Flusen herabhängenden weißen Barthaare zu beiden Seiten seiner Lippen tanzten, während er sprach.

      »Ja, und ein Huhn. Schön fett, hat Mutter gesagt.«

      Lien stieß ihren Bruder in die Seite, denn von den Fischköpfen hatte er nichts verraten. Sie hasste Fischsuppe. Zwar schmeckte diese, doch es würgte sie bei der Vorstellung, dass Köpfe mit Augen und Kiemen in der Flüssigkeit schwammen, die sie essen sollte.

      »Gibt’s denn was zu feiern?«, wollte der Alte wissen.

      »Unser Onkel aus Shenyang kommt zu Besuch.«

      »Ahhh, der Onkel. Da muss sicher ein großes Huhn her. Sieh dir dieses an. Fett und gerupft.« Er nahm von einer seitlich angebrachten Stange eine Henne vom Haken, indem er das Hakenende aus dem gestreckten Hals des Tieres zog. Flink wickelte er den Vogel in braunes Papier und legte ihn zur Seite. »Wie viele Fischköpfe will deine Mutter?«

      »Sechs, hat sie gesagt.«

      Ohne zu zögern, tauchte der Weißhaarige mit seinen knorrigen Fingern durch den Schwarm Fliegen hindurch in die Tonne und legte einen abgetrennten Kopf nach dem anderen auf ein weiteres braunes Papier. »Dann sagt eurer Mutter einen Gruß von mir.« Er reichte ihnen die beiden Pakete und Lien war bedacht, das Huhn zu greifen. Eh schon eklig genug!

      Tian wühlte die Käsch aus seiner Hosentasche und bezahlte den Händler. Der Alte lächelte, griff nach der Hand von Tian und legte einen der Kupfer-Käsch zurück. Blinzelnd flüsterte er: »Nicht verraten.«

      Freudestrahlend zeigte Tian seiner Schwester den Käsch, als sie um die Ecke bogen. Jetzt konnten sie auf dem Markt noch jene Plätzchen kaufen, die zuckersüß nach Honig schmeckten.

      Yazhen, der Fisch- und Fleischhändler, hatte bereits als kleiner Junge an diesem Stand geholfen und führte, nachdem sein Vater verstorben war, die Tradition des Händlers fort. Es war ein geruhsames Leben, das nun schon über siebzig Jahre währte. Zur Morgendämmerung begann er, die gelieferten Fische auszunehmen und die gerupften Hühner sowie anderes Getier appetitlich zu präsentieren. Appetitlich hieß in diesem Zusammenhang, es auf einen Haken zu hängen oder frisch auf dem Standtisch zu platzieren. Andere Tiere, wie Shrimps, Seeschlangen oder Krebse, aber auch Algen, lagerten in Fässern. Nach hinten war die Marktbude durch einen bunten Vorhang abgetrennt. Von außen nicht zu sehen, befanden sich dort eine kleine Feuerstelle sowie ein Bastteppich.

      Hier genoss es Yazhen, nach getaner Arbeit des Morgens den ersten Tee aufzugießen. Er schmunzelte zufrieden, bereits vor Beginn des eigentlichen Markttreibens ein Huhn verkauft zu haben, als er den Vorhang zur Seite schob. Zu seiner Verwunderung saß im Hinterzimmer ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, den Blick auf den Boden gerichtet.

      »Was machen Sie hier? Wer sind Sie?«, fragte Yazhen verwundert, gleichermaßen ängstlich, denn es wäre ihm doch aufgefallen, hätte jemand den Privatraum betreten.

      Ohne aufzublicken, wies der Fremde Yazhen mit einer Handbewegung an, sich zu setzen. Zögernd kniete sich der Händler gegenüber dem schwarz Bekleideten auf den Bastteppich.

      »Was wollen Sie hier?«

      »Du bist ein alter Mann, Yazhen. Ohne Kinder, ohne Familie. Und du bist reinen Glaubens«, antwortete der Fremde frei jeder Betonung und jedes Akzentes.

      »Woher kennen Sie meinen Namen? Ich kenne Sie nicht!«

      Jetzt hob der Fremde den Kopf – gerade so weit, dass Yazhen in dessen Augen blicken konnte. Es waren dunkle, kalte Augen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Yazhens Unwohlsein wich der Panik, die in ihm hochstieg.

      »Die Zeit ist gekommen. Es hat begonnen.«

      Von der eisigen Musterung des Fremden schien Yazhen wie gelähmt. »Welche Zeit?«

      »Deine und die der Menschen.«

      Tiefgläubig ahnte Yazhen plötzlich, wer da vor ihm saß. Doch – war dies möglich?

      Mit zittriger Stimme flüsterte der Chinese: »Bist du der Tod?«

      Der Fremde senkte wieder den Kopf. »Fürchtest du dich vor dem Tod, Yazhen?«

      Fürchten?, dachte dieser. Mehr als das! Die Panik ließ ihn am ganzen Körper zittern, wodurch er außerstande war, auf die Frage eine Antwort zu geben. Imaginäre Hände umschlangen seine Kehle und drückten zu.

      »Nein, ich bin nicht der Tod, den du fürchtest. Ich bin einer der Tode, welche die Menschheit zu fürchten hat. Und du wirst mein Zeuge sein. Mein Zeuge vor Thron, dass ich das Siegel gebrochen habe.« Kaum hatte der Unbekannte die Worte gesprochen, zog er eine Schriftrolle hervor, die durch ein rotes Kerzensiegel zusammengehalten wurde.

      »Was ist das?«, krächzte der Chinese, während Tränen in seinen dünnen, ausgeblichenen Bart sickerten.

      »Sieh, wie ich das Siegel breche; der Schwarze Engel, der Schwarze Reiter, jener, der euch hungern lässt!«

      Gebannt blickten die schlitzförmigen Augen auf die Hände des Mannes, als das Siegel brach. Nur Yazhen konnte das Donnern vernehmen, als Bruchstücke des roten Kerzenwachses auf den Bastteppich fielen. Beide Hände an die Ohren gepresst, begann Yazhen laut zu schreien. Doch niemand hörte ihn.

      Es dauerte nicht lange, bis sich Kunden bei Xia über den üblen Gestank am Nebenstand beschwerten und nach Yazhen fragten. Also beschloss sie nachzusehen. Nicht, dass der Alte über seinem Tee eingeschlafen war.

      »Yazhen, bist du da?«

      Xia schlug vergebens mit den Händen, um Tausende Mücken zu vertreiben, die sich an verwesten Hühnerkadavern, stinkendem Fisch sowie an undefinierbaren, mit Schimmel überzogenen Schleimmassen der Tonnen labten. Stechender,

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