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im Sinn hatte«. Und wenn er zum Freistoß ansetzte, dann musste man als Gegner dringend auf seine kleine Zeremonie vor der Ausführung achten. Wenn er sich fast pedantisch genau den Ball zurechtlegte und beim Zurückgehen für den Anlauf mit beiden Händen zweimal ganz schnell die halblangen Haare an den Schläfen zurückstreifte, dann herrschte höchste Gefahrenstufe. Kein Wunder, dass die Bayern ihn unbedingt haben wollten und 1973 tatsächlich auch verpflichten konnten. Die ersten zwölf Begegnungen gehörte Gersdorff dann auch folgerichtig zur Stammformation der Münchner. Aber so richtig warm wurde er im Süden nicht und wechselte noch während der Saison wieder zurück nach Braunschweig, wo er dann noch sagenhafte 35 Tore während des verbleibenden Rests der Serie in der Regionalliga Nord erzielte und so der Eintracht zum Wiederaufstieg in die Bundesliga verhalf. Diese Braunschweiger Phase habe ich noch ausschließlich am Fernseher verfolgt. In den frühen achtziger Jahren war ich dagegen oft als Radioreporter in Braunschweig im Einsatz und habe miterlebt, welch Riesenbegeisterung dort herrschte.

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      Braunschweig feiert: Die Eintracht wird überraschend Deutscher Meister 1967!

      Ein schlafender Riese

      Für die Region, jahrzehntelang nah an der innerdeutschen Grenze gelegen, hatte der Fußball eine immense Bedeutung. Es ist schon bedauerlich, dass dieser Traditionsverein zwischenzeitlich in der Versenkung verschwunden ist, denn Braunschweig ist vom Begeisterungspotenzial ein schlafender Riese im deutschen Fußball. Und ich bin gespannt, wie die Entwicklung dort in den nächsten Jahren weitergehen wird.

      In der Saison 1984/85 stiegen die Braunschweiger »Löwen« zum letzten Mal aus der Bundesliga in die 2. Liga ab, zwei Jahre später dann sogar in die Regionalliga. Eintracht Braunschweig wurde eine Fahrstuhlmannschaft, pendelte zwischen der zweiten und der dritten Liga. Es wurde vieles versucht, oft tatsächlich mit Herz und Verstand, aber der ganz große Wurf ist bis heute nicht wieder gelungen. 2010/11 holte die Eintracht immerhin erstmals wieder seit 1967 einen Meistertitel, wenn auch »nur« den in der 3. Liga. Die Braunschweiger Fans aber haben nie aufgehört, vom ganz großen Erfolg zu träumen. Zu hören ist das bei jedem Heimspiel des Kultvereins SV Eintracht Braunschweig. Dann nämlich, wenn die Fans das Vereinslied anstimmen und in der zweiten Strophe singen: »Blau-Gelb macht heute alles klar, wie es schon 67 war«.

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      Meister als Absteiger, Aufsteiger als Meister

      1. FC Nürnberg 1969, 1. FC Kaiserslautern 1998 – zwei Unikate

      Die Meisterschaft von Eintracht Braunschweig in der Saison 1966/67 war zweifelsohne eine Überraschung. Aber es war gar nichts im Vergleich zu dem, was zwei anderen Traditionsklubs in der Bundesliga widerfahren ist. Zwei Klubs, die zu den Gründungsmitgliedern der Bundesliga gehörten, in deren Reihen einst Weltmeister von 1954 spielten und Legenden wie Fritz Walter oder Max Morlock geboren wurden. Die »Roten Teufel« vom Betzenberg und die »Clubberer« aus Nürnberg, der deutsche Rekordmeister, bis die Bayern sie 1987 ablösten. Diese beiden Vereine haben wirklich Bundesligageschichte geschrieben. Jeweils eine Geschichte, die nur der Fußball schreiben kann. Im Frankenland waren sie zu Tode betrübt, in der Pfalz himmelhoch jauchzend. Man kann sich kaum vorstellen, was Spieler und Fans durchmachten. Und die Trainer – denn in beiden Fällen hatten die ihren entscheidenden Anteil an diesen verrückten Geschichten.

      Meister mit Max Merkel

      Im Januar 1967 verpflichtete der abstiegsbedrohte 1. FC Nürnberg für den glücklosen Ungarn Jenö Vincze den Österreicher Max Merkel. Ein echter Startrainer. Der Österreicher war 1961 mit Borussia Dortmund ins Finale um die Deutsche Meisterschaft eingezogen, verlor allerdings mit dem BVB ausgerechnet mit 0:3 gegen Nürnberg. 1964 wurde er dann mit den Münchner »Löwen« DFB-Pokalsieger und 1966 sogar Deutscher Meister. Mit dem – vorsichtig ausgedrückt – sehr extrovertierten Merkel schafften die Franken nicht nur den Klassenerhalt in der Spielzeit 1966/67, der »Club« startete in der darauf folgenden Saison richtig durch. Legendär bis heute ist der 7:3-Erfolg in der Hinrunde gegen die Bayern mit Beckenbauer, Maier und Müller, bei dem Franz Brungs den kommenden Nationaltorhüter Sepp Maier gleich fünfmal bezwang.

      Merkel war auf dem Weg, das nächste Ausrufezeichen zu setzen. Auf die Frage, ob dem 1. FC Nürnberg der Titel noch zu nehmen sei, sagte Kölns damaliger Trainer Willi Multhaupt nach dem Sieg der Franken gegen die Bayern: »Da müsste schon ein Affe aus dem Nest fallen.« Doch es war kein Affe und auch kein Nest weit und breit in Sicht. Und so gewann am 18. Mai 1967 der damalige Rekordmeister nach einem 2:0 gegen den FC Bayern am 33. Spieltag vorzeitig den Titel und holte damit die neunte Deutsche Meisterschaft an die Noris.

      Eine Riesentruppe war das! Nicht nur in Nürnberg, sondern in ganz Deutschland wurden die Spieler verehrt. »Luggi« Müller, Kapitän Heinz Strehl, Karl-Heinz Ferschl, »Schorsch« Volkert, Franz Brungs und »Gustl« Starek waren sozusagen die Schweinsteigers und Ballacks von damals. »Luggi« Müller, den ich Jahre später persönlich kennen und sehr schätzen gelernt habe, war nicht nur ein beinharter Verteidiger, sondern auch ein Vollblutprofi, einer, der in jedem Spiel hundert Prozent gegeben hat und nie die Zügel hat schleifen lassen. Keine Frage, dass gerade einer wie er es bis heute nicht begreifen kann, was mit ihm und seinen »Clubberern« damals passiert ist. Ehrlich gesagt, konnte und kann es bis heute wohl kaum einer erklären. Selbst wenn es durchaus nachvollziehbare Gründe für den Absturz des Meisters ins Bodenlose gab.

      Sinfonieorchester statt Bauernkapelle?

      Nach dem Triumph im Frühsommer 1968 zählte der 1. FC Nürnberg natürlich auch vor der nächsten Saison zu den Titelfavoriten. Doch es kam ganz anders. Max Merkel, bislang schon nicht gerade durch vornehme Zurückhaltung aufgefallen, schien nach dem Titelgewinn vollkommen die Bodenhaftung verloren zu haben. Er ließ einige Leistungsträger der Meistersaison wie Ferschl, Starek und Brungs ziehen. Vor allem der Transfer von Torjäger Brungs zu Hertha BSC sorgte für reichlich Wirbel an der Noris, zumal die Ablösesumme von rund 200.000 Mark nicht gerade üppig war für Nürnbergs besten Torschützen. Der Trainer wischte die Bedenken lässig vom Tisch und holte stattdessen 13 neue Spieler. Es waren ganz bestimmt keine schlechten, die der Meistertrainer nach Franken lotste – Jürgen Rynio und Klaus Zaczyk waren unter anderem dabei –, dazu kamen einige Talente aus dem eigenen Stall. Aber das System der Meistermannschaft war damit gesprengt.

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      Merkel hatte vor der Saison getönt, er mache aus der »Bauernkapelle« ein »Sinfonieorchester«. Doch dem Maestro schien der Dirigentenstab abhanden gekommen zu sein. Schon bald geriet das Orchester aus dem Takt, Misstöne und Disharmonien im Nürnberger Ensemble waren die Folge. Um die Schmach wenigstens einigermaßen zu verarbeiten, hat Nürnbergs Spieler Ferdinand Wenauer später sogar ein Buch geschrieben über den einmaligen Absturz des Meisters. »Das Gravierendste war die Demontierung der Meisterelf«, heißt es bei Wenauer schwarz auf weiß. Überaus deutlich wird in seinem Buch, dass die Talfahrt des 1. FC Nürnberg genauso ein »Verdienst« Merkels war wie der Triumph im Vorjahr. Max Merkels Schwäche, analysierte Wenauer, war, dass er Fehler partout nicht eingestehen konnte. Merkel, der übrigens auch schon mit der Meistermannschaft von 1860 München in den Tabellenkeller abgestürzt war, ging bei der leisesten Kritik an die Decke und immer mehr auf Distanz zu seinen Schützlingen. »Die Spieler werden heutzutage gehätschelt, getätschelt und verwöhnt. Die Schuhe kriegen s’ gestellt, den Pausentee gekocht, und Strumpfhosen dürfen s’ tragen, damit sie bei der Kälte nicht frieren. Es fehlt nur noch, dass ich ihnen eigenhändig Vaseline auf den Hintern streichen muss, bevor sie ins Stadion einlaufen«, so Merkel, den sie während seiner Zeit in Spanien bezeichnenderweise »Señor Latigo«, den Peitschenknaller, genannt hatten.

      Der Coach war bissig, zynisch – und er war während der Hinrunde noch nicht einmal mehr regelmäßig auf dem Trainingsplatz am Valznerweiher. Heutzutage nicht mehr denkbar, aber Merkel hatte

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