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Stiftung. Finanziert von Fernandas Holding.«

      Viktor griff nach der Ausschreibung, las sie Zeile um Zeile mit lauter Stimme vor, die mit jeder weiteren Information kraftvoller, ja regelrecht lebendig klang. Schließlich blickte er zu Anton empor: »Unsere Chance, nicht wahr?«

      Anton hielt die Arme noch immer vor seiner Brust verschränkt. »Was genau? Ein Museum im Dschungel? Ein Ort, der auf keiner Karte verzeichnet ist? Die Ausschreibung einer Bergbautycoon-Erbin, die sich irgendwann vor lauter Langweile dazu entschlossen hat, Kunst zu sammeln und nun auch noch einen auf grüne Weltverbesserin macht?«

      »Wann läuft die Einreichung ab?«

      »In zwei Wochen.«

      »In zwei Wochen?«

      »Dann müssten wir unsere Ergebnisse präsentieren«, erklärte Anton. »Vier oder sechs Leute. Fernanda Raíz kommt persönlich vorbei.«

      »Gut«, sagte Viktor.

      Anton stöhnte auf. »Schau dich mal um! Was siehst du?« Er ließ seine Hand mit der Brille durch den Raum wandern, ehe er nachsetzte: »Eine Streichholzschachtel. Unser Büro ist ein Witz! Ein schlechter Witz ohne Pointe! Wir sollen hier, genau hier, ein Gremium internationaler Investoren empfangen? Du bist einfach bekloppt!«

      Viktor atmete durch. Es stimmte, sie probten noch immer Professionalität, er und sein Partner: Zwei Schreibtische und ein Zeichentisch, das Labor mit den Lehmsteinen, die Küche mit der Herdplatte, die nicht mehr heizte und neben dieser ein Kühlschrank, der nicht mehr kühlte, dazu ein Berg leerer Flaschen, die davon zeugten, dass er den Kaffee gerne auch mal mit einem Schuss Whisky verdünnte.

      »Das hier ist eine Nummer zu groß für uns«, sagte Anton.

      »Museen sind die Kathedralen unserer Zeit.«

      »Und?«

      »Dafür sind wir Architekten geworden.«

      »Du bist ein Architekt ohne Bauwerke!« Anton machte wütend kehrt, drehte sich nach kaum zwei Schritten erneut zu Viktor um und brüllte ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger an: »Du verblüffst nur, du erschaffst nichts, rein gar nichts!« Seine Nasenflügel bebten. »Das Leben spielt sich nicht auf Zeichenpapier ab. Was du bis heute allerdings nicht begriffen hast. Aber genau deswegen hat dich auch Rebekka verlassen!« Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte und verließ mit hochrotem Kopf den Raum. Viktor griff nach einem Stift, hielt ihn lange aufrecht vor sich. Die Erinnerung an Rebekka tat noch immer weh. Er atmete auf und versuchte gedanklich abzutauchen. Vor seinem inneren Auge fokussierte er tropische Landschaften. »Ein Museum im Dschungel«, murmelte er.

      Der Strich auf dem Papier kam zunächst zitternd, seine Hand aber wurde jetzt ruhiger und ein Umriss erkennbar. Ein Umriss, der nichts erkennen ließ. Brillant, dachte Viktor, brillantes Mittelmaß. Er sah das Gebäude nicht vor sich, er sah es verschwinden. Er sah den Grundriss als Grube, als gähnende Leere in sich selbst, und spürte, wie ihm das Wunder der großen Idee entglitt. Eine Idee, wie so viele in seinem Leben, die als Luftschlösser zerplatzten. Er sollte endlich Villen sanieren, wie es Anton vorgeschlagen hatte, gerade eben erst, er sollte endlich seine naiven Ansichten zur Ausnüchterung in die für Realismus zuständige Region seiner Hirnzellen stecken und besser spät als nie akzeptieren, dass das Leben leichter wird, wenn man seine Ideale über Bord wirft und sich einfach einreiht. Man kommt weiter, wenn man sich einreiht, und wenn man das nicht tut, bleibt man eben auf der Strecke. Existenzen enden nicht mit einem Knall. Sie zerfallen leise.

       33

      BENEDETTO RISSONO fühlte sich beflügelt. Auf Zehenspitzen tänzelte er in seinen Lackschuhen die Stufen der Züricher Oper hinab, über den Teppich, hinaus in den Abend. Seine Lungen füllten sich mit kühler Frühlingsluft. Er blickte auf den Zürichberg, der von Nebelschwaden umhüllt dalag. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf dem Wasser des Sees, der ruhig vor ihm schimmerte.

      Er atmete tief ein. Herrlich, die Oper, dachte er sich. Eigentlich sollte er von Haus aus mit ihr fremdeln. Sein Vater hatte beim AC Florenz Fußball gespielt und sich später als Amateurboxer die Wut aus dem Körper geschlagen. Er war in seiner Gegend berühmt gewesen für seine Pugno di Pietra, legendäre Fäuste aus Stein, die jede Deckung durchbrachen und später bei der Erziehung seines Sohnes eine Art Ansporn für notwendige Leistungen bilden sollten. Der sportliche Italiener glaubte unwiderruflich, ein jeder halte sein Glück in den eigenen Händen. Man musste sie nur geschickt nutzen, um jeglichen Gegner auszuschalten. Und der junge Benedetto musste erst in die Fußstapfen seines Vaters treten, bevor er den Lauf seines Lebens schließlich den väterlichen Händen entreißen konnte.

      Sicher, der Alte hätte sich über den Abend lustig gemacht, über diese »verweiblichten Gecken und pudrigen Gören«, die »verzärtelte« Inszenierung; er hätte lauthals losgelacht über das »schwule« Kostüm des Belcantos, der heute nicht nur traumhaft leicht an der Rampe seine Partien gesungen, sondern der Figur zudem einen extrem starken Charakter verliehen hatte. Seine Koloraturen waren perlend klar aus seiner Kehle geflossen. Benedetto schwelgte noch im Rausch der Schönheit dieser Arien, die im starken Kontrast zu den Songs standen, die während seiner Jugend zuhause in den Stadien gesungen worden waren, auf den Bolzplätzen und in den heruntergekommenen Umkleidekabinen. Früher war er mit der Jugendmannschaft des AC Florenz durch die Provinzen gezogen, hatte große Siege eingefahren. Die jungen Spieler, auf äußersten Zusammenhalt getrimmt, hatten im Rausch ihres Erfolgs gejubelt und die Macht ihrer kraftvollen Körper gespürt und waren unter den Duschen doch verspielt gewesen wie kleine Kinder. Der Taumel des Sieges, das dampfende Wasser, der Alkohol und die von gegrölten Liedern begleiteten Rangeleien hatten nicht selten die Grenze zwischen kumpelhafter Berührung und erotischer Lust eingerissen. Gerne wurde nach einem solch fantastischen Sieg einem Spieler das Shampoo aus der Hand geschnappt, ihm über dem Kopf entleert, der dann von vielen Händen kräftig eingeseift wurde, während zwei, drei andere Jungs ihr sich windendes Opfer umklammert hielten und der Übermut im Spiel für eine allgemeine Enthemmung sorgte, bei der unter lautem Gelächter il culo più bello, der schönste Hintern, gefüllt wurde: Sei es mit dem Schlauch für Kaltwasser, leeren Shampoodosen oder auch mal mit einem der prächtigsten Glieder dieser jungen Männer. Niemand aber hätte es je gewagt, ihn, Benedetto, den Träger der Kapitänsbinde, anzurühren, das Metronom des Mittelfelds, das so lange Tempo aus dem Spiel zu nehmen gewusst hatte, bis es seiner Zeitrechnung folgte. Der violette Stolz des Vereins. Seine Bestimmung hätte darin gelegen, den Traum seines Vaters zu erfüllen und Profi zu werden und damit auch die unerträgliche Armut hinter sich zu lassen, die sich wie eine Erbkrankheit durch die Familie zog. Sie war von den Großvätern auf die Väter und Söhne übergegangen wie die schwarzen Locken und hohen Schläfen oder auch die Hochzeitsanzüge, von denen er heute Abend jenes Exemplar trug, in dem sein Vater seiner Mutter das Jawort gegeben hatte. Benedetto schüttelte das Weiß seines Hemdes aus den zu kurzen Ärmeln, die Hose spannte an seinen muskulösen Beinen.

      Der erste Pulk an Gästen strömte nun an ihm vorbei: sein Zeichen. Er ging zurück ins Foyer, wartete vor der Garderobe und behielt die Treppe scharf im Auge. Im Kopf hatte er sich Anekdoten zurechtgelegt. Das Aufstiegsmärchen über Enrico Caruso vielleicht, das zog immer, etwas recht Menschliches, dachte er, das friedlich den Abend besiegeln konnte.

      Seine Begleitung stieg langsam die Stufen hinunter. Die Dame war hochgewachsen und hatte eine breite, fast flache Brust, weißes Haar und eine nahezu wölbungsfreie Stirn. Sie sah elegant aus in ihrem perfekt sitzenden blauen Kleid, mit dem dezenten Lippenstift und den zartbeigen Schuhen aus Saffianleder. Ein sicher sehr kostbares Perlencollier rundete den Eindruck ab, trotz ihrer knochigen Schultern. Er reichte ihr den Arm, sie hakte sich wortlos ein. Gemeinsam schritten sie zur Garderobe.

      »Wie schön die Oper war«, sagte er und half ihr in den Nerz.

      »Wissen Sie«, sprach sie betont vornehm, »wer die Oper nicht mag, ist nicht kultiviert.«

      Er nickte gewissenhaft, sehr ernst. »Prima la musica«, antwortete er und hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Die Scheinwerfer der Limousine blendeten auf, als der wartende

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