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schien, unternahmen, versetzte beide ins Staunen darüber, wie sie eine so lange Ewigkeit nicht zueinander hatten finden können, und ließ sie wohl auch den Wunsch verspüren, den Rest ihrer Ewigkeit zusammen verbringen zu wollen. Von diesem Augenblick an waren sie für alle ein Paar, für ihr eigenes Verständnis umso mehr, da beide gerade zum ersten Mal Platons magische Linie überschritten hatten. Sie waren das ganze lange Jahr tagaus, tagein unzertrennlich, im Ensemble, in den Kinos, beim Stadtbummel oder bei Ausflügen, am liebsten aber in Alenas Studentenzimmer, das sie mit einer Kommilitonin teilte. Die Vorstellung, dass sie sich jetzt vielleicht für ein paar Jahre aus den Augen verlieren sollten, kam ihm niederschmetternd vor. Ein kleiner Trost war es, dass auch die neue Angebetete ihre anspruchsvolle Aufnahmeprüfung für die beste heimische Schauspielschule bestanden hatte. Die reiche Korrespondenz belegt, dass sie sich versprochen hatten, die Zeit ihrer Trennung mit emsiger Arbeit im jeweils eigenen Bereich auszufüllen, damit sie ihren Kindern, die sie nach dem endgültigen Wiedersehen zeugen würden, zu einem glücklichen Leben im Kommunismus verhelfen könnten. Mit dieser Sehnsucht im Gepäck flog der kommende Diplomat kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag in das verheißungsvolle Land der Revolutionäre.

      Obwohl der Geruchssinn bei ihm von allen Sinnen am schlechtesten ausgeprägt ist, erinnern ihn gerade die Düfte und Gerüche am verlässlichsten an seine Vergangenheit. Obwohl er sie nur in seiner Vorstellung riechen kann, bringen sie den verblassten Bildern ihre satte Farbe wieder. Die Ankunft in Moskau ist mit dem beißenden Geruch von glühendem Asphalt verbunden, den Frauen mit Eisenrechen auf dem Maneschnij-Platz verteilten. Ihre Allgegenwärtigkeit in verschiedenen Funktionen und Uniformen war ein anschauliches Zeugnis dafür, wie der Krieg das männliche Geschlecht dezimiert hatte. Er schaute aus seiner prunkvollen Suite des altehrwürdigen Hotel National, die er noch drei Tage lang nutzen durfte, zu ihnen hinunter; dann wurde nach zwei Monaten die Ausstellung geschlossen, die sein Vater als Direktor leitete. Diesem war neben dem Parteiausweis und dem Organisationstalent bei seiner Karriere förderlich, dass er perfekt Russisch konnte, wie er es sich als Zivilgefangener in Sibirien angeeignet hatte, Kenntnisse in der Wirtschaft besaß, die er an der Prager Handelsakademie studiert hatte, und den Wodka wie Wasser trank, ohne dass man ihn unter den Tisch trinken konnte. Bei allen entscheidenden Verhandlungen hatten die sowjetischen Delegierten bis zu jener Zeit den Tschechen zunächst durch Trinksprüche zugesetzt; seine Aufgabe war es daher, länger durchzuhalten als der letzte Russe, um tags darauf mit den Verhandlungen unter gleichen Bedingungen fortfahren zu können.

      Sobald der Vater weggefahren war, musste sein Spross in ein Zimmerchen mit Fenster zum Hof umziehen, das seiner nichtigen Position entsprach. Das einst erhabene Hotel war nämlich die Unterkunft für Diplomaten vom niedrigerem Rang und Handelsvertreter, die aus den Ländern stammten, wo sich gerade das Lager des falschen Friedens und Pseudosozialismus zu formieren begann; dieser duftete jedoch dem dilomatischen Novizen immer noch nach dem Flieder der Maitage von 1945, als die letzten russischen Männer in Prag fielen. Dabei klopfte der künftige Terror schon an die benachbarte Hotelzimmertür, wo einer der Angestellten des Prager Außenhandelsministeriums wohnte. Er klopfte leise und unauffällig an, um die Nachbarn nicht aufzuscheuchen. Jiří Kosta war plötzlich abgereist, und unser Neuling erfuhr erst nach Monaten, dass er nach der Verhaftung seines Vaters zurückberufen worden war; die halb vollzogene Rehabilitierung wird Ende der sechziger Jahre eingestellt, und der Sohn wird sich dann für die Emigration entscheiden, in der er zu einem der bedeutenden deutschen Ökonomen aufsteigen wird. Das Ganze wird von einem Happy End gekrönt werden: Im ersten Jahr des darauffolgenden Jahrtausends wird der ehemals jüngere Nachbar aus dem Hotel National und dann lebenslange Verbündete eine Laudatio zum Anlass der Achtzigjahrfeier des namhaften Wirtschaftsprofessors halten.

      Hunderte von Seiten, die er in einem knappen Jahr aus Moskau seiner Liebe, seinen Eltern, ins Ensemble, aber auch an verschiedene Zeitungen schickte, wirken über die Kluft der Zeit, als wären sie im Zustand einer Dauerekstase geschrieben worden. Die Disman’sche Exaltiertheit und das revolutionäre Pathos vereinigen sich zu einem unerträglichen Konglomerat; ein umfassendes Anschauungsbeispiel wurde schon im Tagebuch eines Konterrevolutionärs veröffentlicht, in einen Liebesbrief ist dort nahezu schon absurd der politische Kontrapunkt eingeflochten. Dennoch ging es dabei nicht darum, sich verstellen zu wollen, es war schlicht und einfach der Bewusstseinsstand des Verfassers. Der erwachsene Mann stellt fest, wie sehr fromme Wünsche vom Anfang seiner persönlichen Pubertät bis zum Ende der bürgerlichen Pubertät ihn beeinflussten und eigentlich steuerten. Die Ungeduld setzte die Erwartungen dadurch in die Realität um, indem sie sich diese aus Worten zusammengesponnen hatte – gerade so mussten Fučíks Reportagen, die in Potemkin’scher Art verlockend waren, entstanden sein. Die innere Sicherheit wurde sowohl dem Älteren als auch dem Jüngeren, aber auch Millionen von Menschen ohne jeden Zweifel durch den Mythos mit dem Namen Stalin gegeben.

      Die Anhänger von Adolf Hitler hätten schon aus seiner programmatischen Schrift Mein Kampf herauslesen können, dass sie einem fanatischen Nationalsozialismus, Rassismus und Militarismus dienen werden, hatte der Führer der Welt doch schon vorab zwei deutlich lesbare Visitenkarten geschickt – die Bücherverbrennung und die »Reichskristallnacht«. Stalin wurde nicht nur durch die Regimepropaganda, sondern insbesondere durch die Huldigung zahlloser geistiger Größen von Weltformat zum Symbol des Höchsten emporgehoben, was sich die Menschheit beim Suchen der freien und gerechten Gesellschaft in ihrer Geschichte ausdenken konnte. Auf den Novizen hatte zudem ein persönliches Erlebnis suggestiv eingewirkt. Weil zu Hause auch nach dem Attentat auf Heydrich fast jeden Abend Moskau gehört worden war, musste er von dem Augenblick an, als der deutsche Rückzug mit dem Debakel bei Stalingrad begonnen hatte, sicherlich mindestens fünfhundertmal den faszinierenden Bassbariton des sowjetischen Ansagers Levitan gehört haben, der das Kommuniqué der obersten Heeresleitung verlas. Sie schlossen mit der feierlich vorgetragenen Tonunterschrift »Gláwnokomándujuschtschij sawjetskich ármijej, tawáryschtsch Josip Wissariónovitsch Stalin!« Dann folgten die sowjetische Hymne, das Schlagen der Turmuhr des Kreml und Artilleriesalven, deren genaue Anzahl die Bedeutung der eroberten Stadt verkünden sollte.

      Das war das Sursum corda während des Krieges! Und die Verzweifelten konnten jedes Mal wieder lachen. Der Einmarsch der Roten Armee in Prag am 9. Mai 1945, der dem langjährigen Warten der ganzen Familie auf den Tod ein Ende setzte, kam für den jungen Mann daher einem leibhaftigen Aufmarsch Stalins gleich. Und noch während der Zeit seiner Moskauer Tätigkeit war Stalin für ihn das Synonym seiner persönlichen Befreiung vom Faschismus – und freilich auch von einem solchen Kapitalismus, wie er sich in den dreißiger Jahren der Zwischenkriegsgeneration wirtschaftlich und politisch dargeboten hatte.

      Einen positiven Einfluss auf die Optik des Novizen übten auch die zahlreichen Treffen mit den Bewohnern Moskaus aus, die ihm einen umso größeren Respekt dadurch abnötigten, dass sie als Sieger nach dem Krieg noch ärmer waren als vorher. Er kaufte sich schon für sein erstes Gehalt eine goldene Schweizer Armbandstoppuhr, und er trägt sie bis heute bei feierlichen Anlässen, während die berühmten russischen Schriftsteller bescheiden in ihren geteilten Wohnungen mit gemeinschaftlichen sanitären Anlagen lebten. Es faszinierte ihn auch, wie sich der physische Hunger der breiten Massen ergänzend an geistiger Nahrung satt aß. Das Große Theater, das Kleine Theater, MCHAT – der Olymp, auf dem der Gott Tschechow thronte! –, die singenden Alexandrows, die tanzenden Mojsejews, der geniale Komödiant Rajkin, der zauberhafte Puppenspieler Obrazcov, und überall vor den Eingängen Dutzende erwartungsvoller Besucher mit dem ewigen Refrain »Njet u vas lischnjevo biljeta?« Hätten Sie nicht noch eine Karte? Ein so massenhafter Kulturhunger war Prag fremd. Auch die Chauffeure der Botschaften hatten im Fußraum neben der Kupplung Bücher liegen, bei Nikolaj Stepanowitsch, dem Fahrer der Kulturattachés, war es ein Band aus den gesammelten Werken Turgenjews, und jedes Mal, wenn sie warteten, lasen und lasen sie. Und niemand, niemand, den der Novize je getroffen hatte, beklagte sich ... heute ist es ihm schon längst klar: Man wusste nicht, bei wem man sich hätte beklagen können.

      Ein Schock war für ihn vielmehr die Institution der Karrierediplomaten. Der technische Begriff, der das kontinuierliche Vorrücken der Dienstgrade bezeichnete, offenbarte sich ihm nach nur wenigen Wochen in seiner widerwärtigsten Form, potenziert außerdem durch den Austausch der Kader nach der kommunistischen Machtübernahme. Viel später lernte er Dutzende Diplomaten näher kennen, und er weiß, dass man auch in ehrwürdigen Demokratien mit harten

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