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       Kapitel 10: Die Erscheinung

       Washington, D. C., Dezember 2015

      Lea war am Tisch noch während des Mittagessens eingeschlafen. Die frische Luft des Vormittags hatte offenkundig ihr Übriges getan. Marc trug seine Tochter vorsichtig in den ersten Stock und legte sie ins Beistellbett, welches Sandra im Gästezimmer aufgestellt hatte. Dann schloss er leise die Tür und ging wieder hinunter. Der Truthahn, den Sandra schon tags zuvor zubereitet hatte, war gerade mal zur Hälfte verzehrt, doch alle in der Familie stöhnten ihrer vollen Bäuche wegen.

      »Wollen wir noch einen Spaziergang machen?«, fragte Sandra, während sie gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Olivia die Teller in die Küche trug.

      »Geht ihr ruhig«, meinte Janette, »ich bleibe solange hier, bis Lea wieder aufgewacht ist.«

      »Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Marc seine Frau.

      »Nicht nötig, ich leiste Lea Gesellschaft. Ein Mittagsschläfchen kommt mir gerade recht.« Janette gab Marc einen Kuss auf die Wange, danach folgte sie Sandra in die Küche. »Los, Schwägerin, mach dich fertig zum Familienlauf. Ich räum das Geschirr in den Spüler und mache sauber.«

      »Willst du sicher nicht mitkommen?«, fragte Sandra ein weiteres Mal.

      »Einer muss auf Lea aufpassen. Ich lege mich nachher zu ihr. Vielleicht jogge ich heute Abend noch eine Runde.«

      Zehn Minuten später hörte Janette die Tür ins Schloss fallen, während sie den Rest des Mittagessens in der Küche verstaute. Nachdem sie fertig war, machte sie sich auf den Weg ins obere Stockwerk zu ihrer schlafenden Lea. Gerade in dem Augenblick, da sie den Treppenabsatz des Foyers erreichte, hörte sie den Schrei der Tochter. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe nach oben in Richtung des Gästezimmers. Als sie die Tür aufriss, kniete Lea mit der über die Nase gezogenen Schlafdecke im Beistellbett.

      »Was ist denn los, Liebes? Hast du schlecht geträumt?«

      »Mama, ein Mann!«

      Janette blickte sich im Zimmer um. »Da ist niemand. Wo ist er denn hin?«

      »Weg, Mami.«

      »Du hast unschön geträumt, mein Schatz. Komm zu mir.« Janette setzte sich auf die Bettkante und Lea legte ihr verängstigtes Gesicht in den Schoß der Mutter. »Ich träume auch manchmal Dinge, weißt du. Und dann erschrecke ich mich ebenso arg. Aber es sind zuletzt nur Träume und sobald du aufwachst, ist alles wieder gut.«

      »War da, Mami.«

      »Wie hat er denn ausgesehen, dein fremder Besuch?«

      »Schmutzig.«

      »Schmutzig?«, fragte Janette.

      Lea nickte.

      »Sicher hast du das geträumt. Jetzt leg dich wieder hin, Mami schläft auch ein wenig. Magst du zu mir ins Bett? Dann können wir kuscheln.«

      Lea rannte erleichtert durchs Zimmer und machte einen Satz ins große Doppelbett. Lachend folgte Janette ihr. Wie rasch ihre Tochter doch die Angst vergaß und wieder unbeschwert war. Wenige Schritte vor dem Bett hielt sie inne, als ihr Blick auf den rosafarbenen Teppich fiel. Im ersten Moment dachte sie, Lea hätte etwas liegen lassen, doch dann erkannte sie die schlammigen Abdrücke einer … einer Stiefelsohle. Sie erschrak. Wie ein Blitz durchfuhr sie ein Gefühl von Furcht! Hektisch blickte sich Janette im Zimmer um, sah weiter nichts Außergewöhnliches, doch panische Angst hatte sie ergriffen.

      »Lea, komm, komm schnell! Wir gehen nach unten und suchen die anderen.«

      »Mami, kuscheln!«, protestierte Lea.

      »Wir kuscheln später, Schatz. Jetzt komm!« Sie riss Lea aus dem Bett, drängte aus der Tür und stieß diese mit ihrem Fuß krachend ins Schloss.

      »Mami!«

      »Keine Angst, ich habe vergessen, dass ich Daddy versprochen habe nachzukommen, wenn du wach bist.«

      Während sie mit Lea auf dem Arm ins Erdgeschoss eilte, wirbelte ihr Kopf aufgeregt von einer Seite zur anderen in der Befürchtung, jeden Moment würde ein Fremder ums Eck treten. Panisch durchquerte sie mit Lea das Foyer, hin zur Haustür.

      »Schuhe?«, fragte Lea.

      »Es ist warm draußen.«

      Tatsächlich hatte der Spätnachmittag frühlingshafte Temperaturen, dennoch wunderte sich Lea, dass ihre Mutter in Strümpfen die Auffahrt hinunterrannte. »Marc, Sandra!«, rief Janette laut. Sie waren fünfzig Meter vom Haus entfernt, als sie von Weitem Marcs Stimme hörte – dann sah sie ihn am Ende der Zufahrt. Elias war im Rollstuhl neben Marc. Als dieser seine Frau ohne Schuhe herunterstürmen sah, lief er ihr eilig entgegen.

      »Was ist denn los, Liebes?« Marc nahm Janette die Tochter ab und streichelte über deren Haar.

      »Schlecht geträumt, Daddy.«

      Erstaunt sah Marc seine Frau an. »Was ist passiert?«

      »Nicht jetzt, Marc, komm bitte mit hoch. Bitte.«

      Währenddessen fand sich der Rest der Gruppe ebenfalls ein. »Ist etwas?«, wollte Fredrik wissen.

      »Lea hat schlecht geträumt.« Marc zuckte unwissend die Schultern, legte den Arm um Janette und spürte, wie sie zitterte.

      Nachdem sie im Haus angekommen waren, nahm Rachel Lea bei der Hand. »Komm, wir zwei gehen in die Küche und sehen nach dem Kuchen. Da kannst du mir sicher helfen, oder?« Lea grinste und tapste Rachel hinterher. Der Rest ging ins Wohnzimmer.

      »So, und nun erzähl«, begann Marc, während er fragend seine Frau ansah.

      »Also, ich war gerade auf dem Weg nach oben, als ich Lea schreien hörte. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und hat mir von ihrem Traum erzählt. Ein Mann sei da gewesen.« Janette blickte ängstlich zu Sandra.

      »Ich glaube, wir können jetzt alle einen Scotch vertragen, was meint ihr?«, fragte Fredrik dazwischen.

      »Warum warst du dann so aufgeregt, wenn es doch nur ein Traum war?« Marc grinste.

      Janette blickte zu Boden. »Der Mann war schmutzig.«

      »Sicher«, schmunzelte Marc, »und er hatte eine rote lange Nase im Gesicht.«

      »Nein, Lea sagte, er war schmutzig!«

      »Dann schmutzig, ohne Nase.«

      »Marc, das ist nicht lustig! Als ich neben dem Bett stand, fand ich dort schlammige Abdrücke auf dem Teppich, wie von Stiefeln. Der Schlamm war noch feucht!«

      »Abdrücke meinst du?« Marc wurde von einer Sekunde auf die andere ernst. »Du glaubst, es war jemand im Haus? Dad, komm mit, ihr anderen bleibt hier.«

      Marc und Fredrik eilten die Stufen nach oben, hin zum Gästezimmer. Nachdem sie eingetreten waren, betrachteten sie den braunen Matsch, der eindeutig von Sohlen eines großen Schuhs stammte. Marc kniete nieder und befühlte die Erde. Sie war feucht und kalt.

      »Es muss jemand hier gewesen sein. Dad, sieh nach den Fenstern.«

      Fredrik prüfte jedes einzelne, doch sie waren allesamt verschlossen.

      »Sieh in den übrigen Zimmern nach, ich gehe nach unten.« Marc rannte die Treppe hinab und vergewisserte sich, dass alle Fenster im Erdgeschoss verriegelt waren. In der Küche zwinkerte er Rachel und Lea zu, dann kontrollierte er die Hintertür, die in den Garten führte. Auch sie war abgesperrt, der Schlüssel steckte von innen.

      »Dad, Kuchen«, gluckste Lea.

      »Ja, Maus, toll.«

      Rachel spürte, dass etwas nicht stimmte, fragte dennoch im Beisein der kleinen Lea nicht weiter nach.

      Im Foyer traf Marc seinen Vater, der die Treppe herunterkam. »Alles in Ordnung. Es ist niemand da.«

      Gespannte Blicke lasteten auf ihnen, als sie ins

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