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Kritiker vor?« Sie war erzürnt, ihre Wangen gerötet.

      Damion verzog keine Miene und fügte trocken hinzu: »In Mexiko ist das Recht, ein normaler Mensch zu sein, bereits eine Illusion. Es fehlt, es mangelt, überall, an allem. Wie zynisch, nicht zuerst an den Hunger zu denken!« Seine wasserblauen Augen leuchteten auf. »Wer braucht eine Idee, wenn er nichts zu essen hat?«

      »Eine andere, eine bessere Idee!«, drängte sie. »Welcher Mangel entsteht durch den Mangel an Fantasie? Was passiert, wenn Menschen, denen Ungerechtigkeit widerfährt, nie die Vorstellung eines anderen Lebens entwickeln können?«

      »Hilf ihnen direkt!«, forderte er.

      »Und wie?« Sie schweifte mit ihrem Blick durch das Grün. Ihre Pflanzen hatten sie gelehrt, was Fürsorge bedeutet. Sie betrachtete eine schwere, violette Blüte; atmete dann tief durch. »Diese Wesen hier haben alle ein Bewusstsein. Sie registrieren, was um sie herum passiert.«

      Er strich sich unruhig durchs Haar. »Was willst du mir sagen?«

      »Empathie entsteht durch Anerkennung von Bewusstsein.«

      »Ja, schon gut, wir müssten neben den Tieren auch die Pflanzen ernster nehmen.«

      Sie ging auf seinen ironischen Unterton keineswegs ein: »Genauer gesagt, sollten wir alles Leben ernster nehmen und uns an ein Potenzial erinnern, das allem Sein innewohnt.« Sie sah zu Zitlali hinüber, die nun im Schneidersitz auf dem Boden saß und nicht mehr länger die Karten studierte. »Die Fähigkeit zu staunen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Stimme wurde leiser, erlosch fast. »Leben wir einfach nicht mehr gegen diesen Planeten, sondern mit ihm.«

      Erneut betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster. Das ewige Aufbegehren hatte sie ausgezehrt, sie war müde, ihre Nerven ausgefasert, ihr linkes Augenlid fing an zu zucken. »Wir rotten aus. Und die westliche Hemisphäre nennt es Weltgeschichte. Diese absurde Idee von Fortschritt, die immer schon auf der Ausbeutung des anderen beruhte.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wann geben wir sie endlich auf? Die Überlegenheit.« Eine kurze Pause verstrich. »Und entwickeln eine Idee, die sich nicht gegen die Natur und andere Menschen richtet, sondern sie einbezieht. Dafür braucht es einen Ort, einen neuen Ereignishorizont, der sich vor den Augen aller auftut.«

      Er lachte spöttisch auf. »Wie soll das klappen? Im Dschungel? Mit einem Museum?« Ein Stakkato an Fragen. Wort um Wort spitzte er provokant zu.

      »Nenn es, wie du willst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube daran.«

      Er musterte sie lange und sagte dann völlig emotionslos: »Okay, ich stelle das Team zusammen.« Aus der Innenseite seines Sakkos zog er einen Brief hervor, den er in ihre leicht zitternde Handfläche legte. »Das ist für dich. Ich werde alles in die Wege leiten.«

      Sie faltete den Brief auf, fühlte das weiche Papier und begann zu lesen, erst abwartend, dann fassungslos, bis sie endlich den Brief fallen ließ und anschließend selbst zu Boden ging. In den Räumen ihres Observatoriums hatte eine Pflanze geweint. Und jetzt sie.

      »Warum weinst du?«, fragte Zitlali leise.

       37

      DAMION FARABOW stand auf einer Schotterstraße. Eine Zeitung klemmte unter seinem Arm. Er blickte auf die Kirchturmuhr eines Dorfes im Norden Mexikos, das unter der brütenden Mittagssonne zu schmachten schien. Sein alter Ford wurde auf eine Hebebühne gehievt. Rund um die Werkstatt lagen ganze Wracks und einzelne Autoteile verstreut. Ein Garten voller Schrott, dachte er und schnäuzte sich die Nase. Das herumliegende Metall warf das Sonnenlicht zurück, er kniff schützend die Augen zusammen. Seit jeher hatte Schrott ein Gefühl von Heimat in ihm ausgelöst. Als Kind hatte er nicht in der Natur, sondern zwischen Bahngleisen und einem Arm des Chicago River gespielt, der zu der dreckigen Brühe eines Industriekanals verkommen war. Seine Kindheit hatte mehr Gestank gekannt als Duft.

      Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk: kurz vor zwölf. Es ist noch früh, rief er sich in Erinnerung. Beinahe hätte ihm die Autopanne das Ziel seiner Reise vermasselt. Erst zeichnete er mit seinen Stiefeln Kreise ins Geröll, dann stapfte er die Auffahrt entlang zu einem Imbiss an der Straße. Er ging ins Dorf, drehte eine Runde, die ihn langweilte, schlenderte dann zurück zum Imbiss, bestellte etwas zu essen, setzte sich auf einen der herumstehenden Plastikeimer. Der Verkäufer knetete Maisteig und reichte ihm wenig später einen Pappteller. Ein in die Jahre gekommenes Väterchen mit tief in die Stirn gezogenem Sombrero wiegte sich in seinem Rohrstuhl im Schatten eines löchrigen Sonnenschirms. Damion faltete seinen Taco und träufelte Chilisoße in die Mulde. Er breitete die Zeitung über seinen Knien aus: Er sah das Bild einer Leiche und las die Schlagzeile: Frau auf offener Straße erschossen.

      »Was ist mit den Vermissten?«, fragte er kalt. Der Straßenverkäufer zuckte mit den Achseln. Damion wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Es heißt, einer von ihnen wurde am Straßenrand gefunden!«, hakte er nach. »Eingewickelt in eine blutige Decke!« Auf der Herdplatte qualmte Fett vor sich hin. Ein Köter beschnüffelte die Abfalltonne, der Verkäufer verjagte ihn mit einem grellen Pfiff. »Du stellst viele Fragen«, knurrte er dann. Das Väterchen im Rohrstuhl kommentierte das Geschehen mit einem Lächeln. Er hatte viele Zähne verloren. Die Lücken fuhr er mit der Zunge ab; es schien, als wolle er sich vergewissern, dass sie nicht mehr da waren: Diese Zähne, die genauso sicher verschwanden wie die Menschen hier. Damion sah, wie der Mechaniker seinen Ford von der Hebebühne fuhr. Er aß den letzten Bissen auf, warf den Teller in die Tonne und knüllte Geldscheine hervor.

      »Funktioniert wieder, Señor«, erklärte der Mechaniker und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Tuch ab. Die ersten Kilometer auf der Straße vergingen wie im Flug. Die Panamericana rollte unter ihm hinweg und verlor sich in der Ferne. Bullige Trucks zogen an ihm vorbei. Gelegentlich sah er eine Karawane von Menschen, die ihr Heil an der Grenze suchten. Ich habe alle Grenzen in mir verloren, dachte Damion. In der Kindheit hatte er noch ein Gefühl für sie, so etwas wie eine innere Karte. In Chicago wusste er, in welche Ecken er gehen konnte und welche Gegenden er meiden sollte. Als Kind hatte er alle, die er um ihr Wissen beneidete, mit Fragen gelöchert. So hatte er große Teile der Stadt und ihre Geschichten aufgesogen. Chicago, das war Getreide, Kaugummi für Amerikas Kinnbacken, Schlachten am Fließband in den Fleischfabriken, gigantische Wolkenkratzer als Zeichen immerwährenden Wandels. Als Junge hatte er den Jazz in den Bars geliebt, das jüdische Leben in der Southside, vor allem aber hatte er eine gewisse Art Gangstertum verehrt, das keine Haltung oder Verantwortung brauchte, solange es mit Dreistigkeit durchkam. Er hatte sich bald mit den Klugscheißern auf der Straße arrangiert, straffe Autodidakten wie sein Großvater, der zunächst professioneller Saxophonspieler und dann Rechtsanwalt geworden war; er kannte die Geometrie von Downtown und die unvernünftige Leere des Nordens, wo reiche Typen ihre Häuser in weiten Abständen zueinander bauten, um sich nicht in die Quere zu kommen; die alten Industriebaracken, in denen sein Vater sich abgeschuftet hatte, bis er schließlich Geschäftsmann geworden war und Dosenmilch verkaufte, später Autoteile. Beides war ihm misslungen. In Damions Augen blieb sein »Erzeuger« ein schwächlicher Versager. Der Wandel – er hatte ihn einfach geschluckt, für seinen Dad war er zu umfassend und zu rasch gekommen. Als Junge war ihm bewusst geworden, dass man besser daran tat, sich Veränderungen nicht in den Weg zu stellen.

      Eines Tages hatte er an der Winthrop Avenue gestanden und zu einem Gebäude hochgeschaut, auf dessen Dachkante eine junge Frau gesessen hatte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie sah traurig aus. Es war schwer zu ertragen, sie im wehenden Kleid auf dem Vorsprung des Dachs zu sehen, in dieser windigen Stadt. Er hatte zu ihr hinaufgerufen: »Spring endlich! Spring!« Auf eine gewisse Art hatte es ihn erleichtert, als sie dann tatsächlich sprang. Es ist vernünftig, hatte er damals gedacht und seinen Eltern von dem Vorfall beim Abendbrot erzählt. Die Mutter hatte seine Hand ergriffen, war jedoch unfähig gewesen, ihrer Empfindung Worte zu verleihen. Sie hatte damals schon harte Gesichtszüge angenommen, musste aber wenigstens ein paar Jahre ihres Lebens schön gewesen sein. Er hatte dann von seinem Glas Milch getrunken und seinen Dad gefragt: »Warum springst du nicht auch?« An diesem Abend war zuerst er, dann seine Mutter verprügelt worden. Es wäre vieles einfacher gewesen, wäre sein Vater früher gesprungen,

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