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Ted.« Beim Weggehen klopfte Jo ihm leicht auf die Schulter. An der Garderobe, schon im Mantel, drehte er sich noch einmal um. Es gelang ihm, zu lächeln, und er hob die Hand. »Servus.«

      Im Norden der Mittelmeerinsel Zypern verläuft ein schmaler Gebirgszug parallel zur Küste. Sein Ausmaß ist ungefähr 259 Quadratkilometer, und er besteht hauptsächlich aus Kalkstein, Dolomit und Marmor. Die durchschnittliche Höhe dieser Bergkette beträgt über 600 Meter. Der höchste Gipfel ist der »Berg der Zypressen« mit 1085 Meter, südwestlich der kleinen Hafenstadt Kyrenia.

      Karg ist das Leben der Menschen an den Südhängen der Kyrenia-Berge. Rauh und steinig ist die Landschaft. Nur sehr anspruchslose Schaf- und Ziegenrassen finden hier ihr spärliches Futter. Die Menschen sind genügsam wie diese Tiere. Die kleinen Herden und sorgfältig gehütete Olivenbäume bilden ihren ganzen Besitz. Aghirda nennen sie das kleine Dorf an dem steilen Berghang. Aghirda, das klingt wie ein Akkord einer Orgel. Es bedeutet »die Strahlende« oder »die Glänzende«. Tatsächlich schimmert das Dörfchen grellweiß inmitten der braungrauen, trostlosen Umgebung, wenn das helle Licht der Mittagssonne von den weißen Steinhütten reflektiert wird. Stolz gemahnt ein Minarett an die Allmacht Gottes. Die heulende Stimme des Muezzin ist bis weit in das schweigende Tal zu hören, Allah il Allah, Gott ist groß und allmächtig.

      Es sind Türken, die hier wohnen, seit Generationen, seit Jahrhunderten. Sie wissen nicht, wann ihre Vorfahren hierherkamen, auch nicht warum. Es gibt keine Schule in dem Dorf, die Kinder lernen von den Eltern. Sie lernen nicht lesen oder schreiben, wozu auch. Sie lernen, wie man die Ziegen und Schafe weidet, die Olivenbäume bewässert und die Oliven erntet, wie man aus Milch Käse bereitet, wie man Getreidekörner in Handmühlen zermahlt und dann Brotfladen daraus backt. Und sie lernen, nach den Geboten Allahs zu leben. Die Männer tragen Gewehre vom sechzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr, denn der Feind ist nahe. Als vor Jahren türkische Familien aus der Hauptstadt kamen, blutig und mit wilden Gesichtern und ihre Toten mit sich tragend, da weinten sie gemeinsam. Sie begruben ihre Toten, und dann waren plötzlich moderne Gewehre da und Munition und fremde Männer, Brüder von »drüben«, vom Mutterland, das sie nur aus Erzählungen kannten. Die Männer von Aghirda lernten, mit den Gewehren umzugehen. Und dann kamen die fremden Soldaten mit den blauen Mützen, und der Mukhtar verkündete, es wären Freunde, und die Not habe ein Ende.

      Das war vor vielen Jahren. Die Soldaten mit den blauen Mützen bezogen Stellungen in den Bergen, und manchmal kam eine Patrouille ins Dorf. Die Kinder freuten sich, denn sie bekamen fremdartige Süßigkeiten, und der Mukhtar sprach mit den Soldaten. Es hieß, die Griechen würden nicht kommen, die fremden Soldaten würden das Dorf schützen. Aber die Flüchtlinge aus der Hauptstadt waren unzufrieden. Eines Tages würden sie zurück in ihre Häuser gehen, sie wieder aufbauen und dort leben wie ihre Vorfahren. Und das Blut ihrer Toten schrie nach Rache. Griechisches Blut mußte fließen, das war das Gebot Allahs. Doch das konnten die fremden Soldaten nicht verstehen.

      Niemand wußte, wie alt der Hirte Ibrahim Mechmed war, auch er selbst wußte es nicht. Solange sich die Leute von Aghirda zu erinnern vermochten, weidete Ibrahim Mechmed seine Herde weit nördlich des Dorfes, knapp unterhalb des Gebirgskammes, wo die Hänge am steilsten waren, aber das Futter am besten. Die meisten Hirten mieden diese Gegend, die Tiere verliefen sich sehr leicht oder stürzten in die Felsspalten, und der Verlust eines Tieres ist schmerzlich. Nur Ibrahim Mechmed konnte dort seine Herde weiden, denn ihm gehorchten die Tiere auf eine wundersame Weise, und niemand konnte sich daran erinnern, daß er je ein Tier verloren hätte.

      Als die Flüchtlinge kamen, war auch der Sohn seines Bruders mit seiner Familie dabei, und Ibrahim Mechmed räumte seine Hütte, um für seine Verwandten Platz zu machen. Er lebte ja lange schon allein, seine Frau war tot und seine Kinder erwachsen und aus dem Dorf fortgezogen. Ein alter Mann wie Ibrahim Mechmed brauchte keine Hütte, er lebte mit seiner Herde. Drei Tage und drei Nächte blutete der Sohn seines Bruders in Ibrahims Haus aus vielen kleinen Wunden nach einem Schuß aus einem Schrotgewehr. Ibrahim wachte neben ihm. Als der Sohn seines Bruders schließlich starb, wußte der alte Ibrahim, daß der Grieche Costas Costakis den Schuß abgefeuert hatte. Costas Costakis war der Nachbar der Mechmeds in Nicosia gewesen, und die Costakis hatten immer schon versucht, das Haus und die Felder der Ibrahims zu kaufen. Nun war eine Schrotpatrone der Preis gewesen. Der alte Ibrahim Mechmed wußte jetzt, daß er noch so lange leben mußte, bis die Blutrache an Costas Costakis, den er nie zuvor gesehen hatte, vollzogen war. Er rief den damals zwölfjährigen Ali, den einzigen Sohn des Toten, in seine Hütte und hieß ihn die rechte Hand auf die zerfetzte Brust des Leichnams zu legen. Der Bub gehorchte und weinte. Der Zwölfjährige wußte, daß er, wenn er erwachsen sein würde, nicht heiraten durfte, bevor der Nachbar seines Vaters getötet war. Und er selbst mußte es tun, denn Onkel Ibrahim war zu alt. Es war der Wille Allahs.

      Seit also der Sohn seines Bruders in seinen Armen verblutet war, lebte der alte Ibrahim in den Bergen mit seinen Tieren. Er trug noch die Wraka, das Gewand seiner Ahnen, das ihn im Sommer vor Hitze und im Winter vor Regen und Kälte schützte. Er spürte das Alter in seinen Knochen. Er wartete. Darauf, daß der Sohn seines Bruders Sohnes kräftig und mutig genug sein werde, einen Dolch in die Brust eines Mannes zu stoßen. Und darauf, daß er dann in Frieden sterben könne, daß ihn Allah zu sich rufen werde.

      Schon seit vielen Jahren waren sein Haupt- und Barthaar schlohweiß. Seine Haut glich gegerbtem Ziegenleder, war runzelig und faltig. Der alte Ibrahim Mechmed sah so aus, wie er schon vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte oder vor noch längerer Zeit. Nur seine hellblauen Augen könnten noch heller geworden sein in diesen letzten Jahren seines Lebens.

      Schon lange konnte der alte Ibrahim einem entlaufenen Tier nicht mehr folgen, nicht mehr über Felsen klettern, um das Tier zu bergen. Aber selten verirrte sich eines seiner Tiere. Wenn es doch einmal geschehen war, richtete sich der alte Ibrahim auf und blickte suchend umher, er spürte, wenn ein Tier seiner Herde in Not war. Und nicht durch laute Zurufe, wie die anderen Hirten, versuchte er das Tier zu locken. Er sah starr in die Richtung, und seine Augen wurden noch heller, sein Mund bewegte sich lautlos. Und das Tier kam zurück wie von Geisterhand geführt, laut meckernd oder blökend, wenn es wieder bei der Herde war.

      Der Hirte Ibrahim sprach zu seinen Tieren, ohne seine Stimme zu verwenden. Er dirigierte sie zu den Wasserplätzen, zu den wenigen Stellen, wo es auch im Sommer Futter gab. Er schützte sie vor den Gefahren der Berge, und er rief sie zu sich, wenn es Zeit war zu schlafen. Ibrahim Mechmed hätte diese seltsame Kraft, die er besaß, niemandem erklären können. Sie war in ihm im selben Maße gewachsen, wie ihn seine körperlichen Kräfte verlassen hatten.

      Es gab einen bestimmten Platz an einem Felsenvorsprung, von dem man weit in die Mesaoria, in die fruchtbare Ebene hineinsehen konnte. Nachts waren von dort die Lichter der Hauptstadt Nicosia zu erkennen. In bestimmten Nächten saß dort der alte Hirte Ibrahim Mechmed und sah starr in die Richtung der Stadt. Er saß dort oft Stunden und regungslos, als wäre er selbst zu Stein geworden. Und dann geschah manchmal etwas Seltsames. Dann sträubten sich plötzlich die Haare des alten Hirten, und er sah einen Mann, der sich unruhig in seinem Bett wälzte und schließlich erwachte. Und er sah auch, wie dieser Mann aufstand und sein Haus verließ, seinen Garten durchquerte und in einen Nachbargarten ging, geradewegs auf einen Zedernbaum zu. Wenn der Mann die Zeder erreichte, begann der alte Hirte zu keuchen und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Und um ihn brach schlagartig ein Höllenlärm aus, hundert Zikaden begannen gleichzeitig zu zirpen.

      Und das war in der Tat seltsam, denn Zikaden zirpen sonst nur bei Sonnenschein. Der alte Ibrahim wußte das.

      Der kleine Nicos Costakia war der Liebling seiner Eltern und seiner Lehrer. Für seine zehn Jahre überdurchschnittlich begabt, gab er zu berechtigten Hoffnungen Anlaß, einmal ein ebenso tüchtiger und angesehener Geschäftsmann zu werden wie sein Vater. Er saß im gepflegten Wohnzimmer seines Elternhauses und schrieb an einem Aufsatz. »Mein Vaterland« war das Thema, und der kleine Nicos war sich nicht ganz im klaren darüber, ob nun seine Heimat Zypern oder das allmächtige Griechenland damit gemeint war.

      »Die Legende erzählt«, schrieb er, »daß Aphrodite, die Göttin der Liebe, aus dem Schaum des Meeres geboren wurde, der eine Felsengruppe der Küste Zyperns umspült. Das ist der Grund, warum Zypern die Liebesinsel genannt wird. Ihr Zauber wurde in vielen Märchen und Geschichten

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