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kniffligen Frage des Mutterlandes Griechenland fragen sollte. Es hieß immer: Mutterland Griechenland. Aber schließlich lautete das Thema: Mein Vaterland. Er fuhr fort:

      »Wir Zyprioten sind Griechen. Wir Griechen sind die tapfersten und edelsten Menschen der Welt, und die Welt verdankt dem Hellenentum ihre Kultur. Im Befreiungskrieg haben wir die Engländer besiegt. Die Engländer haben im Weltkrieg die Deutschen besiegt. Darum sind wir die Tapfersten.«

      Das hörte sein Lehrer immer gern, Nicos wußte das. Sein Lehrer war auch Eoka Kämpfer, und an Feiertagen trug er bunte Bänder mit Orden an seiner Brust, damit jeder sehen konnte, wie tapfer er war. Ob er etwas über die Türken schreiben sollte? Besser nicht. Schließlich gehörten sie nicht zum Vaterland. Und außerdem waren sie alle primitiv und barbarisch und sollten in die Türkei gehen, wo sie hingehörten. Das war auch die Meinung seines Vaters.

      Nicos hörte gedämpfte Stimmen aus dem Nebenzimmer. Besuch war da, Onkel Theodor und Tante Maria und Dr. Marangos, der Hausarzt, mit seiner Frau. Nicos beschloß, hinüberzugehen. Den Aufsatz konnte er leicht morgen früh fertig schreiben.

      Er gab den Gästen artig die Hand und verbeugte sich vor den Damen. Er durfte sich mit an den Tisch setzen und am Meze mitessen. Niemand bereitete das Meze so reichhaltig wie seine Mutter. Der große Tisch war überladen mit den kleinen Schüsselchen der verschiedenen Speisen. Die Erwachsenen setzten ihr Gespräch fort. »Es sind die Nerven, nichts anderes, Nicos«, hörte er Dr. Marangos sagen. »Du bist einfach überarbeitet. Komm morgen in meine Ordination, ich verschreibe dir etwas dagegen.«

      Die Mutter stimmte sofort zu, aber der Vater wollte nicht recht: »Pillen werden mir nicht helfen«, meinte er.

      Sein Vater war ein großer, eleganter Mann mit schwarzem Haar und Schnauzbart. In den letzten Jahren war er ziemlich fett geworden, unausbleibliche Folge gepflegter Eßgewohnheiten. Ein Abendessen bei den Costakis, noch dazu mit Gästen, dauerte Stunden. Seine Gesichtsfarbe war vornehm blaß, er dachte nicht daran, seine Haut der Sonne auszusetzen.

      Ob er sonst irgendwelche Beschwerden habe, wollte Dr. Marangos wissen.

      »Nicht die geringsten«, sagte sein Vater. »Es ist nur immer dasselbe, ich wache nachts plötzlich auf, und irgend etwas veranlaßt mich, in den Garten zu gehen. Ich gehe jedesmal auf einen Baum zu, eine Zeder, weil ich glaube, es steht jemand dort.«

      »Na hör mal«, sagte Onkel Theodor, »du wirst ganz einfach träumen, schlafwandeln. Das ist doch nichts Außergewöhnliches.«

      »Trotzdem solltest du einmal in meine Ordination kommen«, sagte Dr. Marangos.

      »Vielleicht komme ich wirklich«, sagte Vater, »ich bin nachher immer ganz zerschlagen und kann stundenlang nicht einschlafen. Ein Schlafmittel wird mir gut tun, schließlich muß ich morgens zeitig ins Büro.«

      »Wie oft kommt das vor?« wollte Dr. Marangos wissen.

      »Ein oder zweimal im Monat, in letzter Zeit öfter«, sagte Vater.

      »Jedesmal bei Vollmond«, witzelte Onkel Theodor. Aber der Doktor war ganz ernst. »Und wirklich jedesmal der selbe Traum?« fragte er.

      »Derselbe«, sagte Vater. »Und wenn ich bei der Zeder bin, fangen die Zikaden an zu zirpen.«

      Nun lachten alle, außer Mutter und Dr. Marangos.

      »Das ist der Beweis, daß du träumst«, rief Onkel Theodor, »jedes Kind weiß doch, daß Zikaden nur bei Sonnenschein zirpen.«

      Vater wurde nun ärgerlich. »Sie zirpen aber, die verdammten Biester«, schrie er, »ich bin doch kein Idiot, heilige Maria!«

      Der wohlerzogene Nicos wußte, daß es Zeit war zu gehen. Seine Mutter warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. Wenn, die Erwachsenen stritten, hatte er zu verschwinden. Er sagte leise »Gute Nacht«, küßte seine Mutter und schlüpfte ins Schlafzimmer. Lange sah er aus dem offenen Fenster in den Garten. Er hätte gerne gewußt, ob Zikaden wirklich auch manchmal des Nachts zirpen.

      Es war der siebzehnte Geburtstag des türkisch-zypriotischen Fighters Mechmed Ali, und er hatte aus diesem Anlaß von seinem Offizier dienstfrei bekommen, das war Tradition in der Kompanie »Schwarzer Wolf«. So war er schon vor Morgengrauen mit seinem Rad aufgebrochen und die Hauptstraße von Nicosia nach Norden gefahren. Die Straße führt nach Kyrenia, der alten Hafenstadt an der Nordküste Zyperns. Aber so weit würde Mechmed Ali nicht fahren. Nicht, weil er die Entfernung mit seinem Fahrrad nicht bewältigen könnte. Die Insel ist klein, und von den nördlichen Vororten der, Hauptstadt Nicosia bis zur Nordküste sind es keine dreißig km. Aber am Kamm der Kyrenia-Berge, die die Küste von der fruchtbaren Ebene trennen und die Ebene zugleich schützen, beginnt eine feindliche Welt für den türkischen Zyprioten Ali Mechmed, liegen die Stellungen der griechischen Nationalgarde. Mechmed Ali wird nur bis zu den Berghängen fahren, bis Aghirda. Dort beginnt die alte Straße schmäler zu werden, sich zu winden und sich bergauf zu quälen bis hinauf zum Paß, wo die letzten türkischen Posten stehen, die letzten Menschen leben, die Mechmed Alis Uniform tragen und seine Sprache sprechen. An klaren Tagen sieht man von diesen Höhen über das Meer den Küstenstreifen des türkischen Festlandes, die Gipfel des Taurus-Gebirges, um diese Jahreszeit meist schneebedeckt. Die Posten starren an solchen Tagen stundenlang über das Meer, und wenn sie sich ablösen, sagen sie immer dasselbe, seit Jahren: »So nah und doch so fern«, sagen sie. Es ist wie ein Gebet geworden, ein Gebet der Hoffnung und der Resignation: So nah und doch so fern. Viel und wenig sind jene 65 km, die die Nordküste Zyperns von dem Kleinasiatischen Festland trennen. Zu viel, um die Ausstrahlung der Türkei im Norden Zyperns unmittelbar spürbar zu machen. Zu wenig für die in Zypern lebenden Türken, um ihr Mutterland, ihre Herkunft vergessen zu können. Die Türkei zu vergessen und Zyprioten zu werden, das war nicht möglich. Immer schon waren sie Türken gewesen. Und sie wollten, mußten es bleiben.

      Mechmed Ali sieht so aus wie fast alle Burschen der türkischen Minderheit Zyperns, mittelgroß, schlank, ekkig. dunkel. Man muß lange auf der Insel leben, um sie unterscheiden zu können. Die Burschen auf der anderen Seite, der griechischen, sehen ihnen zum Verwechseln ähnlich. Aber doch wieder nur für Fremde. Für die UNO-Soldaten zum Beispiel, die keinen Unterschied feststellen können. Man muß eine Weile auf der Insel gelebt haben, um den Unterschied zu sehen, die Augen, die Gehirne müssen sich erst an die Insel gewöhnen.

      Ali Mechmed wird bis ins Flüchtlingslager nach Aghirda fahren und dort seine Mutter und seine vier jüngeren Schwestern besuchen. Am Nachmittag wird er seinen Uronkel Ibrahim suchen, der seine Schafe an den Südhängen der Berge weidet. Und er wird seinem Uronkel neuerlich geloben, den Griechen Costas Costakis zu töten, zu erdolchen, das ist er an seinem siebzehnten Geburtstag seinem Uronkel Ibrahim schuldig.

      Ali Mechmed sah die Herde seines Onkels von weitem. Als er näher kam, sah er den alten Ibrahim auf einem Felsvorsprung sitzen, unbeweglich, nach Süden in die Ebene starrend. Er mußte den bergaufsteigenden Ali schon lange beobachtet haben, aber er saß wie erstarrt. Erst als Ali neben ihm stand, mit den Fingerspitzen die Stirn berührte und sich leicht verneigte, nickte er mit dem Kopf. Ali hockte sich neben den Alten. Er wartete, bis sein Onkel das erste Wort sagen würde.

      Er mußte lange warten. Schließlich hörte er die flüsternde Stimme seines Onkels:

      »Allah ist groß und allmächtig. Es ist Gottes Gebot, daß man nun richten solle. Leben für Leben und Aug’ um Auge, Nase um Nase und Ohr für Ohr, Zahn um Zahn und Wunde um Wunde.«

      Ali kannte die fünfte Sure aus dem Koran. Er wußte nun, daß die Zeit gekommen war, seinen Vater Zu rächen. Er hatte Angst und sagte nichts. Da hörte er seinen Oheim krächzen: »Fürchte dich nicht mein Sohn, Gott ist mit dir.«

      Er schämte sich. Er streckte die rechte Hand aus, legte sie auf das Knie des alten Ibrahim. Und er fühlte das kalte Eisen des Hirtenmessers, als es ihm sein Oheim in die Hand gab, die Spitze ins Tal, zur Stadt zeigend.

      Der Prophet hat gesagt: Töte jeder Gläubige einen Feind. Töte jeder einen Feind, es ist Allahs Wille. Töte jeder einen Feind, und die Welt wird euch gehören. Die Welt wird den Gläubigen gehören, den Söhnen Allahs. So steht es im Koran, und so sagte Onkel Ibrahim.

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