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größeren Dienst erwiesen als die kollaborierenden Tschechen, wurden nach dem Krieg aber dennoch abgeschoben, gefoltert oder gar getötet. Die Haltung vieler heimischer Politiker, die sich noch Jahre nach der Erneuerung der Demokratie bemühen werden, dass den wenigen Übriggebliebenen weder Entschuldigung noch Dank widerfährt, wird peinlich und abgeschmackt sein, da sie die niedrigsten Instinkte unwissender, dummer oder auch in kriminelle Machenschaften verstrickter Leute bedient. Neben der Deutsch-Tschechischen Erklärung, die eine gegenseitige Schuldzuweisung für die Vergangenheit künftig ausschließt, gibt es wohl auch eine nationale Moral, die ohne eine Wiedergutmachung historischen Unrechts einfach nicht auskommt!

      Übrigens, was das Klavier der Hirschs angeht: Etwa einen Monat nach dem Krieg klingelte jemand bei den Kohouts in der Zikmund-Winter-Straße 19. Die Mutter schrie im Flur so laut auf, dass ihr Sohn losrannte, um sie gegen eine vermeintliche Gefahr zu verteidigen. Sie lag jedoch nur in den Armen einer unbekannten älteren, blassen und abgezehrten Frau, in der er Eva Hirsch kaum wiedererkannte. Auch ihr Vater hatte sich retten können, und er schickte sie nun vor, um herauszufinden ... Sie war rot und fragte stotternd, ob sich die einstigen Nachbarn denn erinnern würden, dass sie ihnen etwas zur Aufbewahrung gegeben hatten. »Wie, ob wir uns daran erinnern? Was heißt denn ›etwas‹?«, rief die Mutter, »Ihr habt doch den Flügel, die Teppiche und das Bild hier!« Eva sagte unter Tränen, dass viele andere sich an nichts mehr erinnern konnten. Die Möbelträger ließen später das Bild mit der Lichtung und dem Schnee an der Wand hängen, angeblich zur Erinnerung an die Hirschs. Niemals wird jemand in der Familie auf die Idee kommen, nachzuforschen, wer der Maler ist und welchen Wert es hat.

      10. Kapitel

      Was werden, um etwas zu sein?

      Es herrschte also Frieden, die Toten waren begraben, und die Überlebenden schwelgten in einem glücklichen neuen Morgen, wenn auch weiterhin der Streit darüber anhielt, ob diesen Morgen eher die alte Rechte schaffen wird oder die ständig an Zuwachs gewinnenden Kommunisten. Endlich konnte man sich auch mit der eigenen, persönlichen Zukunft beschäftigen. Bis zum zwanzigsten Lebensjahr war sich unser Junge ziemlich sicher, dass er Schauspieler werden wollte. Den frommen Wunsch nährten persönliche Begegnungen mit der ersten Garde tschechischer Meister, die er auch abseits der Bühnenlichter bewundern durfte, wenn er in seinen Kinderrollen neben ihnen am Rundfunkmikrofon stand. Zusammen mit der Geige legte er seine Partituren ab, mit welchen er im Nationaltheater an der Brüstung gesessen hatte, damit ihm ja kein Wort aus den Opernlibretti entging; das Musiktheater hat er über Nacht gänzlich aus seinem Gedächtnis verloren. Dafür sah er Des Kaisers Mime von Renč im »Theater in den Weinbergen« beinahe zehn Mal, ohne dass er ahnen konnte, dass das Drama des römischen Schauspielers, der sich kraft seiner eigenen Kunst vom Heiden zum Christen wandelt, das Vorzeichen für seine Konversion vom Revolutionär zum Demokraten sein wird. Auf der kleinen Bühne des »Intimen Theaters« erlebte er unzählige Male die Auswahl berühmter Monologe Helden des Augenblicks, wo die Protagonisten des Nationaltheaters glänzten. Auch die Studenten der Schauspielschule nahmen ihn allmählich unter sich auf, zu denen ihm sein zukünftiger Dramaturg fürs Leben und treuester Freund, Luboš Pistorius, die Tür geöffnet hatte; der bot ihm als Juryvorsitzender eines Literaturwettbewerbs am Gymnasium den ersten Preis dafür an, dass er als Einziger nicht über die Liebe, sondern über Piraten gedichtet hatte. Die Gelegenheiten häuften sich zwar, aber die schauspielerischen Erfolge stellten sich nicht ein.

      Dismans Ensemble war eine regelrechte Talentschmiede für angehende Schauspieler, weil sie erhebliche Chancen hatten, sich im Rundfunk, im Theater wie auch im Film durchzusetzen, und bei der unendlichen Liebenswürdigkeit seines Leiters konnte sich der Jüngling schwer einreden, dass er absichtlich übersehen wurde.

      Kurz nach dem Krieg bedachte die Englischlehrerin und Klassenprofessorin der Septima B, Helena Ehrlerová, eine begeisterte Theaterliebhaberin, ihren Schüler kurioserweise mit seiner größten und gleichzeitig letzten Theaterrolle, da sie sich entschied, die neu gewonnene Freiheit mit einer großen Laienvorstellung zu feiern. Ihre Voraussicht, mit der sie im Jahre 1946 das Drama von den Schreckenstagen der Französischen Revolution Ein Spiel von Tod und Liebe von Romain Rolland gewählt hatte, ist aller Ehren wert. Der junge Mann versuchte sein Leben möglichst bis aufs Äußerste hin auszudehnen, um neben der Schule, dem Ensemble, den freiwilligen Brigaden und der Agitationsarbeit im Kulturkader des tschechischen Jugendverbandes noch zahlreiche Proben nach dem Unterricht schaffen zu können. Das Hauptproblem bestand allerdings darin, dass er – ein Siebzehnjähriger! – die Rolle des siebzigjährigen Wissenschaftlers Courvoisier verkörpern und dabei, wo er doch nach wie vor schüchtern war, seine Klassenlehrerin, als die geliebte Gattin, umarmen sollte. Er dankte daher dem Autor für jede Szene, in der sie, eine ansehnliche und offensichtlich leidenschaftliche Frau, den schlanken Kristek aus der Achten als ihren Liebhaber Vallée umarmte. Das Spiel verlor dann gänzlich seine Unschuld, als das Ensemble erst am Tag der Premiere die einzige Probe auf der Bühne eines gemieteten Theaters absolvierte, das für den Abend längst an die Eltern, Bekannten und Mitschüler ausverkauft war. Der Schauspielanwärter verstand, dass er sich an einer schamlosen Frechheit beteiligen würde, wenn er ganz und gar nicht an das glaubte, was er auf der Bühne machte und sagte.

      Natürlich spielte er, und das auch bis zum Ende, freilich konnte dabei keine Rede von Schande sein – ein begeistertes Echo ist allen Laienschauspielern ohnehin garantiert, da sie gewöhnlich vor Leuten auftreten, die sie persönlich kennen oder gar lieben. Das Erlebnis brachte ihm jedoch den letzten Beweis, dass er mit dem wichtigsten Talent eines Schauspielers nicht ausgestattet war: seine eigene Identität einer anderen, wenn auch nur fiktiven, zur Verfügung stellen zu können.

      Das Abenteuer im Schultheater sollte ein trauriges Nachspiel haben. Der schöne Vallée-Kristek wird sich nach den Augustpanzern des Jahres 1968 rasant an der Autorenliquidierung beteiligen. Wie viele andere Karrierekämpfer gegen die vermeintliche Konterrevolution beginnt er, sich regelmäßig zu besaufen und aus dem Schriftstellerverband in das unweit gelegene »Viola« zu torkeln, um am Tisch seiner Opfer sein verpfuschtes Leben zu beweinen. Bevor ihn seine Leber im Stich lässt, wird er seinen ehemaligen Genossen sarkastisch mit dem Satz begrüßen, den jener ihm damals auf der Bühne zurief: »Freund, ich sehe dich wieder!« Und sein ehemaliger Schauspielkollege wird es bereuen, wie oberflächlich er das Stück auffasste, in dem er mit aufgeklebtem Bart aufgetreten war; es hätte ihm rechtzeitig eine Warnung sein können, dass eine scheinbar edle Idee sich in eine entartete verwandeln kann. Von da an wird er wissen, was eine ›Modellsituation‹ ist; in ihr werden Kulissen, Kostüme und Requisiten ausgetauscht, aber ihr ewig gleicher Kern, der durch die Natur der Menschen und der Revolutionen gegeben ist, bleibt erhalten.

      Je weniger der Jüngling als Schauspieler zu gebrauchen war, umso nützlicher begann er sich in jenem besonderen Genre hervorzutun, das nicht die Fähigkeit verlangt, fremde Sätze zu memorieren und fremde Gefühle vorzutäuschen, wo jedoch Scharfblick, eine gehörige Portion Wissen, ein eigener Wortschatz und Improvisationssinn in unerwarteten Situationen gebraucht werden. Mit diesen Gaben war gerade Miloslav Disman ausgestattet gewesen und berühmt geworden, der nach der Revolution auch der beste Reporter des Tschechoslowakischen Rundfunks war. Perfekt vorbereitet, mit einem Stoß von Papieren, die mit allerlei Farbstiften zum Zwecke hilfreicher Informationen dicht beschrieben waren, schaffte er es, in einer Direktübertragung auch mehrstündige Spitzenereignisse allein zu kommentieren, wie zum Beispiel die triumphale Rückkehr von Präsident Beneš aus dem Exil nach Prag.

      Sehr bald reichte ihm immer rechtzeitig und je nach Bedarf unser Jüngling diese Papiere; nach kurzer Zeit bekam auch er selbst die tolle Chance, einige Minuten allein zu kommentieren, wenn der Mentor mal zwingend pausieren musste. Zum Erstaunen aller stellte sich heraus, dass es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Gerade damals war er an die Abzweigung gelangt, von der immer noch ein Weg zu einem ordentlichen Abschluss an der Karlsuniversität führte, wo er sich weiter einschrieb und Prüfungen ablegte, doch er zweifelte immer mehr daran, dass sie für das Leben nach seinen Vorstellungen notwendig wären.

      Im Jahre 1948 wurde die Internationale Rundfunkausstellung anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigjährigen Sendejubiläum in den Äther auf dem Prager Messegelände ausgetragen. Ihre Chefs sollten eine kleine Arbeitsgruppe zusammenstellen, die in der Lage sein sollte, direkt und dabei meist

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