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      FERNANDA RAÍZ stieß einen Seufzer in die Welt hinaus: Regen prasselte auf die Erde, flutete die Straßen, schlug auf ihrer Veranda auf und schwemmte den Schmutz des Tages fort. Der Smog, der gerade noch Himmelskuppel und Atemwege belegt hatte, löste sich auf, und plötzlich bot sich ihrem Blick hier und da das Blau eines ansonsten von Wolken dicht verhangenen Himmels. Vor ihr blitzten die hohen Türme von Banken und Geschäftshäusern auf, ihr langer Schatten verdunkelte die kleineren Mietshäuser mit ihren Restaurants und Cafés auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Autos stockten am Straßenrand, eine Frau stellte sich unter das Blechdach ihres Verkaufstandes, fing Regenwasser auf und reinigte damit ihre Herdplatte. Die Luft roch frisch, und seltsam: Fernanda vermochte die Züge von Mexico City nicht mehr zu deuten, das im Wolkenbruch unterging. Diese riesige Stadt – atmete sie auf. Jede Nacht schliefen Abermillionen erschöpft ein, um sich tags darauf wieder zu erheben. Das Licht dieses schwülen Tages, das eben noch Palmen und Gesichter hatte erglühen lassen, wich einer unter heftigen Böen aufziehenden Dunkelheit. Fernanda ging über die Außenwendeltreppe zurück in ihr »Observatorium«, wie sie ihr Arbeitszimmer pathetisch nannte. Von hier aus konnte sie das Viertel ringsum, aber auch die Entwicklung der bedrohten Pflanzenarten, die sie hier versammelt hielt, in Ruhe beobachten. Eine Deckenlampe strahlte auf, kaum, dass sie den Raum betreten hatte, und bildete um das Kabinett ihrer Pflanzen einen goldenen Lichtkreis. Sie näherte sich zögerlich einer Pflanze, die ihr ein befreundeter Kunstsammler geschenkt hatte. Sie öffnete leicht ihre Hand. Ihr Zeigefinger schwebte für einen Moment in der Luft, senkte sich dann herab und berührte mit aller Vorsicht den zarten, behaarten Stiel der Pflanze.

      Einer Pflanze, die weinte.

      Ihre Fingerspitze glitt über den Stängel, über die hauchzarten Blätter und erntete mit einer sanften Bewegung die zähflüssigen Tränen, die auf ihrem Handrücken zu Perlen verschmolzen. Wie faszinierend, dachte sie. Sie fühlte sich vom Anblick des Grüns in ihrem Observatorium erfüllt, hegte aber noch Argwohn gegenüber diesem fleischfressenden Geschenk des Kunstsammlers: Byblis Lamenta, benannt nach einer griechischen Göttin und dem Rinnsal ihrer Tränen. Das Weinen selbst hatte die Pflanze zur Tarnung erhoben, um mit dem Schleim ihrer Drüsen ihre Opfer in den Tod zu locken. Ein feiner Mechanismus, wie Fernanda fand; feiner als etwa derjenige der Venusfliegenfalle, die eher mit weiblicher Verführung verglichen wird als mit männlicher Begierde. Viel zu oft fühlte sie sich von dieser brüsken Männlichkeit bestürmt. Kaum ein Reiz, kaum eine erste Berührung, und schon entzündete sich bei ihren Verehrern die Gier nach Befriedigung und schlug meist in Verachtung um, sofern sie diese nicht rasch genug erfüllte, und mit ihr in jenen hasserfüllten Blick, der ihr zu verstehen gab, dass sie als Frau Anfang fünfzig froh sein sollte, wenn ihr Körper überhaupt, geschweige denn liebevoll, noch angefasst würde. Was für eine Zeitverschwendung, dachte sie und musterte ihr Gesicht im Spiegel der Fenster: Buschige Brauen, ausgeprägte Wangenknochen, eine lange, schlanke Nase, darunter ihr sanfter Mund, der wählerisch mit Worten war, doch weit und großzügig im Lachen; eine feine Nackenlinie, und dichtes, schwarzes Haar mit bläulichem Schimmer, das sie heute zu einem Zopf gebändigt hatte, der ihre großen walnussbraunen Augen betonte, die, wie sie fand, in ihrer Sprache schöne Dinge sahen. Nein, Bewunderung war für sie nie eine Frage schneller Entfaltung gewesen, Erregung keineswegs die Erzählung eines Blitzes. Das hatte ihr Leben anspruchsvoller werden lassen – und wesentlich einsamer. Sie blickte zur Seite. Draußen wurde es dunkler, das Observatorium wirkte nun wärmer auf sie. Sie lockerte den Gürtel ihres Hausmantels und sah hinüber zu Zitlali in der Mitte des Raumes. Landkarten lagen auf dem Boden verstreut. Das Mädchen studierte, vom Bann des Unentdeckten angezogen, ihrem kindlichen Bewusstsein ferne Winkel der Welt. Fernanda war vom Schicksal dieses Kindes berührt. Bei einem Unfall hatte es seine Eltern verloren. Seither hatte Zitlali bei ihr ein Zuhause gefunden. Der Unfall – sie stockte und trat näher an das Mädchen heran, legte ihr behutsam die Hand auf den Rücken, als legte sie ein Pflaster auf eine Wunde. Wie durch ein Geräusch aus dem Schlaf geschreckt, zuckte Zitlali zusammen und schaute empor.

      »Was ist das?«

      Fernanda beugte sich zu ihr. »Amerika. Ein Teil davon gehörte früher zu Mexiko.«

      Das Mädchen nickte und fragte weiter: »Und das?«

      »Japan. Dort haben viele Menschen so schöne Augen wie du.«

      »Und das?« Zitlali umkreiste mit dem Zeigefinger eine Insel.

      »Das habe ich eingezeichnet. Es ist Bermeja.«

      »Bermeja?« Das Mädchen stutzte und spielte Harfe auf einer ihrer schwarzen Strähnen.

      »Das ist eine Insel der Fantasie. Dort wohnen die Träume. Du träumst doch oft, nicht wahr?«

      Das Mädchen nickte bedächtig, Fernanda fuhr fort: »Auf eine Weltkarte ohne das Land der Fantasie sollten wir niemals blicken. Es würde sich nicht lohnen.« Sie streichelte dem Mädchen über den Kopf. »Es muss ja einen Ort geben, zu dem hin unsere Gedanken reisen können. Wo es zwei Sonnen gibt, vielleicht auch drei. Wo du wunderschön Gitarre spielen kannst, am Saum eines Meeres mit glasklarem Wasser! Bist du schon einmal auf dem Rücken riesiger Schildkröten durch Flüsse gepaddelt?«

      »Nein, aber kann ich nach der Schule dorthin?«

      Fernanda lachte: »Ja, bestimmt.«

      »Aber ich bin noch klein«, wisperte Zitlali hinter vorgehaltener Hand. »Kommen dort nicht nur Erwachsene hin? Große Frauen und Männer?«

      »Große Männer haben selten Fantasie.«

      Plötzlich war ein Räuspern zu vernehmen. Eine hochgewachsene Gestalt erschien im Zwielicht des Türrahmens und schmunzelte. »Das habe ich gehört.«

      »Damion, so spät?« Noch hatte Fernanda sich nicht ganz gesammelt, da trat bereits der Kopf ihres Besuchers in den Lichtkegel der Lampe, was seine hohe Stirn und sein braunschimmerndes, schulterlanges Haar aufleuchten ließ. Gleichmütig wie ein Messer ging er auf sie zu. Sein nachtblauer Anzug verbarg nicht die Masse an aufgesparter Kraft.

      »Alles ist vorbereitet«, sagte er und wuschelte Zitlali durchs Haar. Seine Stimme klang ruhig. »Bist du bereit?«

      »Ich? Ja!«

      »Eine persönliche Frage noch …«

      Sie straffte den Gürtel des Hausmantels, dessen Stoff an der kleinen Wölbung ihres Bauches aufbauschte, und nickte ihm aufmunternd zu.

      »Warum willst du das Museum wirklich bauen?«, fragte er ernst. »Erkläre es mir.«

      »Was soll ich sagen?«, begann sie zögerlich. »Schau dich an.« Sie blickte ihm offen in die Augen. »Ein stattlicher Mann, du hast meiner Familie während der Wirtschaftskrise geholfen. Aber du bist von Geburt an privilegiert, vieles kam dir zugeflogen. Wohin du auch gehst, empfängt dich in den Augen der Menschen ein zumindest neutrales Willkommen, nicht wahr? Nur, du kennst diese abwertenden Blicke nicht.« Sie ging durch ihr Observatorium, die Ärmel ihres Hausmantels, eine Mischung aus Kimono und Kittel, wirbelten auf. »Ich bin lange mit dem Stigma herumgelaufen, anders zu sein als die Norm, als Sonderling … als Frau.« Sie griff nach dem Blatt einer Pflanze und befühlte dessen Innenseite. »Mein Handeln war eingeschränkt. Weißt du, wie viel Kraft es kostet, das zu fordern, was normal erscheint? Nicht nur Teilhabe oder Gleichheit, sondern vor allem …«, sie fahndete nach den richtigen Worten, »… die Fantasie von Glück? Ich habe ein Leben lang im Widerstand gelebt, Macht und Demütigung ertragen. Ich möchte mir und uns endlich die Räume der Fantasie zurückerobern. In ihr liegt doch für alle so etwas wie Glück, meinst du nicht?«

      Damion kniff die Augen zusammen und blickte auf das Mädchen. »Utopien haben ihren Preis.«

      »Wie hoch kann der wohl sein?«, fragte sie forsch. »Bei all den Krisen, all der Zerstörung. Die Welt ist allein mit ihren alten Ideen.«

      »Visionen sind wirkungslos«, urteilte er mit einer abschmetternden Handbewegung. »Sie schüren

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