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Wurzeln, großgeworden in Oaxaca, Studium der Kulturpolitik in London, enzyklopädisches Wissen über präkolumbianische Kunst.« Schließlich deutete er auf einen ehemaligen Elitesoldaten aus Guatemala, bevor er mit der Bemerkung schloss: »Ángel kennt den Dschungel wie seine Westentasche, sorgt für unser aller Sicherheit. Noch Fragen?«

      An anderen Tagen wäre Fernanda näher auf die Biografien der Menschen eingegangen, die nun für sie arbeiten sollten. Heute fühlte sie sich entkräftet und hoffte, mit einem Lächeln alles zu sagen, wozu Worte nicht mehr imstande waren. Sie senkte den Kopf. »Wir haben eine lange Reise vor uns, wir sollten uns ausruhen«, gab sie dann beinahe tonlos von sich. Still zog sie an der Gruppe vorbei, ging auf ihr Zimmer und versuchte, ein wenig Schlaf zu finden. Es wollte ihr nicht gelingen. Als sie daraufhin ihren Koffer packte, schwirrten ihr lose Gedanken durch den Kopf. Es mag eine Zeit gegeben haben, dachte sie, in der ein Abstieg unter die Erde noch Geheimnisse hervorgebracht hat, kostbare Mineralien oder neue Mythen. Diese Zeit war unwiderruflich vorbei. Wo einst Schätze verborgen lagen, stinkt heute Müll. Auf der Oberfläche sah es nicht anders aus. Die Menschen hinterließen zu viele Spuren. Sie legte sich wieder aufs Bett, faltete ihre schlanken Hände über der Brust, schloss die Augen.

      Vor zwei Jahrzehnten hatte sie eine Konferenz in Mexico City besucht. Dort hatte der Wissenschaftler Paul Crutzen zum ersten Mal die Ära des Anthropozäns ausgerufen. In Wahrheit, das spürte sie jetzt, war das Thanatozän angebrochen, das Erdzeitalter des Todes, des Absterbens. Niemand konnte zu einst vertrauten Orten, zur Vielfalt der Arten, zur Fülle des Lebens zurückkehren. Die Menschheit schrieb nur noch Verluste.

      Auf der Veranda schwor unterdessen Damion sein Team auf die kommenden Wochen ein, im Halbschlaf hörte sie seine Worte. »Okay«, trommelte er los. »Ab heute gilt ein straffer Terminplan. Wir haben hier die besten Köpfe für unser Projekt zusammengestellt.« Stille. Die Brandung tönte herüber. Dann: »Mal sehen, ob der alte Kontinent Europa noch irgendwas zu bieten hat.«

       35

      IM MUSEUM am Rothenbaum in Hamburg zeichnete Viktor Sørless und führte den Kohlestift wie eine Sense. Ratsch – der Stift wirbelte hoch und ein Strich war vollendet. Viktor musterte seine Skizze und sah darauf feixende Gesichter mit langen Nasen und schräg stehenden, weit aufgerissenen Augen; ein Rausch an Linien und Kreisen. In den letzten Tagen hatte er tatsächlich wieder das Bedürfnis verspürt, zu zeichnen, doch allein das Halten des Stiftes, das Herumstochern in fremden Augen, Gesichtern und Körpern, kam ihm, inmitten der hiesigen Abendgesellschaft, übergriffig vor. Es störte wie ein Finger in der Wunde. Dennoch vermochte die aus seiner Hand stammende Schraffur sich wie ein Schleier über die ihn umgebende Wirklichkeit zu legen, was ihn tatsächlich beruhigte. Auch heute, in dieser mondänen Abendgesellschaft, in der er bislang die Abwesenheit von Gesellschaft war. Er war keinem Gespräch gefolgt, hatte nur kurz an dahinjagenden Lippen gehangen, sich aus dem Zentrum der tafelnden Gäste geschlichen, die sich immerzu selbst fotografierten; vielleicht, so dachte er nun bei sich, weil sie einen Mangel an Ewigkeit verspüren, zwischen all diesen Artefakten, die aus den Vitrinen heraus leise über die Zeit triumphierten. Er beobachtete, wie sich die Geladenen des Ephemeren Dinners erhoben – berauscht von der Rede des Kurators im faltenfreien Hemd, bestärkt von der Pracht des Saals, flankiert von überlebensgroßen Holzfiguren, die 1908 auf einer Südsee-Expedition »erworben« worden waren, deren eigentliche »Bedeutung« jedoch, so die angebrachte Texttafel, »nicht geklärt« war.

      Wer will es hier auch schon allzu genau wissen?, dachte er. Die Feier sollte schließlich Vergessen schenken. Die Gäste lachten, tanzten. Auf ihren Uhren verging eine sorglose Zeit. Von einigen Gesichtern glaubte er die Zufriedenheit ablesen zu können, die mit einer nicht gerade geringfügigen Spende zur Entfaltung von Kultur einherging, ganz unerheblich welcher Kultur im Übrigen, und ohne die Gefahr, dass irgendeine Weltsicht ins Wanken geraten oder etwa die Verdauung gestört würde. Eine Gruppe von Gästen versammelte sich im Schatten eines zeitgenössischen Künstlers, der gerade eben noch von jenem Kurator im faltenfreien Hemd als Person gepriesen worden war, die »wider alle Müdigkeit hintersinnige Mandalas malt, welche die Referenzhölle der Gegenwart thematisieren«.

      Da stand er, Viktor, nun also, sein Notizbuch zur Seite gelegt, mitten in der Referenzhölle der Gegenwart, anteilslos an einen Ecktisch gelehnt, geduckt und mit eingezogenen Schultern, und wollte nur noch eins: verschwinden. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte Viktor Sørless weder Geld noch Einfluss erlangt, geschweige denn das Gefühl erworben, dazuzugehören, und er fragte sich, warum gerade ihm eine Einladung zuteilgeworden und er obendrein dem leichtsinnigen Impuls gefolgt war, mal wieder unter Leute zu gehen – eine Wendung, die er verachtete.

      Ich passe nicht ins Bild, dachte er. Ein Befund, den er weiteren Personen ausstellen mochte, die seine Aufmerksamkeit an diesem Abend erregt hatten, wie etwa ein Mann Mitte vierzig, der hochgewachsen war und aus der Menge ragte mit seinem aristokratisch aufrecht getragenen Kopf und knochigem Gesicht, das Viktor an den Wangen leicht eingefallen zu sein schien. Er trug schulterlanges, braunes Haar, besaß wache, hell funkelnde Augen. Während er auf irgendetwas herumkaute, zeigte sich in seinen Zügen eine gewisse Härte, vielleicht sogar ein ausgeprägter Zynismus, Viktor wollte das noch nicht für sich entscheiden; ein richtiges Lächeln jedenfalls würden diese Lippen nicht zustande bringen, dachte er, drückten sie doch eher eine Art Belustigung aus, eine Art Süffisanz dem Geschehen hier gegenüber, mit dem sich dieser Typ, so kontrolliert wie er dastand, ganz sicher nicht identifizierte. Seine Halssehnen wirkten straff gespannt. Der weiche Fall seiner Locken aber nahm ihm etwas von seiner Bedrohlichkeit, strahlte vielleicht sogar etwas Erotisches aus. Erstaunlich, dachte Viktor. Selten hatte ihn jemand durch seine pure Erscheinung derart eingeschüchtert, dieser Typ wirkte verwegen, unbeugsam, schien alles zu überblicken, aber nichts von sich selbst preiszugeben. Viktor trank einen Schluck Wein. Nahe am Fenster stand sein Freund Benedetto, gemeinsam mit einer Frau, auf die Benedetto schon den ganzen Abend über seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Die beiden unterhielten sich. Viktor fiel das weich anmutende Gesicht der eher jung wirkenden Frau auf, deren tiefliegende Augen schwarz umzeichnet waren wie bei einem Vampir. Was nicht so recht zu ihrer sonnenverwöhnten Haut passen wollte, wie er fand. Und dann: Dieser Tick in der Schulter, der so wirkte, als wollte sie der Welt immer wieder einen Rempler verpassen. Benedetto trug ein kariertes Hemd, löcherige Jeans. Kurz, eine Garderobe, bei der alle Sorgfalt darauf verwendet wurde, sich von der Feierlichkeit des Abends abzusetzen. Mit einer Hand stützte er sich auf den Fenstersims, mit der anderen rauchte er eine Zigarette. Seine dunklen Locken fielen ihm über die Ohren; und diese Frau lächelte, mit jedem Wort, mit dem er sie scheinbar wie mit einem Lasso näher an sich heranzog.

      Benedetto, der Weltenbummler, dachte Viktor amüsiert. Tatsächlich war Benedetto Rissono ein belesener Schreiberling, der Reiseberichte verfasste, Duschvorhänge betextete und sich ein paar Scheine mit halbseidenen Geschichten dazuverdiente, bis er – so sein gern verkündeter Plan – einen »großen Coup« im Journalismus landen würde, etwa mit der Aufdeckung eines »politischen Skandals«, was mit dem Aufstieg in eine neue Gehaltsklasse einhergehen würde. Viktor hatte in seinem Leben weder Freundschaften geschlossen noch gesucht. Für den zwei Jahre jüngeren Benedetto hegte er indes Zuneigung. Es war schlicht die Lebensfreude und Leichtigkeit, mit welcher dieser Florentiner auf Männer ebenso zuging wie auf Frauen, die Viktor faszinierte. Seine Kunst bestand darin, keine Handlung als Kunst aussehen zu lassen. Sprezzatura – schoss es Viktor durch den Kopf. Diese Art von Lässigkeit, die daher rührte, dass das, was man tat oder sagte, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande kam, ohne sichtbare Anstrengung. Gefolgt von einem Leuchten in den Augen, das jedes Gegenüber als wichtigsten Menschen der Welt auszeichnete. Schon hob Benedetto sein Weinglas, hielt es gegen das Licht und schien das tiefdunkle Rot zu bewundern. Als Viktor diese Geste ihm wohlgesonnen spiegelte, lief sein Freund auf ihn zu, schnappte sich den Notizblock und betrachtete die Zeichnungen.

      »Gut getroffen«, pfiff er anerkennend und blickte sich um. Er nahm einen kräftigen Schluck, als würde er das Glas trinken, nicht den Wein. »Diesmal habe ich sogar Kleider an.«

      Viktor nickte. »Das ist richtig.«

      »Und wer ist diese Gestalt hier, die mit den Tentakeln?«, fragte Benedetto.

      Viktor

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