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auch einen Großteil der deutschen Nationalspieler für die WM-Endrunde im Sommer 1966 in England abgestellt. Von der Eintracht aus Braunschweig war kein Einziger dabei. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« schrieb vor Saisonbeginn sogar: »Die Gefahr, dass die Hanse der Bundesliga-Städte als nächsten Fremdkörper die biederen Braunschweiger abstößt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Ihr Ausscheiden käme einer folgerichtigen Begradigung der geographischen und wirtschaftlichen Bundesliga-Grenzen gleich.« Doch die Mannschaft der Namenlosen aus Braunschweig schlug allen ein Schnippchen.

      Braunschweiger Minimalisten

      Der Sommer 1967 war eine Zeit, in der das Wirtschaftswunder der fünfziger und frühen sechziger Jahre stagnierte, die Konjunktur schwächelte. Viele Braunschweiger arbeiteten in den VW-Werken im nahen Wolfsburg. Dort war Kurzarbeit angesagt, andere waren bereits arbeitslos geworden. Der Fußball lenkte ab von den alltäglichen Sorgen und Nöten, eine ganze Stadt identifizierte sich mit den Fußball-Malochern von der Eintracht. Die spielten zwar in Blau-Gelb wie die brasilianische Nationalmannschaft, aber sie waren alles andere als Ballzauberer. Es waren die »Löwen« aus Braunschweig. Und die machten ihrem Namen alle Ehre und kämpften vom 1. bis zum 34. Spieltag auch wie die Löwen. Am Ende stellte Abteilungsleiter Heinz Grashoff stolz fest: »Man kann sagen, dass die Mannschaft sich nicht nur kämpferisch, sondern auch spielerisch so weit vervollkommnet hat, dass wir ein würdiger Meister sind.«

      Die Minimalisten von der Eintracht gewannen nicht selten mit 1:0 und kassierten in der gesamten Saison lediglich 27 Gegentreffer. Ein Rekord, den erst Werder Bremen gut 20 Jahre später knacken sollte. Vor allem in den Heimspielen verstand das Team von Trainer Helmuth Johannsen keinen Spaß und ließ lediglich acht Treffer zu. Bis zum 28. Spieltag, dem triumphalen 5:2-Sieg gegen die großen Bayern mit Beckenbauer, Maier, Müller und Co., waren es nur deren drei. Und deswegen war immer wieder von der »Betonabwehr« der Braunschweiger zu lesen. Tatsächlich war die Defensive um Kapitän Joachim Bäse das Herzstück der Mannschaft. Die Stürmer Lothar Ulsaß, Klaus Gerwien, Gerd Saborowski sowie Flügelflitzer Erich Maas wirbelten die gegnerischen Abwehrreihen zwar gehörig durcheinander, ihre Trefferquote ließ allerdings zu wünschen übrig. Nur 49-mal trafen die Braunschweiger in des Gegners Tor, kein Meister in der Geschichte der Bundesliga hat jemals wieder so wenige Treffer zustande gebracht. Und kein Titelträger hat je so wenige Punkte eingefahren wie Braunschweig. 43:25 lautete die Bilanz nach 34 Spieltagen bei der Zwei-Punkte-Regel.

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      Vater des Erfolges war zweifelsohne Trainer Helmuth Johannsen. Ich hatte die Ehre, ihn ein bisschen besser kennenzulernen, war er doch der Vater meines jahrzehntelangen Kollegen Walter Johannsen, mit dem ich während meiner Zeit beim Südwestfunk und später dann beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg zusammengearbeitet habe. Helmuth Johannsen war ein Gentleman alter Schule und ein Fußballfachmann und -anhänger durch und durch. Für ihn stand die langfristige Arbeit im Vordergrund, was schon damals nicht wirklich zu den Mechanismen des Marktes gehörte. »In Braunschweig hat man mir und der Mannschaft noch Zeit gelassen. Man konnte langfristig planen und arbeiten. Man sieht heute immer nur das Resultat – und man vergisst dabei den beschwerlichen Weg vorher«, sagte Johannsen später einmal.

      Für ihn stand das Mannschaftsgefüge an erster Stelle, von Personenkult hielt er rein gar nichts. Und der Medienrummel, ein Witz im Vergleich zu heute, war ihm schon damals zuwider. Johannsen, der später unter anderem noch Hannover 96 und den VfL Bochum in der Bundesliga trainierte, war ein Taktikfuchs. Kontinuität, Disziplin und Loyalität zeichneten ihn aus.

      Aber vor allem war er auch das, was man gemeinhin einen »harten Hund« nennt. Günter Netzer hat mir einmal erzählt, dass er nie in seiner Karriere so hart trainiert hat wie in seinem letzten Jahr als aktiver Fußballer. Das war unter dem Trainer Johannsen während ihrer gemeinsamen Zeit bei Grasshoppers Zürich. Bisweilen war Johannsen über die Maßen streng. So durfte Eintracht-Spieler Wolfgang Grzyb 1967 auf Anweisung des Trainers nicht mit auf das offizielle Foto der Meistermannschaft, weil er nur 15 Partien in der Liga bestritten hatte. Helmuth Johannsen konnte knallhart sein! Anderseits war er – was allein die vielen Menschen bei seiner Beerdigung im November 1998 dokumentierten, nachdem er im Alter von 78 Jahren verstorben war – ein herzensguter Mensch, der für Gemeinschaft und Teamgeist stand.

      Meisterfeier im Garten

      Und so war es für den Trainer eine Selbstverständlichkeit, dass er am Tag nach dem Titelgewinn seine Meister-Mannschaft zur Gartenparty zu sich nach Hause einlud. Es gab Bier aus Flaschen und Schnittchen, und das passte zum bescheidenen Auftreten des Überraschungsmeisters. Treffen beim Trainer im Garten – und nicht etwa in irgendeinem Nobelhotel. Denn der sensationelle Titelgewinn der Niedersachsen war in erster Linie der Erfolg einer eingeschworenen Gemeinschaft. »Es ist das Ergebnis einer zielsicheren und langen Arbeit. Wir haben die Mannschaft aufgebaut, nicht mit großen Stars, sondern mit Kräften, die überwiegend aus unserer Jugend hervorgegangen sind«, sagte Braunschweigs Fußballchef Heinz Grashoff in der Stunde des größten Triumphes.

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      Der Vater des Braunschweiger Erfolgs: Trainer Helmuth Johannsen, den ich als »Gentleman alter Schule« kennenlernte.

      Die Spieler identifizierten sich mit dem Braunschweiger Turn- und Sportverein Eintracht von 1895. Das Motto »Elf Freunde müsst ihr sein« hatte für sie noch eine wirkliche Bedeutung. »Unser Erfolgsrezept heißt Treue und Freundschaft«, bestätigte dann auch Meistertrainer Johannsen. Der langjährige Stammtorwart Hans Jäcker, im Meisterschaftsjahr nur die Nummer zwei hinter Horst Wolter, erklärte: »Wir haben damals unseren Verein nicht als Kuh verstanden, die man melkt, bis sie zugrunde geht.« Auf der Rückfahrt von den Auswärtsspielen griff Jäcker im Zug des Öfteren zur Gitarre, der Rest der Mannschaft sang aus vollen Kehlen dazu. Bisweilen, so erinnerte sich Jäcker amüsiert, hielt man die Braunschweiger Fußballer für einen Männergesangsverein. Zumal es zum Singen Gelegenheiten genug gab.

      Bereits am vorletzten Spieltag der Saison konnten die Eintracht-Spieler die Jubelgesänge anstimmen, denn mit dem 0:0-Unentschieden am 33. Spieltag bei Rot-Weiss Essen hatten die Blau-Gelben ihr Meisterstück perfekt gemacht. Ein BTSV-Anhänger hatte sich das Erfolgserlebnis an der Essener Hafenstraße mehr als verdient, denn er war mehr gelaufen als die gesamte Mannschaft: Viktor Siuda hatte die 328 Kilometer von Braunschweig ins Ruhrgebiet per pedes zurückgelegt und war zum Glück auch noch gerade rechtzeitig zum Anpfiff angekommen.

      Am Ende fix und fertig

      Beim 4:1-Heimsieg am letzten Spieltag gegen Nürnberg, ganz nebenbei eine Revanche für die 0:4-Niederlage im Hinspiel, traf Lothar Ulsaß zweimal, die beiden anderen Treffer steuerten Gerd Saborowski und Jürgen Moll bei. Die Spieler der Eintracht waren überglücklich, aber sie waren auch fix und fertig, denn die lange Saison hatte enorm viel Kraft gekostet. Schließlich wurde damals lediglich viermal in der Woche trainiert, mehr war auf Dauer nebenberuflich einfach nicht drin. »Wir haben nicht so fokussiert arbeiten können, wie es unter Lizenzspielerbedingungen als sogenannter Profi eigentlich sein sollte«, stellte Trainer Johannsen deshalb auch fest. Von Trainingslagern unter der Woche hielt er gar nichts. »Von Montag bis Freitag lernt keiner Fußball. Er wird höchstens ein guter Skatspieler«, meinte der Coach. Es versteht sich fast von selbst, dass so ziemlich alle Braunschweiger Spieler ein einheitliches Gehalt erhielten – angeblich 1.200 Mark, was als Zweitgehalt einen gewissen Wohlstand zu der Zeit durchaus möglich machte. Lediglich Lothar Ulsaß, der Einzige, den man als Star bezeichnen konnte, kassierte 2.500 Mark. Dass sämtliche Spieler neben ihrem Job als Fußballer auch noch zusätzlich »ordentlichen Berufen« nachgingen, war Mitte der sechziger Jahre eher die Regel als die Ausnahme.

      Erstklassigen Fußball gab es in Braunschweig bis 1985 zu sehen, wenn auch nicht durchgängig. Paul Breitner hat dort gespielt, natürlich die bereits erwähnten Wolter und Ulsaß. Oder Peter Kaack, Uwe Reinders, Max Lorenz und Dieter Zembski, der Mann mit der Gitarre, der heute noch bei so manchem Promiauftritt einen wunderbaren Ball spielt und – was viel entscheidender ist – noch besser

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